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M. Hennig: Das Bützow meiner Kindheit

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

An der Warnow

Ein laues Lüftchen wehte. Welch eine schöne Frühjahrssonne. Ich setzte mich auf mein Fahrrad, um eine kleine Runde durch Bützow zu fahren. Eigentlich ohne Ziel, aber dann führte mich mein Weg über die Lange Straße und die Bahnhofstrasse, an den Garagen im Verbindungsweg und dem Andreassteig vorbei, in Richtung Vierburg. Der schmale Weg zum Ziegelhofweg weckte in mir Kindheitserinnerungen: Ich sah mich als kleines Mädchen dort entlanglaufen, die Abkürzung quer durch die Wiesen, zu unserer Badestelle an der Warnow. Die Wiese war mit allerlei Kleingetier bevölkert. Ich und auch viele andere Kinder aus der Bahnhofsgegend verbrachten ganze Sommernachmittage dort, badete in der Warnow, wo die Strömung nicht so stark war. War die Schule vorbei und die Hausaufgaben gemacht, schnappte ich mir die Badesachen und machte mich auf den Weg. Wie habe ich die Sommerferien herbeigesehnt! An diesen langen Sommertagen waren wir Kinder von morgens bis abends dort, kamen nur zum Essen nach Hause. Nicht nur wir, sondern auch viele Jugendliche und Erwachsene badeten in der Warnow oder lagen auf ihren Decken auf der Wiese. Das Gras war manchmal so hoch, dass man sich darin versteckten konnte. Wurde es gemäht, an trockenen Tagen, roch es überall nach frischem Heu. Meine großen Brüder und deren Freunde hatten zwei Stege gebaut: einen quer zum Wasser, der andere ragte in den Fluss hinein, so dass man ins tiefe Wasser springen konnte. Hierfür bekamen sie Unterstützung durch das Sägewerk, die das Holz zur Verfügung stellten. Der VEB Bau fuhr den Kies heran, um den Untergrund etwas zu stabilisieren. Irgendwann wurde der Steg mutwillig zerstört – und den Rest erledigte dann das Wetter, bis am Ende nichts mehr davon zu sehen war.

Der Zugang zum Fluss war an beiden Seiten von mächtigen, stabilen Bäumen gesäumt. An einem ihrer dicken Äste wurde ein Seil angebunden, mit dem man mit Schmackes in Wasser schleudern konnte. Ich traute mich nicht so recht, aber für die Größeren war es eine Freude. Solange ich noch nicht Schwimmen konnte, nahmen mich meine Geschwister mit – später nahmen sich zwei große Mädchen meiner an und brachten es mir bei. So richtig unter Beweis stellte ich meine Schwimmkünste dann, indem wir von der Badestelle, an den Bootshäusern vorbei, zur Holzbrücke am Gummiweg (der heutigen Fritz-Reuter-Allee) schwammen.

Die großen Jungen sprangen von dem Brückengeländer kopfüber ins Wasser, um so tief wie möglich zu tauchen. Manch einer von ihnen brachte auch etwas vom Grund mit nach oben. Sie mussten aber auch aufpassen, dass nicht gerade ein Abschnittsbevollmächtigter (kurz ABV) vorbeikam, denn dann gab es mächtig Ärger. Die beliebtesten Fundstücke waren Gewehre oder Pistolen, die die Wehrmachtsangehörigen in der Kriegszeit dort ins Wasser geworfen hatten. Ich kann mich noch gut erinnern, dass einer meiner Brüder dort eine Pistole fand, in das Gebäude der Staatssicherheit am Fritz-Reuter-Platz brachte – und es sehr lange dauerte, bis er wieder aus dem Gebäude kam.

Das Wasser der Warnow war am Ufer so klar, dass man unter den angeschwemmten Baumwurzeln Krebse fangen konnte, wenn man geschickt war. Manchmal zwickten uns die Krebse aber auch mit ihren Scheren – das gab ein Gejauchze.

