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A.M., Jahrgang 1965, wohnte von 1981 bis 1987 und von 1996 bis 2009 in Lichtenhagen
@Tom (Redaktion "Stadtgespräche") . . 30. Apr 2024

Meine Eltern sind 1981 nach Lichtenhagen gezogen. Durch einen Ringtausch bekamen sie dort eine 5-Raum-Wohnung, weil sie drei Töchter hatten. In der neuen Wohnung hatten zuvor sogar zwei Familien gewohnt. Die eine ist nach Rügen gezogen, die andere hat unsere alte Wohnung in Lütten Klein übernommen. Meine Mutter war damals Schulleiterin, mein Vater hat im Überseehafen gearbeitet. Meine Eltern haben bis vor zwei Jahren in dieser Wohnung gewohnt, dann wurde sie ihnen zu groß und sie wünschten sich einen Fahrstuhl.


1984 habe ich in der Lichtenhäger Kita „Biene Maja“ Arbeit als Erziehungshelferin gefunden hatte. Schon bald darauf wurde ich schwanger, noch sehr jung, mit Anfang 20. Ich habe meine Tochter von Geburt an allein großgezogen. Ich bezog mit meiner Tochter zwei Zimmer in der Wohnung meiner Eltern, weil meine Schwestern damals schon ausgezogen waren. Dort lebte ich nach der Geburt meiner Tochter im Jahr 1986 über mein ganzes Erziehungsjahr hinweg. Der Kinderwagen meiner Tochter stand immer unten auf der Wiese. Dann hat mich die Kita gefragt, ob ich nicht früher wieder arbeiten möchte, ich bekäme dann auch einen Krippenplatz in der Einrichtung. Also fing ich wieder an zu arbeiten und nahm meine Tochter morgens mit zur Arbeit. Das war auch cool. 1987 bin ich dann nach Dierkow gezogen, in eine eigene Wohnung.


In Lichtenhagen gab es in den 1980er Jahren eine total coole Eisdiele, die war schräg gegenüber von unserem Hausaufgang. Dort gab es das leckerste Softeis schlechthin. Draußen war immer eine ganz lange Schlange, drinnen konnte man Eisbecher essen. Einfach lecker. Dieses Kaffeetrinken im Café kannten wir damals nicht. Wir waren zwar mal in der Warnemünder Broilerbar und in der Eisdiele, aber direkt vor Ort sind wir nicht ausgegangen. In der Grabower Straße gab es auch noch einen privaten Fahrradladen namens Sandau. Der Inhaber hatte Töchter in meinem Alter, die eine arbeitet heute noch in einem anderen Fahrradladen.


In deinem Viertel, in deiner Straße hast du immer jemanden getroffen. Deine Freundinnen wohnten da. Und es gab die Jugendclubs, die waren der Knaller. In Lichtenhagen war der Hans-Beimler-Jugendclub, benannt nach einem Widerstandskämpfer. Da ging man mal hin, da war auch Diskothek. Da trafst du immer jemanden. Du musstest nicht weit fahren, um Freunde zu besuchen. In der Regel gingen ja auch von der ersten bis zur neunten Klasse alle in dieselbe Schule. Danach wechselten dann zwei oder drei zur Oberschule und haben Abitur gemacht, der Rest blieb bis Ende der zehnten Klasse.


1996 bin ich dann wieder nach Lichtenhagen gezogen, als ich einen Job im Jugendamt bekam, in eine Wohnung direkt am Boulevard. 1999 wurde mein Sohn geboren. Das war eine aufregende Zeit, ein Hauptgewinn. Ich habe in einer Schwangeren- und Krabbelgruppe viele coole Frauen kennengelernt, die ich alle aus sozialen Berufen kamen. Wir sind ständig zusammen durch die Gegend gezogen. Als mein Sohn dann auf der Welt und groß genug war, besuchte er ebenfalls den Kindergarten „Biene Maja“. Wir hatten mit vielen Leuten aus dem Haus Kontakt. Man traf sich auf dem Spielplatz, das passte alles gut zusammen. Dann war Janny‘s Eisbar ein Treffpunkt und es gab am Boulevard auch einen sehr coolen Buchladen, schon zu DDR-Zeiten. Schallplatten hatten die auch, da musstest du Schlange stehen. Es gab noch einen Schuhladen und einen Haushaltswarenladen. Dann gab es noch eine Eckkneipe, der Lichtenhäger Krug, das war aber nicht so unsers. Der Boulevard war genial, mit den vielen kleinen Läden. Dann waren da noch die Brunnen, in denen die Kinder ein bisschen gebadet haben.


Lichtenhagen war schon cool, auch durch die Nähe zur Ostsee und die gute Verkehrsanbindung. Wenn wir frei hatten, bin ich mit meinem Sohn schon morgens um sieben am Strand gewesen, mit Kaffee und Tee und Frühstücksbroten. Das war ein Highlight. Da brauchten wir gar nicht weit wegfahren. Meine Freundinnen hatten alle Kinder im gleichen Alter, der Kontakt besteht bis heute. Wir trafen uns immer, auf dem Spielplatz, bei irgendwem zu Hause oder in Warnemünde am Strand.


