@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")
Ich war seit 1993 in Lichtenhagen tätig, zuerst als Sozialpädagoge, ab 1. Januar 2004 dann als Leiter des Kolping-Begegnungszentrums. Davor war ich Ausbildungsleiter bei der Bagger, Bugsier- und Bergungsreederei, habe Matrosen der Handelsschifffahrt, Technische Flotte, ausgebildet. Der Betrieb, in dem ich tätig war, ist 1993/94 abgewickelt worden und ich wurde arbeitslos. Meine Frau, die der katholischen Kirche angehört, erzählte mir dann, dass die Kolping-Initiative einen Mitarbeiter sucht. Diese Initiative hatte sich am 15. Juli 1991 als gGmbH gegründet, auf Initiative von Kolpingwerken mehrerer Diözesen, um etwas für arbeitslose Rostocker Jugendliche zu tun. Am 6. Dezember 1993 traf ich mich mit dem damaligen Geschäftsführer, Peter Neumann, zu einem Vorstellungsgespräch. Wir saßen uns gegenüber, sprachen wenige Worte miteinander – und waren uns sehr schnell einig, für mich fast ein „kam, sah und siegte“. Unsere Vorstellungen über meine Beschäftigung stimmten überein. Er konnte mich zwar nicht gleich einstellen, aber ich war von dem Tag an ehrenamtlich bei Kolping tätig, bis ich dann am 1. Juni1994 in einem Bundesprojekt der Jugendsozialarbeit angestellt wurde. Gemeinsam mit anderen katholischen Trägern waren wir beauftragt, Jugendsozialarbeit aufzubauen, unter anderen eben in Rostock. Die Stadt stellte der Kolping-Initiative für ihre Arbeit eine halb leergezogene Kita (damals gab es dort noch die Krippe, die aber bald darauf auch auszog) in der Eutiner Straße 20 in Lichtenhagen zur Verfügung. In der wurde erstmal nur ein Büro eingerichtet. Nach und nach benötigten wir die gesamte Fläche der ehemaligen Kita, um unseren Aufgaben und den verschiedensten Projekten der Jugendhilfe gerecht zu werden. In der Anfangszeit haben wir dort ABM für Jugendliche mit dem Ziel durchgeführt, diese in das Arbeitsleben zurück zu führen. 1992 war die Jugendarbeitslosigkeit in Rostock wohl am höchsten, da waren bis zu 30% der Jugendlichen arbeitslos. Da waren solche Maßnahmen sehr sinnvoll. Unser Ziel war damals schon, nicht nur Angebote für junge Menschen unter einem Dach zu etablieren, aber dazu später mehr.
1992 gab es die Krawalle mit den verheerenden Ausschreitungen vor dem Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen, an denen eine beträchtliche Anzahl von jungen Menschen beteiligt waren. In Auswertung der Ereignisse wurde die Kolping-Initiative angesprochen, einen Jugendclub in Lichtenhagen aufzumachen. Der damalige Geschäftsführer entschied, dass wir uns für diese Aufgabe einen Kooperationspartner ins Boot holen sollten. Er fand ihn im Verein Jugendwohnen Hansestadt Rostock e.V. Wir haben bis Dezember 2003 gut mit diesem Verein zusammengearbeitet und konnten so in großen Teilen die offene Kinder- und Jugendarbeit in Lichtenhagen abdecken.
Es gab übrigens zu DDR-Zeiten in fast jedem Stadtteil einen Jugendclub, der von einem der großen Betriebe der Stadt unterstützt wurde. Diese Strukturen sind aber nach der Wende zusammengebrochen. Lichtenhagen 1992 hat die Stadt zum Anlass genommen, offene Kinder- und Jugendarbeit in größerem Stil zu fördern. So sind wieder Jugendtreffs entstanden, auch stadteigene. Außerdem entstanden kurze Zeit später mehrere Projekte der Jugendsozialarbeit unter anderem das Projekt „Spartakuß“. In diesen wurden arbeitslose Jugendliche aufgenommen, die über unterschiedlichste Maßnahmen in das Berufsleben integriert werden sollten. „Spartakuß“ war ein solches Projekt. In drei Modulen arbeiteten drei Bildungsträger und bis zu dreizehn Vereine der Jugendhilfe, unter anderem eben die Kolping-Initiative und Jugendwohnen Hansestadt Rostock aus Lichtenhagen, sehr eng zusammen, um diese Aufgabe zu erfüllen.