Ab und zu kamen auch Paddler und Ruderer vorbei, die dann auch mal bespritzt wurden. Ich mochte die kleinen versteckten Einbuchtungen am Flussrand, die Anglern anlegten, um dort in Ruhe zu angeln. Sie waren von Bäumen und Büschen bedeckt. Diese Stellen wurden auch gern von Liebespaaren genutzt, um ungestört zu sein. Wenn wir am späten Abend im Dunkeln baden gingen, konnte man das Leuchten der Glühwürmchen sehen, die in Schwärmen über Gebüsche schwirrten. Gelegentlich zelteten sogar Menschen am Warnowufer.

All das verschwand, als die Warnow umgeleitet wurde. Badestelle und Schwimmstrecke wucherten zu und vermoderten immer mehr, die Natur eroberte sich ihr Terrain zurück.

Ich saß noch einige Zeit an der ehemaligen Badestelle und hing meinen Gedanken nach. Dann setzte ich mich wieder aufs Rad und fuhr an der Warnow, deren Strömung mich nicht begleiten konnte, da es diese ja nicht mehr gibt, über die zwei Brücken zurück nach Hause.


Das Bahnhofsviertel

Ich sehe mich auf einer Fotografie. Ungefähr zwei Jahre alt muss ich wohl gewesen sein. Wer das Foto gemacht hat, weiß ich nicht. Wir sitzen in einem aus Korb geflochtenen Kinderbett auf Rädern vor der Bahnhofsuhr, die mitten auf dem Bahnhofvorplatz stand: Eine gemauerte Säule mit roten Klinkern, ganz oben eine Uhr, die in vier Richtungen zeigt. An den Seiten sind Werbeplakate angebracht. Meine beiden älteren Brüder und ich sitzen in dem Wagen. Ein Nachbarmädchen, älter als wir, steht daneben. Es ist ein schöner Sommertag. Einmal mehr fährt ein dampfender Koloss in den Bahnhof ein und gibt einen schrillen Pfeifton von sich. Menschen, kleine und große, steigen ein und aus und nach ein paar Minuten hebt der Schaffner seine Kelle. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung.

Für mich als Kind war es eine Freude, wenn ich mit dem Zug reisen durfte. Wir haben uns oft am Bahnhof herumgetrieben. Hatten wir einen Zehner in der Tasche, holten wir uns aus der Mitropa eine Brause. Meine Freundin und ich haben uns gerne an den Tischen von Reisenden gesetzt und sind mit ihnen ins Gespräch gekommen, bis der Zug kam.

„Es wird wieder Vieh verladen“, rief einer der Freunde. Und schon liefen wir zur Verladerampe und sahen zu, wie die Bauern die Kühe oder Schweine auf die bereitgestellten Waggons scheuchten. Das war ein Tumult. Es quickte oder muhte und die Bauern schimpften, wenn sich das Vieh wehrte und versuchte in eine andere Richtung zu laufen. Auch wenn kein Vieh verladen wurde, trieben wir uns auf dem dafür vorgesehenen Gelände herum. Die Gatter waren schöne Klettergerüste und da sie regelmäßig gereinigt wurden, brauchten man keine Angst zu haben, dass man irgendwo in einen Fladen trat. Vom Speicher führte ein langes Rohr über die Straße, hin zur Verladestation, wo die Spezialwaggons für das Getreide standen. Diese wurden dann mittels einer Förderschnecke befüllt.

An den beiden Seiten des Eingangs zum Bahnsteig standen zwei Kabinen, in denen der Schaffner stand und die Fahrkarten der Reisenden abknipste. Daneben befand sich eine Waage, in die man einen Zehner stecken musste, wenn man wissen wollte wie schwer man war. Am Fahrkartenschalter wurden die Fahrkarten, kleine Pappkärtchen, mit Reiseziel, Preis, Reisedatum und Entfernungsangabe bedruckt. Bevor mein Opa in Rente ging, war er in der Gepäckaufbewahrung beschäftigt. Auch meine Tante arbeitete bei der Bahn.

Hinter den Bahnsteigen sah man das Oberbauwerk (OBW). Dort haben wir in der Schulzeit unseren PA-Unterricht (PA = praktische Arbeit) in einem ausrangierten Waggon gemacht. Wir mussten kleine Metallplättchen bearbeiten. Schneiden, Stanzen und viel Feilen – und am Ende wurde es doch keine gerade Kante.