Lichtenhagen war damals aber auch selbst ein Treffpunkt. Da waren immer viele Kinder, man spielte zusammen und wusste genau, irgendwer hängt immer draußen rum. Sogar noch als mein Sohn in dem Alter war: Du konntest ihn immer auf den Spielplatz schicken, immer war jemand zum Spielen, zum Quatschmachen da.


Nach der Wende ging der Hausbau-Boom los und einer nach dem anderen ist weggezogen. Die, die noch jünger waren und gute Jobs hatten, haben die Chance genutzt und irgendwo ein Haus gebaut. Bei meinen Eltern im Haus gab es ja viele große Wohnungen. Da zogen nach und nach wieder Familien mit vielen Kindern ein, das war erst auch noch entspannt. Mit vielen Kindern hast du ja gern eine große Wohnung und die Wohnungen hier waren bezahlbar.


Ich habe dann aber meinen Sohn 2006 nicht in Lichtenhagen einschulen lassen. Er ging in Warnemünde in die Schule. Für mich war klar, da ziehe ich mal irgendwann hin. Damals begann hier die Zeit des Wohnungsleerstands, keiner wollte mehr nach Lichtenhagen ziehen. Ich weiß nicht, ob Lichtenhagen von den Stadtplanern einfach so vergessen wurde. Die Straßen sind völlig kaputt, Schlagloch um Schlagloch, fürchterlich. Auch sonst ist Lichtenhagen ab Ende der 1990er Jahre zunehmend verlottert. Es sind immer die Leute, die ein Viertel verlottern lassen. Es entstehen irgendwelche Müllecken, dann wird noch mehr Müll dazu geschmissen. Da muss man sagen: Leute, das ist euer Umfeld, lasst es nicht so vergammeln! Irgendwie fehlte das Verantwortungsgefühl für das Viertel. Das verschwand nach der Wende bei vielen. Das waren vielleicht noch die Älteren, die Generation meiner Eltern, die sich gekümmert haben. Die Nachgezogenen waren oft arbeitslos. Ich finde das so schade. Du hast ja nach wie vor die schönen Wohnungen, gerade in den Hochhäusern. Du hast den Blick zur Ostsee, auf der anderen Seite zur Stadt, du kannst das Ostseestadion sehen. Ein Traum. Große, bezahlbare Wohnungen.


Ich war nachher im Jugendamt im Fallmanagement für Lichtenhagen zuständig und habe da auch viele andere Seiten kennengelernt. Darauf hast du irgendwann keine Lust mehr. Es ist sehr schwer, sich da abzugrenzen. Hinterher war ich noch in der Jugendgerichtshilfe, auch dort war ich für Lichtenhagen zuständig. Da gab es Geschichten.… Das hat sich langsam nach der Wende so entwickelt, vor allem in den frühen 2000er Jahren. Dieses „ich kümmere mich nicht um meine Kinder“ war das eine, es gab auch viel Kriminalität, das war irgendwann nicht mehr zu ertragen. Das brachte mich an einen Punkt, wo ich dann aus Lichtenhagen wegwollte. Das ist so schade, ich habe echt gern im Neubauviertel gewohnt. Das hat mich schon geprägt.


Ich bin mal mit der S-Bahn von der Innenstadt aus nach Warnemünde gefahren, da wohnte ich noch in Lichtenhagen. Im Zug saß ein älteres westdeutsches Ehepaar. „Oh Gott“ haben die aufgestöhnt, als sie die Neubauviertel sahen. Die haben so über dieses Viertel abgelästert, wie man da wohnen kann. „Wissen Sie was, ich habe zwei Berufe, ich bin ein normaler Mensch und ich bin hier auch groß geworden“, sagte ich zu ihnen.

Die meisten verbinden ja Lichtenhagen mit den Randalen und das wird Lichtenhagen auch nicht wirklich los. Wenn man erzählt, dass man aus Rostock kommt und dann noch sagt „aus Lichtenhagen“. Dann heißt es: Aha! Echt peinlich. Ich kann mich noch gut an 1992 erinnern, meine Eltern wohnten da in der Nähe. Das war schlimm, zu sehen, wie die Menschen vor der ZAST hausen mussten - die konnten ja nichts für ihre Situation. Die Politik hat das nicht ernst genommen, und dann ist das eskaliert. Das war vorauszusehen. Das ist aber nicht Lichtenhagen. Lichtenhagen war mal das Vorzeigeviertel von Rostock, mit seinen vielen Grünanlagen. Wir hatten ja vor dem Haus eine riesengroße Wiese, da spielten die Kinder immer Fußball. Da steppte der Bär, da war immer Bewegung. Hinten auf dem Innenhof war ein großer Kinderspielplatz. Und das schöne war: Die Kinder spielten alle zusammen. Da wurde keiner gemobbt, weil er das Kind von einer Putzfrau war. Das spielte gar keine Rolle.

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