
Mein Vater kam Ende 1988 als Vertragsarbeiter nach Deutschland und wohnte ab dieser Zeit im Sonnenblumenhaus. Meine Mutter und mein älterer Bruder lebten zunächst noch in Vietnam, denn ein Familiennachzug war in der DDR eigentlich nicht vorgesehen. Etwa im April 1992 haben meine Mutter und mein Bruder meinen Vater hier in Deutschland besucht, meine Mama war damals gerade schwanger mit mir. Wegen der Schwangerschaft konnte sie nicht zurückfliegen und so kam ich dann im Oktober 1992 in Deutschland zur Welt. Im Sonnenblumenhaus blieb meine Familie bis kurz vor meiner Einschulung wohnen, danach zogen wir in eine andere Wohnung um, blieben aber in Lichtenhagen.
Wenn ich mich mit anderen Deutschen über die Ereignisse vom August 1992 unterhalte, höre ich oft „Oh, Du kommst aus Lichtenhagen, wie schlimm! Und auch zu der Zeit. Und eine Schwangerschaft ist eine besonders sensible Zeit.“ Aber wenn ich mit meinen Eltern darüber rede, dann wird da oft deutlich, dass Vietnames*innen das nicht als so schlimm empfinden wie vielleicht Deutsche. Bei uns wird das eigentlich gar nicht thematisiert, wenn nicht gerade von außen Leute damit an uns herantreten. Zwar habe ich mal direkt gefragt, warum wir nicht weggezogen sind, wenn es doch so schlimm war. Das ist auch immer eine Frage der Perspektive, abhängig davon, wo man herkommt. Für meine Eltern waren der Vietnam-Krieg und die Folgejahre viel schlimmer. Sie haben in Hải Phòng in bitterer Armut gelebt. Mitunter waren die Erfahrungen der Pogrome aber auch präsent. Wenn meine Eltern abends spät von der Arbeit heimkehrten, hatte ich immer Angst, dass sie verletzt sind oder dass sie gar nicht mehr kommen.
Für mich ist das Sonnenblumenhaus eher die Zeit meiner Kindheit. Damals lebten viele vietnamesische Familien in dem Haus und aufgrund der Ereignisse ist die Community dort sehr zusammengewachsen. Der Verein „Diên Hông – gemeinsam unter einem Dach“ ist dort entstanden. Ich erinnere mich, dass der Verein im Erdgeschoss Räumlichkeiten hatte. Am Wochenende trafen wir uns dort regelmäßig, das war wie ein Kinder- und Jugendclub. Und weil viele Familien auf unserem Aufgang gewohnt haben, haben wir im Treppenhaus Verstecken und Fangen gespielt, das war schon sehr familiär.
Der Verein Diên Hông war viel auf Stadtfesten und Veranstaltungen, um den Menschen hier unsere Kultur näherzubringen. Da waren wir häufig. Wir sind aufgetreten, haben gesungen, getanzt oder Modenschauen mit traditioneller vietnamesischer Kleidung gemacht. Das war cool, auch weil da Kinder verschiedener Altersgruppen dabei waren. Natürlich waren wir auch draußen auf den Spielplätzen, auf den Wiesen haben wir Blumen gepflückt.
Ich erinnere mich, dass es auf dem Parkplatz bei uns gegenüber diesen Wochenmarkt gab, viel größer als der heutige. Das war jede Woche ein Highlight für mich. Ich ging immer Samstag vormittags mit meiner Mama und meinem Bruder dort hin. Ich mochte es sehr, dort die Stände anzuschauen – am tollsten war für mich der Süßigkeitenstand, für meinen Bruder waren es die Konsolen und die Nintendo-Spiele.
Meine Kindergartenzeit verbrachte ich in der Kita „Biene Maja“, mein Bruder war da auch. Ich glaube, meine anderen vietnamesischen Freunde waren in einem anderen Kindergarten. Aber an diese Zeit habe ich wenige Erinnerungen. In der Grundschule waren auf jeden Fall zwei vietnamesische Freunde in meiner Klasse, das hat vieles einfacher gemacht und mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben.
Aber insgesamt hatte ich viele Freunde, auch viele Nicht-Vietnames*innen. Einmal beschwerte sich meine Mutter darüber, dass ich auf so viele Kindergeburtstage eingeladen werde. Außerdem war ich damals Klassenbeste. Ich besuchte die Grundschule Süd, die war relativ weit entfernt von unserer neuen Wohnung, in der Sternberger Straße. Eigentlich gab es dort eine Schule fast gegenüber, aber ich wollte auf die Grundschule Süd, weil meine Freunde und mein Bruder dort waren. Meine Grundschullehrerin meinte mal, dass es komisch ist, dass auf unserer Schule so viele Vietnamesen sind und auf der anderen keine. Die Community ist irgendwie zusammengeblieben, sie haben sich so sicherer gefühlt. Unsere Eltern hatten ja auch nicht so viel Erfahrung mit dem hiesigen Schulsystem.