Die Sirene heulte auf. Drei Mal. Wo brennt es? Es war an einem Wahlsonntag und wir flitzen auf den Dachboden unseres Hauses, um durch die Luke zu schauen. Wir hatten einen guten Überblick und sahen dicke Rauchschwaden in unmittelbarer Nähe. Und wieder runter, rüber über die Straße, durch den Weg zwischen den Gärten, Richtung Bahnhofsgebäude. Da kamen sie. Die Feuerwehr mit lautem Tatütata. Der Schacht der Ofenfabrik brannte, wir beobachteten es von der gegenüberliegenden Seite. Die Polizei passte auf, dass wir ja nicht zu dicht an das Gebäude kamen und die Feuerwehrleute beim Löschen behinderten. Ein Gewimmel, denn wir waren ja nicht die einzig Neugierigen. Mit vollem Einsatz versuchten die Feuerwehrmänner, den Brand zu löschen und ein Übergreifen auf die danebenstehenden Häuser zu verhindern. Trotzdem blieben am Ende nur zwei Schornsteine und viele verbrannte Steine und Kacheln zurück – von der Vorderfront der Fabrik war nichts mehr übrig.

An der Ecke der Kreuzung vor dem Bahnhof gab es damals noch eine Gastwirtschaft, eigentlich mehr eine Kneipe. „Wir gehen zu Hubert“ hieß es, wenn man dort hinwollte. Unmittelbar daneben befand sich eine kleine Stahlbaufirma namens Stahlfast, dahinter dann Gärten (jetzt Neubaugebiet der AWG).

Jede Woche kam ein LKW mit russischen Soldaten zum Bahnhof. Diese nahmen dann den aus Rostock kommenden Zug, der sie nach Hause oder in eine andere Garnison brachte. Die älteren Kinder haben sich dann mit den Soldaten unterhalten, so gut es eben ging. Mitunter wurden auch kleine Tauschgeschäfte gemacht und man ging mit einem echten russischen Teil nach Hause.


Die Darnow

Ich schaute durch das Fenster in die sternenklare Nacht und sah, wie die Schneeflocken sachte zu Boden glitten, um dort im glitzernden Mondschein liegenzubleiben. Ich konnte es gar nicht abwarten bis die Nacht zu Ende ging, denn draußen lag inzwischen stiefelhoher Schnee. Eine Freude für uns Kinder – für die Erwachsenen weniger, denn die mussten Wege und Straßen vom Schnee befreien. In einem Winter lag der Schnee so hoch, dass ich kaum noch darüber hinwegsehen konnte. Der Weg zum Bäcker oder Konsum wurde freigeschaufelt – gerade so breit, dass zwei Leute aneinander vorbeigehen konnten.

Was macht man an solchen schönen, verschneiten Winterferientagen? Den Schlitten schnappen, den wir zu Weihnachten bekommen hatten – und dann ab in die Darnow, zu unserem Rodelberg. Mit meinen Geschwistern und Freunden machte ich mich voller Freude auf den Weg: laut schnatternd, warm eingemummelt. Wir stapften durch die Carl-Moltmann-Straße zum Bahnübergang nach Wolken. Hatte man Pech, waren die Schranken am Bahndamm geschlossen: Dann hieß es warten. Kam ein Güterzug vorbei, zählten wir die Waggons. Danach passierten wir Wolken, gingen über die alte, heute nicht mehr vorhandene Holzbrücke, die über den Bützow-Güstrow-Kanal führte, in Richtung Schwaan.

Unterwegs kamen wir auch am Haus meines Opas vorbei. Dort gab es im Vorgarten einen ausgehöhlten Fliederbusch, unter dem man an heißen Sommertagen im Schatten bei Kaffee und Kuchen sitzen konnte, den fand ich großartig. Da es kein fließendes Wasser im Haus gab, musste dieses von einer Pumpe auf der anderen Straßenseite geholt werden – mit zwei Holzeimern, die man an einer über die Schulter gehängten Wacht trug. Wenn ich mal zu Besuch war, durfte ich meinen Opa begleiten. Er lachte, wenn ich versuchte, den eisernen Pumpenschwengel zu bewegen und es mir nicht gelang.