Mein aktiver Einstand an meinem neuen Arbeitsplatz war übrigens ein Zusammentreffen mit Kindern, die am 1. Mai 1994 in unser Haus eingebrochen sind und dort „wilde Sau“ gespielt hatten. Schnell wussten wir, wer diese Personen waren. Mit ihnen und ihren Eltern einigten wir uns, dass sie den entstandenen Schaden gemeinsam beseitigen sollten. Die Kinder hatten die Gelegenheit, über mehrere Monate einen Teil ihres Taschengeldes dafür einzusetzen. Wer das nicht konnte, bekam die Gelegenheit, uns in seiner Freizeit zu unterstützen.
Leider wurde in unserem Haus oft eingebrochen, so dass wir uns später dann eine Alarmanlage einbauen ließen. Das hat dazu geführt, dass ich manchmal zweimal in der Woche nachts von Schmarl herübergekommen bin, weil die Alarmanlage losging. Mal war es Unwissenheit, immer wieder aber auch versuchte Einbrüche. Das war nicht so schön. Einmal bekam ich einen Anruf, dass bei Kolping eingebrochen worden sei. Ich fuhr schnell hin, die Polizei war schon alarmiert. Als ich kam, sah ich zwei Kolleginnen, die sich vor dem Büro unterhielten. Und während sie dort draußen standen, ist unser Büro ausgeräumt worden. Da hatte einer der Projektteilnehmer von „Spartakuß“ die kurze Zeit unserer Unachtsamkeit genutzt, die Fenster zu präparieren, als er für zwei Minuten in diesem Raum allein war. Er brauchte sie später bloß aufdrücken. Aber er wurde dabei beobachtet, ein Zeuge ist denen mit dem Auto gefolgt, um zu sehen, wo die mit dem Diebesgut hinfahren. Das kam dann alles wieder zurück. Danach haben wir immer geschaut, ob alles ordentlich verriegelt ist. Der „Einbrecher“ wurde übrigens einen Tag vor seiner Tat bei einem Besuch des damaligen Justizministers als gutes Beispiel für Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben vorgestellt.
1997 endete das Modellprojekt, über welches ich in der Kolping-Initiative beschäftigt war. Peter Neumann, mein damaliger Geschäftsführer sagte zu mir: „Das waren gute drei Jahre, in denen Du jetzt hier warst. Tut mir leid, ich kann dich nicht weiter beschäftigen.“ Kurze Zeit darauf erhielt ich vom Amt für Jugend und Soziales, Bereich Förderung, eine Einladung von Elke Schmidt. Der folgte dann eine Festanstellung: Ab 1998 war ich dann unter anderem mit für den Aufbau von Schulsozialarbeit in Rostock zuständig. Damit konnte unser (mein) Ziel weiterverfolgen, die verschiedensten Angebote der Jugendhilfe, aber auch der Erwachsenen- und Seniorenarbeit, unter einem Dach zusammenzuführen. Da gab es auch weiterhin ABM-Maßnahmen, im Bereich Kochen und Nähen, zur Wiedereingliederung vor allem junger, aber auch älterer Menschen in den Arbeitsmarkt. Zusammen mit Bildungsträgern initiierten wir berufliche Förderprojekte mit entsprechenden Abschlusszertifikaten. Es gab Projekte, für ältere Menschen, um sie in ihrer Häuslichkeit oder auch bei Kolping zu betreuen. Spielenachmittage, pädagogischer Mittagstisch, der Kinder- und Jugendtreff und bundesweite und auch internationale Projekte im Rahmen der Schulsozialarbeit, im Übergang von der Schule in den Beruf – und dergleichen mehr. Eben alles unter einem Dach. Das erfüllte mein Arbeitsleben kolossal. Kooperationen mit Schulen, Kindergärten, Sportvereinen, anderen sozialen Vereinen halfen uns, diese Arbeit zu erfüllen. Gleichzeitig betreuten wir über Hilfen zur Erziehung bis zu dreizehn junge Menschen in unserem Haus.
