
Vor der Wende habe ich in Groß Klein gearbeitet. Ich war dort Leiter der Gaststätte „Zur Kombüse“. Am 31.12.90 habe ich mich kündigen lassen. Ich ging zum Arbeitsamt und teilte meiner Sachbearbeiterin mit, dass ich zukünftig als Sozialarbeiter arbeiten möchte. Ich hatte ja bereits eine Ausbildung als Erzieher und hatte Erfahrung in der Aids-Hilfe. Es dauerte dann nur wenige Wochen bis ich tatsächlich eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) als Familienhelfer begann, für drei Jahre, angegliedert an das Rostocker Jugendamt. Ich war für den Stadtteil Lichtenhagen zuständig und sehr froh über diese neue Aufgabe. Unterstellt war ich der für Lichtenhagen zuständigen Sozialarbeiterin, mit der ich mich auf Anhieb gut verstand. Sie kündigte mir gleich an, dass ich viel zu tun haben würde – und so war es dann auch. Es gab damals ungefähr 30.000 Einwohner im Stadtteil, davon ungefähr ein Drittel Kinder, denn viele Familien waren wirklich kinderreich, vier bis sechs Kinder waren keine Seltenheit. Diese Familien habe ich dann zu Hause besucht. Die haben sich gefreut, dass ich das gemacht habe. Meine unmittelbare Vorgesetzte, die war nicht ganz so beliebt, die war so streng, was vermutlich noch an ihrer beruflichen Prägung durch die DDR lag. Da gab es ja ganz andere Methoden. Sie ging beispielsweise in die Wohnungen, machte die Kühlschränke auf ohne zu fragen und sagte dann Dinge wie: „Was ist das? Hier ist ja gar nichts zu essen drin!“ Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. So machte ich das nicht.
Ungefähr ein Jahr später, das muss 1992 gewesen sein, begann ich dann eine Ausbildung zum Familienhelfer, die ein Jahr dauerte. Diese wurde von der Stadt Rostock organisiert und war wirklich hervorragend. Damals war die Stadt auf der Suche nach freien Trägern im Bereich soziale Arbeit und so gründete sich 1992 der Träger Hütte e.V., dessen erster Sozialarbeiter ich dann wurde. Wir galten als besonders geeignet für die „besonderen“, schwierigen Fällen – und so bekam ich die dann auch immer wieder. Das war teilweise wirklich heftig. Ich erinnere mich beispielsweise an eine Familie, in der die Mutter stark alkoholabhängig war. Sie bekam trotz der Betreuung die Kurve nicht und so mussten wir ihre Tochter schließlich aus der Familie nehmen. An den Tag, an dem ich das Mädchen ins Kinderheim begleitete, das damals noch in der Schleswiger Straße stand, dem heutigen Standort der Berufsschule Alexander Schmorell, kann ich mich bis heute erinnern. Die Mutter brach in der Wohnung zusammen, kam ins Krankenhaus und dann in ein Pflegeheim. Und wir mussten erstmal die Wohnung wieder in Ordnung bringen, die total heruntergekommen war. Und das war kein Einzelfall – es gab viele Kinder, viele Familien, die damals Betreuung brauchten, bis weit in die 1990er Jahre hinein.
Ich zog dann in die Wohnung dieser Familie. Ich sagte der Wohnungsgenossenschaft gleich, dass ich sie nehmen würde – aber dafür müsste man sie eben erstmal wieder instand setzen. Es wurde alles rausgerissen, tatsächlich alles, bis auf den Beton, gemalert, neu tapeziert. Aber es roch immer noch komisch. Trotzdem zog ich dann mit meinem Sohn zusammen ein – und wohne dort bis heute. Dort will ich alt werden, solange bleiben, wie ich die Treppen noch hochkomme. Als wir damals einzogen, wohnten mehr als fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig Kinder in diesem Haus. In den Kellern standen überall Kinderfahrräder und Kinderwagen, das war normal. In den letzten Jahren wohnte hier kein einziges Kind mehr, über fast drei Jahre hinweg. Und auch die Eltern der Kinder von damals sind inzwischen fast alle weggezogen. Nachdem die Ukraine überfallen wurde, kamen ja viele Ukrainer nach Rostock, die waren dann die ersten, die wieder mit Kindern hier einzogen. Und ein junges deutsches Paar wohnt nun auch bei uns im Haus, die haben dieses Jahr ein Baby bekommen. Das war das erste Kind seit vielleicht 30 Jahren, das da geboren wurde.
Damals, als hier noch viele Kinder lebten, war hier immer was los. Ich bin nicht so der Handwerker und erinnere mich noch genau, dass einer der Jungs zu mir kam und sagte: „Herr B., ich mache Ihnen das Fahrrad.“ Prima. Und dann hat der mir immer mein Fahrrad repariert, für eine Mark oder so. Das waren die 1990er Jahre, so lief das hier. Wir haben uns gut verstanden. Aber in den Familien veränderte sich viel in dieser Zeit. Anfang der 1990er Jahren haben wir wirklich Existenzrettung machen müssen, als viele Eltern arbeitslos waren und vorher sowieso schon Minijobs oder Hilfsjobs gehabt hatten. Und viel Alkohol tranken. In der DDR wurde ja viel getrunken, das Schnapsregal war das längste in den Kaufhallen. Schnaps und Wein gab es immer. In den ersten Jahren habe ich mit meinen Klienten sehr viel Zeit auf den Arbeitsämtern verbracht, bei der Antragsstellung geholfen – das ging bestimmt zehn bis fünfzehn Jahre so. Ich konnte sehen, wie die Antragstellung immer komplizierter wurde, auch für mich. Das war der Teil meiner Arbeit, den ich gehasst habe. Aber es gehörte eben auch dazu.
Damals gab es viel Armut, eine andere Armut als heute. Einerseits gluckten die Familien noch viel zusammen, die haben sich gegenseitig geholfen. Die saßen auf der Platte, so hieß das: Wenn da eine Tischtennisplatte war oder so, dann haben die sich da getroffen. Mit der Zeit wurde das immer weniger, die Familien isolierten sich immer mehr. In der DDR gab es einen anderen Zusammenhalt, in den Hausgemeinschaften waren oft alle per Du. Dieses Gemeinschaftsgefühl verschwand ab Anfang der 1990er zunehmend. Früher haben hier in den Wohnhäusern alle gewohnt, vom Professor über den Polizeioffizier bis zum Oberlehrer. Das ist jetzt nicht mehr so. Die sind nach und nach alle ausgezogen. Ein großer Teil meiner Kollegen wohnte hier in diesen Neubaugebieten. Alles, was Platte war, nannten und nennen wir Neubau. Genauso wie der Supermarkt immer noch Kaufhalle ist. Vor zehn oder fünfzehn Jahren war ich dann der Einzige, der hier noch wohnte – alle anderen waren inzwischen weggezogen. Die Leute, denen es sozial gut ging, die sich sicher fühlten, bauten im Speckgürtel von Rostock oder zogen in die KTV.