Wir überquerten einen zweiten Bahnübergang (die Gleise führen nach Güstrow), kamen an der ehemaligen Fahnenfabrik vorbei und durchquerten den Wald – und da war sie dann, unsere Rodelbahn. Wer die Schneise gebaut hat, die sich im Wald befand, weiß ich nicht. Vielleicht waren schon meine Eltern als Kinder dort rodeln. Die Schneise war breit genug, um nebeneinander oder in Schlange rodeln zu können – und wenn man genug Schwung nahm, erreichte man sogar den Rand der Straße. Was war das für eine Freude, den großen Berg hinunterzurodeln. Weniger schön fand ich es, ihn dann schwitzend wieder nach oben zu kraxeln. Hatte ich dann oben meinen Schlitten zum Rodeln ausgerichtet, rief ich schon vor dem Losfahren: „Bahn frei, Osterei“.

Direkt neben der Rodelbahn befand sich ein steiler Abhang, der auch Todesbahn genannt wurde. Der eine oder andere hat sich schon dem Wagnis ausgesetzt und hatten dann Glück, wenn er auf der anderen Seite, vor den Bäumen, zum Stehen kam.

Erst als sich die Sonne neigte, wurde es Zeit nach Hause zu gehen – erschöpft, aber glücklich und zufrieden. In nassen Sachen kamen wir zuhause an und setzen uns nach dem Umkleiden an den wärmenden Kachelofen, in dessen Röhre Bratäpfel lagen.

Außerdem erinnere ich mich noch an das „Manöver Schneeflocke“, bei dem wir in der Darnow als Schulgruppe verschiedene Stationen anlaufen und dort Aufgaben lösen mussten. Dazu gehörte das Lesen von Tierspuren (die natürlich nicht im Schnee zu sehen waren, sondern auf einer Vorlage gemalt wurden) und die Orientierung mit dem Kompass.

Und es gibt noch eine weniger schöne Erinnerung an die Darnow, nämlich an den Crosslauf, den wir mit unserer Schule dort machen mussten. Die Strecke ging bergauf und bergab. Ich war nie eine schnelle Läuferin, deshalb fiel es mir und auch anderen Kindern schwer, die Strecke im Laufschritt zu bewältigen. Die Letzte war ich dennoch nie.

Die Darnow hat aber auch eine grausige Geschichte. Im Wald steht ein Sühnestein. Er weist auf einen Doppelmord hin, den ein Diener vor mehreren hundert Jahren an seinem Herrn und dessen Kutscher verübt haben soll. Die Rodelbahn ist heute nur noch zu erahnen – die Natur hat sie zurückerobert. Damit auch diese Erinnerung nicht in Vergessenheit gerät, habe ich sie aufgeschrieben.


Die Vierburg

Die Gaststätte an der Viehburg war früher eine Zollstation: Wer nach Bützow wollte, musste hier Zoll entrichten, die Tafel am Eingang informierte darüber, wieviel gezahlt werden musste.

Mit Tschingtarassassa und Bumsfallera marschierten wir hinter einer Musikkapelle durch den Vierburger Wald, in Richtung der Vierburg-Gaststätte. Voller Vorfreude – es war Kindertag und wir waren gespannt, was dort auf uns wartete. Es war ein schöner, sonniger Tag, Tische und Bänke standen auf der Wiese gegenüber der Gaststätte. Wir tranken Muckefuck und aßen Kuchen. Danach wurde gespielt: Blinde Kuh, Topfschlagen, Sackhüpfen, Ballweitwurf und dergleichen. Und immer bekam man zur Belohnung eine Süßigkeit, so dass wir gleich mehrmals daran teilnahmen. War das ein Tumult, Gekicher, Geschnatter und Getobe – aber alle fühlten sich wohl. Die Erwachsenen, die sich gerade nicht um uns kümmerten, saßen in der Gaststätte und löschten ihren Durst oder aßen eine Bockwurst.