2002 kam Georg Horcher nach Rostock und wurde Jugendamtsleiter. Er begann, die Jugendhilfelandschaft in Rostock umzukrempeln. Er suchte nach Standorten für Stadtteil- und Begegnungszentren – auch für Lichtenhagen. 2003 kam er zu uns ins Haus. Er sah die Vielfalt der Angebote und wusste (er kam aus den alten Bundesländern), dass hinter Kolping ein großer sozialer Verband steckt. Anfangs bezeichnete er unser Haus als „Gemischtwareladen“. Später erhielten wir die Zusage, als Stadtteil- und Begegnungszentrum arbeiten zu dürfen. Und so begann am 1. Januar 2004 für Kolping eine neue Ära in der Jugend- und Sozialarbeit, zeitgleich mit dem SBZ in Toitenwinkel. Das waren die ersten beiden Einrichtungen dieser Art in Rostock. Am 1. Juli 2004 kam Dierkow dazu. Die offene Kinder- und Jugendarbeit lag ab sofort auch in Kolpings Händen. Der Verein JuWO HRO übernahm für diese ein Objekt in Evershagen. Noch sehr lange blieb unsere kooperative Zusammenarbeit mit diesem Verein beispielhaft. Wir waren im Prinzip gut aufgestellt, eben auch durch unsere „alles unter einem Dach“-Strategie und die entsprechend breit gefächerten sozialen Angebote. Später folgten weitere SBZs, mit denen wir dann auch zusammenarbeiteten. Eigentlich hätten wir uns damals mehr Erfahrungsaustausch gewünscht, aber aufgrund unseres „Vorsprungs“ waren wir immer die Gebenden.
Die Kooperation zwischen Jugendhilfeträgern und anderen Organisationen, wie ich sie im Projekt „Spartakuß“ erlebt hatte, war wohl ein in dieser Intensität, Vielfältigkeit und Größenordnung einzigartiges, nicht wiederholbares Ereignis. Als katholischer Träger wurden wir von anderen Trägern mit Argusaugen betrachtet, aber innerhalb von Lichtenhagen spielte „das Katholischd“ für die Menschen keine große Rolle. Wir haben in den Stadtteil hineingearbeitet, nicht das große Kreuz hingehängt oder gesagt: „Ihr müsst erst mal christlich denken, bevor ihr in diese Räume reinkommt.“ Das haben wir tunlichst vermieden. Trotzdem dauerte es mehrere Jahre und brauchte viele, viele Veranstaltungen, bis das von uns organisierte soziokulturelle Leben im Stadtteil wirklich wahrgenommen wurde. Wir organisierten nicht nur Sportgruppen, sondern auch den Gesundheitstag und den Seniorentag. Oder auch den Tag für das Gemeinwesen, immer im Januar, erst an einem Sonntag, dann an einem Wochentag. Da hatten wir manchmal bis zu 120 Leuten oben in unserem hundert Quadratmeter großen „Saal“, das war total voll. So konnten wir den Menschen zeigen, dass wir hier sind, dass es uns gibt.