Unser Hort befand sich auch in der Kita „Biene Maja“. Nach der Schule gingen wir über den Boulevard zum Hort. Neben dem Hanse-Menü-Gebäude war früher eine alte Kaufhalle. Im Asia-Imbiss haben wir auf die Süßigkeiten Rabatt bekommen, denn wir waren ja Landsleute. Ich erinnere mich auch, dass wir an Sommertagen im Brunnen auf dem Boulevard gebadet oder mehr so geplanscht haben. Wir haben unsere Schuhe ausgezogen und sind durchs Wasser gelaufen.
Sprachbarrieren waren natürlich vorhanden. Meine Eltern sind Arbeiterklasse vom Feinsten, sie arbeiten jeden Tag von früh bis spät. Also haben unsere Eltern und wir Kinder uns gar nicht so häufig gesehen. Wir Kinder untereinander haben deutsch gesprochen, wir kannten das so aus dem Kindergarten. Wir haben natürlich schon wahrgenommen, manchmal eher unterschwellig, dass wir mitunter auf der Straße mit „Fidschi“ angesprochen wurden. Oder dass niemand unsere Namen aussprechen kann. Aber an fremdenfeindliche oder rassistische Anfeindungen kann ich mich nicht erinnern. Das ist aber auch schwierig, weil sich die Erinnerungen mit anderen Einflüssen überlagern. Man nimmt Aussagen anderer für sich an und hält sie für eigene. Viele jüngere sagen oft, dass ihnen ihre Eltern mitgegeben haben: „Fall nicht auf. Du fällst wegen deines Aussehens genug auf. Mach dich unsichtbar.“ - Diese Aussage fällt häufig. Ich selbst habe das nicht so erlebt. Ich glaube, bei mir war es sogar eher das Gegenteil. Meine Mama hat immer gesagt, ich soll gut sein, ich soll mir Mühe geben, dass ein gutes Bild von uns entsteht. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich unsichtbar war. Meine Eltern haben beispielsweise im Kindergarten meinen Erzieher*innen zu Weihnachten immer Geschenke gemacht, immer kurz vor den Feiertagen eine Tüte voll mit Gaben. Ich erinnere mich auch nicht an Probleme mit deutschen Kindern. Klar kamen mal Bemerkungen, aber das macht jedes Kind durch. Ich durfte als Kind nach der Schule aber nie auf den Spielplatz. Das hängt auch damit zusammen, dass Bildung so wichtig ist. Ich musste immer super viel lernen. Unter der Woche durfte ich nicht zum Spielen raus.
Auf dem Brink waren wir manchmal. Vor allem mein Bruder traf sich dort mit anderen – und er musste mich ja immer mitnehmen, deswegen weiß ich das. Dort gab es unter anderem in einem Imnenhof ein Trafohaus, auf dessen Dach sind wir manchmal geklettert. Manchmal waren wir beim Sportplatz oder am Brunnen, zur Dämmerung im Sommer. Da wo jetzt die Tischtennisplatten stehen, war früher gegenüber auch noch ein Schreibwarenladen. Und wo die Ruine des An- und Verkaufs steht, war eine Buchhandlung. Da habe ich mich gern aufgehalten.
Später musste ich in Lütten Klein zur Schule gehen, weil es in Lichtenhagen nach dem Abriss des Stephan-Jantzen-Gymnasiums keins mehr gab. Die aus Lichtenhagen kamen, sind gemeinsam mit der Straßenbahn zur Schule gefahren und nach der Schule haben wir uns gegenseitig immer nach Hause gebracht und vor der Tür noch lange geredet, das war sehr schön. So richtige Treffpunkte hatten wir hier nicht.
Ich finde die Tempelanlage auch superinteressant, schon architektonisch. Das wirkt ein bisschen wie ein Ufo, das mitten in einer Plattenbausiedlung gelandet ist. Ein asiatisches Gebäude mit geschwungenen Dächern und einem Garten wie ein Paradies. In Lichtenhagen ist das wirklich gut aufgenommen worden. Die vietnamesische Community ist etwas zurückhaltender. Mein Vater war wohl die ganze Zeit noch nie da. Meine Mutter geht schon manchmal hin, um Freund*innen zu treffen oder vegetarisches Essen für mich zu kaufen.
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