Sonntags war Wandertag mit der Familie – und mich lockte die Aussicht, in der Vierburg eine Brause zu bekommen. Ich zog ein Kleidchen an, denn es war ja Sonntag. Sonst lief ich eher in Hosen herum. Wir waren nie die einzigen Spaziergänger auf diesem Weg, die Vierburg-Gaststätte war immer ein sehr beliebter Ausflugsort. Da es dort einen großen Saal und gegenüber eine große Wiese gab, fanden dort auch häufig Veranstaltungen statt. Einmal war ich sogar zu einer Kinovorstellung dort, obwohl es ja auch ein Kino in der Stadt gab.

Nach dem Mittagessen machten wir uns auf den Weg. Er führte uns durch den Andreassteig, vorbei an dem schmalen Weg zur Badestelle, an dem Pavilloner Schott, wo später Gärten entstanden und die Schule gebaut wurde. Der Sportplatz linker Hand war zwar klein, aber immer gepflegt. Hinter dem Sportplatz befand sich ein kleines Wäldchen, in dem meine Geschwister und deren Freunde kleine Höhlen bauten, die mit Stöcken und Grassoden abgedeckt wurden, in denen sie sich dann verstecken konnten. Dann begann der Wald und es wurde schön schattig. Wir tanzten vorneweg, liefen, sprangen, pflückten Anemonen, sammelten Kienäpfel und die Vögel zwitscherten uns zu. Die Erwachsenen folgten langsamer, oft in Gespräche vertieft. Zur rechten Hand erstreckt sich der Viersee, der bei Anglern sehr beliebt ist.

Es führte aber auch noch ein anderer Weg zur Vierburg – zwischen den Gärten entlang, in Richtung Bahnhof. Bog man an der Sargtischlerei ab, gelangte man in den Vierburgweg, vorbei an einem Getreidespeicher und dem Sägewerk. Am Sägewerk blieb ich oft stehen um zu beobachten, wie die große Zange, die auf Seilen lief, die großen Baumstämme packte und auf eine kleine Lore legte. Die Stämme wurden dann durch das Sägegatter geschoben. Mehrere Sägeblätter schnitten diese mit lautem Rattern in breite Bretter. Ich habe mir immer die Ohren zugehalten, weil es so laut war. Am Anfang des Werkes säumten Kastanien- und Eichenbäume den Landweg, der in Richtung Zernin und Warnow führt. Später mussten einige der Bäume einer neuen Chaussee weichen.

Weiter ging es, vorbei an Gärten, dem Sportplatz, nun zur rechten Hand, der Hühnerfarm und dem Kohlehandel. Die Molkerei gab es noch nicht. Der Vierburger Wald begann – hier trafen beide Wege aufeinander und wir folgten dem schmalen Pfad, bis wir die Vierburg erreichten. Dort setzten wir uns dann wahlweise in die Gaststätte oder auf den kleinen Hinterhof, mit seinen Tischen und Stühlen. Die Gaststättenbetreiber, eine Familie namens Ohde, die auch auf dem Gelände wohnte, bewirtete uns oder wir holten die Getränke vom Tresen.

Die Warnow konnte man von der Vierburg aus nicht sehen. Aber eine Dampflok, die laut pfeifend Dampf ausstieß, fuhr auf der anderen Straßenseite, hinter der Wiese vorbei. Einmal wagten meine Freunde und ich uns über die Schienen, obwohl das streng verboten war, um dahinter zum Peetscher See zu gelangen. Dort konnten wir einen Adlerhorst beobachten. Einer der Jungen hatte ein Fernglas mitgenommen. Wir konnten einen der Adler über den See kreisen sehen, der dann wie ein Pfeil ins Wasser schoss und einen Fisch mit seinen Krallen festhielt.


Der Fritz–Reuter Platz

Meine Kindheit begann am Fritz-Reuter-Platz, im Bahnhofsviertel. Ich habe später das Wort „Fleutendörp“ gehört, aber in meinem Umfeld wurde der Platz nie so genannt. Vor unseren Fenstern standen große Eichenbäume, die den Platz sehr dunkel machten und im Herbst in einen Blätterwald verwandelten. Die Bäume wurden später gefällt und es wurden neue Setzlinge gesteckt. Die Baumwurzeln sind im Laufe der Jahrzehnte langsam verwittert. Ein dreieckiges Rondell mit einer uralten Linde darin bildet den Mittelpunkt. Um sie herum war eine Bank und irgendwann wurde auch ein Stein mit dem Namen „Fritz Reuter“ aufgestellt.