Wir arbeiteten vom ersten Tag an sehr eng mit vielen sozialen Trägern, Schulen, Kindergärten, Vereinen und anderen Institutionen zusammen, auch mit der evangelischen Gemeinde St. Thomas Lichtenhagen. Damals war noch Herr Brüggemann der Pastor, dann Frau Borowski und jetzt ist es Frau Banek. Mangels eigener Räume durften sie sehr oft unsere nutzen. Durch unser Stadtteilfrühstück haben wir bis zu 100 Leute erreicht, auch durch das Männerfrühstück und viele, viele andere Veranstaltungen. Beim Kinderfest kamen bis zu 1.200 Leute zu uns. Das Martinsfest haben wir 2004 zum ersten Mal begangen, damals noch allein, aber schon mit dem heiligen Martin auf seinem Pferd. Danach fand es immer zusammen mit der St. Thomas Gemeinde statt. Es begann mit einer kleinen Andacht in der Kirche. Die ersten Jahre saßen in der Kirche zwanzig und draußen standen hundert Menschen. Die hatten Angst da reinzugehen, es war ihnen fremd. Das hat sich inzwischen aber verändert. In der letzten Zeit war es dann so, dass drinnen alle Plätze besetzt waren und die, die draußen standen, nicht mehr reinkamen. Nach der Andacht sind wir dann immer rüber zu Kolping, zu meiner Zeit ritt immer der heilige Martin auf seinem Pferd voran. Und bei Kolping wurden Hörnchen so verteilt, dass nur jeder zweite eins bekam. Man sollte sie ja teilen. Erst dann haben wir den Rest ausgegeben. Und es gab Bratwurst und in der Anfangszeit auch Glühwein. Die letzten Jahre konnten die meisten Kinder mit der Martinsgeschichte etwas anfangen.
In jedem Stadtteil in seinen Anfangsjahren viele Kunstwerke aufgestellt. In unserem alten Haus gab es zwei im Innenbereich, das dritte war draußen an der Fassade. Jede Kita hatte in ihrer Fassade ein Bild von einer Figur, damit die Kinder erkennen konnten, wo sie hingehen müssen. Einen Teil dieser Kunstwerke gibt es nicht mehr, so auch die aus unserem alten Haus. Sie wurden mit dessen Abriss und dem Neubau vernichtet. Das tut mir heute noch weh, weil wir das nicht verhindern konnten. Zur 800-Jahr-Feier der Stadt Rostock sind wir darauf gekommen, die noch bestehenden, aber auch verlorengegangenen Kunstwerke zusammenzutragen und bei der zentralen Veranstaltung am Kröpeliner Tor auszustellen. Franz Stepanek und Heide Pevestorf, beide Bewohner von Lichtenhagen, unterstützten uns dabei sehr.
Im „Nordlicht“ ist wohl das größte Kunstwerk Lichtenhagens entstanden. Viele große Künstler der Stadt Rostock haben dort sich verewigt. Sie leben fast alle schon nicht mehr, aber ihre Werke existieren dort noch. Von Christoph Weinhold, leider auch schon verstorben, weiß ich, dass zu DDR-Zeiten in jeden neu gebauten Stadtteil ein bestimmter Teil des Etats in Kunst fließen sollte. Das wurde in Lichtenhagen mit am besten umgesetzt. Hier entstanden viele kleine Sachen, z.B. auch die Figuren auf dem Boulevard. Einige davon waren zwischendurch verschwunden, tauchten dann aber wieder auf und wurden in den öffentlichen Raum integriert.
Die Einwohnerzahl im Stadtteil ist nach der Wende stark gesunken: 1992 lebten hier 22.000 Menschen, 2019 waren es noch 14.000. Das Kuriose ist, dass in Lichtenhagen nichts zurückgebaut wurde. Die insgesamt verfügbare Wohnfläche hat sich sogar noch vergrößert, u.a. durch Ostseewelle, den Kalverrad und demnächst die Möllner Straße. Aber es wohnen eben jetzt weniger Menschen auf mehr Quadratmetern. So gab es beispielsweise in der Eutiner Str. 19 5-Raum-Wohnungen, in denen früher bis zu 7Leute wohnten, vorwiegend sozial schwache Familien. Diese Wohnungen wurden zu 3- Raum-Wohnungen mit Aufzug, Parkett usw. umgebaut und sind dadurch wesentlich teurer geworden. Die, die da bis dahin wohnten, wurden in andere Straßen oder Stadtteile verdrängt.