Wir Kinder trafen uns dort, um uns darüber auszutauschen, was der Tag so gebracht hatte – oder noch bringen würde. Im Herbst, wenn die Linde blühte, versuchten wir, diese Blüten zu pflücken, so hoch wir kamen, um sie dann in der Apotheke zu verkaufen. Drei Straßen beginnen an diesem Platz. Eine davon ist die Fritz-Reuter-Allee, die in Richtung Innenstadt führt. Für mich war immer Sonntag, wenn meine Mutter mich mit in die Stadt nahm, um dort etwas zu erledigen. Denn dann gab es immer eine Kleinigkeit für mich, was nicht so oft vorkam – wir waren viele Kinder. Die zweite Straße führt zum Andreassteig und in Richtung Bahnhofstrasse. Alle drei Straßen sind mit Kopfsteinen gepflastert.

In unserem Haus gab es drei Aufgänge und an der Ecke unseres Hauses befand sich eine HO-Verkaufsstelle, die über fünf breite Stufen zu erreichen war. Neben dem Eingang wurden im Herbst Kartoffeln aus großen Säcken verkauft, die auf einer Holzwaage mit verschiedenen Gewichten abgewogen wurden. Die Menge bestimmte der Kunde.

Mein kleiner Bruder stellte sich öfter auf der Treppe vor dem Ladeneingang und sang. Es gab Kunden, die ihm einen Zehner gaben, den er dann auch gleich in Süßigkeiten umsetzte. Im Nebengebäude befand sich ein Friseur, in einem Raum, der nicht größer war als ein Wohnzimmer. Ausgestattet mit zwei kopfhohen Lehnstühlen für die Wartenden und einen Friseurstuhl mit einer Nackenstütze, platziert vor einem Spiegel. In der Ecke befand sich ein Vorhang, hinter dem der Friseur seine Utensilien verwahrte, und an der Wand hing ein langes breites Lederband, an dem er das Rasiermesser schärfte. Da ich noch zu klein war, um in den Spiegel zu schauen, legte er ein Brett über die Stuhllehnen. Auf dieses setzte er mich, um mir die Haare schneiden zu können.

Auf der anderen Straßenseite befand sich das gefürchtete Gebäude der Staatssicherheit. Als Kind nahm ich es gar nicht wahr – es stand dort eben einfach. Einmal wurde mein Vati angezählt, weil er die DDR-Fahne verkehrtherum auf einen Stiel gezogen hatte und diese dann so in den Fahnenhalter steckte.

An der Ecke zur Bahnhofstrasse war die Bäckerei Straebelow mit zwei großen Schaufenstern. Dort bekamen wir öfter mal eine Tüte mit Kuchenkrümeln oder Kanten, die wir dann sofort verputzten. Am Sonntag, wenn mal das Brot ausgegangen war (was selten vorkam), bekam man es bei diesem Bäcker – auf dem Hof.

Die dritte Straße am Fritz-Reuter-Platz war die Bahnhofstrasse. Dort gab es viele Geschäfte, darunter einen zweiten Friseur, einen Milchladen und später auch einen Eisladen. Einen Krämerladen (Sievert hießen die Inhaber) gab es auch. Dort hingen die Waren sogar an der Decke, weil sein Sortiment so groß und im Verkaufsraum zu wenig Platz war. Eine Linde warf ihren Schatten in den Laden und machte diesen dunkel. Vor dem Laden stand eine Bank, auf der meist ältere Männer saßen, ihr Bierchen tranken und klönten. Es gab noch eine zweite Bäckerei (Brandt), eine Heißmangel (Schreiber), eine Molkerei und einen Schuster (Pinak), der seine kleine Werkstatt hinten auf dem Hof hatte. Der Raum des Schusters war so klein, dass er im Sitzen an alles herankam. Auf der anderen Straßenseite befand sich die Firma des Brunnenbauers Zelck, den es heute noch gibt, die Konsumbaracke, die Fleischerei Ahrens – heute Zweigstelle der Bibliothek – und der Blumenladen Feil auf dem Hinterhof.

Da es damals noch nicht so viele parkende Autos gab, konnten wir gut auf der Straße vor dem Haus spielen. Kippel-Kappel, Bäumchen wechsel dich, Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser? Lange Nase, Murmeln, „Lütt letzt mit anbacken“ und dergleichen mehr. Beliebt war auch Völkerball – dafür nutzen wir den Weg zwischen den Gärten zum Bahnhof hin. Kinder gab es viele und das Alter spielte keine Rolle. Ab und zu flog auch mal ein Ball in die Gärten. Die Älteren und Geschicktesten holten ihn dann wieder raus, was manchem Gartenbesitzer missfiel.

Federball und Gummitwist gehörten damals zu meinen Lieblingsspielen. Abends im Herbst spielten wir auch gerne Verstecken. Einer lehnte sich an den Baum und hielt sich die Augen zu und rief: „Eins, Zwei, Drei, Vier Eckstein, alles muss Versteckt sein“ – und alle schwirrten auseinander. Gerne versteckte ich mich hinter der Buchsbaumhecke, die das Rondell umfasste. Sie wurde zwar niedrig gehalten, aber als Kind konnte man sich gut dahinterlegen. Auch in die Keller der drei Hauseingänge, die nie abgeschlossen waren, flüchteten wir. Und da es auch Ausgänge zu den Höfen gab, war es nicht leicht, die Versteckten zu finden.

„Er kommt, er kommt“, rief eines der Kinder. Ein Barkas rollte über das Kopfsteinpflaster und hielt vor einem Haus im Andreassteig. Im Anbau des Hauses befand sich ein Kühlraum, in dem das Eis vom Eisladen in der Bahnhofstrasse gelagert wurde. Wenn die größeren Kinder beim Ausladen der Eisbehälter und der Kartons mit dem Stangeneis halfen, bekamen aber auch die kleinen etwas von diesem leckeren Eis.

Im Herbst, wenn die Kartoffelerntezeit war, hielt vor unserem Haus ein LKW mit länglichen Holzsitzen, angeordnet in drei Reihen, um die Frauen, Männer und Kinder zum Kartoffeln stoppeln abzuholen. Die Kartoffeln wurden in Kippen gesammelt und die starken Männer kippten sie dann auf einen Anhänger. Da meine Mutter der Kinder wegen zu Haus war, bekam sie für mich keinen Kindergartenplatz. Noch heute sehe ich es vor mir, wie wir nach der Absage traurig nach Haus trotteten. Während der Kartoffelerntezeit ging ich dann aber trotzdem in den Kindergarten - in Parkow und Zepelin. Am Nachmittag fuhr der LKW zuerst zum Kindergarten, um uns dort abzuholen, wenn die Frauen und Männer noch nicht fertig waren. Dann bekamen wir auch noch ein Stück von dem herrlichen Streuselkuchen, den es des Öfteren für die Kartoffelsammler/innen zum Kaffee gab.

Wenn Laternenzeit war, trafen sich viele Kinder mit ihren Eltern an der Linde. Wir marschierten dann zur Musik einer Kapelle durch die Straßen und sangen „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne…“


Mein erster Kinobesuch

Es war ein sonniger Sonntagmorgen. Kein Wölkchen am Himmel. Ich war voller Vorfreude, denn meine Brüder nahmen mich mit, in die Stadt. Ins Kino. Was war ich aufgeregt! Ich trug ein geblümtes Seidenkleid mit Petticoat, dazu weiße Söckchen und rote Lackschuhe. Was habe ich dieses Kleid geliebt – und es auch nur am Sonntag getragen. An der Hand meiner Brüder tanzte ich voller Freude den Gummiweg (die heutige Fritz-Reuter-Allee) entlang. Über die Holzbrücke, die über die Warnow führt, ging es immer weiter in Richtung der Stadt. Am Ende des Weges bogen wir dann rechts in die Gartenstraße ein, am ungeliebten Zahnarzt vorbei. Auf der Brücke mit dem schmiedeeisernen Geländer blieben wir kurz stehen und schauten in den Fluss, einen Seitenarm der Warnow. Wie flach es dort war! Man konnte die Bewegungen der Wasserpflanzen in der Strömung beobachten, die Köpfe kleiner Fische tauchten hier und da aus dem Wasser auf. Danach ging es weiter die Straße Am Ausfall entlang – und dann in die Nebengasse, in der sich das Kino befand. Dort führte uns unser Weg an zwei großen Holztoren und dem großen Zufahrtstor zur Fleischerei vorbei. Vor dem Kino hatte sich schon eine längere Schlange von Kindern und Erwachsenen gebildet, wir reihten uns ein. Während wir warteten, betrachtete ich die große Schautafel mit den Glastüren an der Wand neben der Eingangstür. Dort hingen die neuesten Filmplakate.

Eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn wurde die Tür geöffnet. Sofort entstand ein Gedrängel, aber die Kinomitarbeiter sorgten schnell wieder für Ordnung. Wir warteten wieder, dieses Mal im Foyer, vor der Kinokasse. Auch hier hingen Plakate an den Wänden, Bilder von Schauspielern und Filmposter. Und dann hielt ich sie endlich in der Hand – meine Eintrittskarte. Im Vorraum riss eine Frau ein Stück davon ab und wir durften den Kinosaal betreten. Umhüllt von lautem Stimmengewirr und mattem Licht gingen wir den abschüssigen Gang neben den Stühlen hinunter und suchten uns einen Platz.

Welches ist die beste Reihe? Von wo aus kann man am besten sehen? Während ich noch alles staunend betrachtete, waren die guten Plätze gefunden. Kurz darauf wurde das Licht gedämmt, die Stimmen im Saal verstummten. Der Vorhang öffnete sich, die Leinwand wurde hell und der Film begann, begleitet von zwei flackernden Lichtern, die durch kleine Fensteröffnungen zu sehen waren. „Die Prinzessin mit dem goldenen Stern“ wurde gezeigt und alle schauten gespannt dem Geschehen auf der Leinwand zu. So ein schönes Märchen! Als der Film endete und das Licht wieder anging, stand ich noch vollkommen im Bann der Geschichte. Das Geschnatter und Gewusel setzte wieder ein und kurz darauf strömten die Besucher durch die großen Holztore ins Freie, an denen wir vorher vorbei gegangen waren. Geblendet von der Sonne suchte ich meine Brüder. An ihrer Hand begab ich mich auf den Heimweg, im Schatten der Bäume in der Bahnhofsstraße und voll von neuen Eindrücken.


Handballtraining Ende der 1960er Jahre

Unser Handballtraining fand immer in der BHG-Sporthalle statt, zwischen der Wäscherei und der katholischen Kirche. Und die Turniere meist am Sonntag, ebenfalls in der Halle, auch wenn die nicht besonders groß war. Meine Mannschaft ging mal als Verlierer und mal als Sieger hervor. Ich erinnere mich noch gut daran, dass einmal die Kinderfernsehsendung „Mach mit, mach‘s nach, mach‘s besser“ in dieser Halle zu Gast war, mit dem Moderator Adi und einer Aufführung des Güstrower Rollschuhclubs. Die schmalen Zuschauerreihen oben und unten waren voll besetzt und der eine und andere hatte Mühe etwas zu sehen.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Margrid Zikarsky: Mein erster Arbeitsbesuch in der Bützower Wäscherei in den 1980er Jahren

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Lang ist's her. An ein längst vergangenes Ereignis kann ich mich noch gut erinnern. Unter ganz anderen Bedingungen als heute mussten Frauen in Betrieben ihre Arbeit verrichten. Meine Arbeit sah damals vor, Gespräche mit Kollegen in Betrieben zu führen. Dieses Mal sollten es Gespräche mit Frauen in der kleinen Wäscherei in der Bützower Bahnhofstraße sein. Ich liebte meine betriebswirtschaftlichen Analysen und Planungen am Schreibtisch. Doch auf die Gespräche mit Menschen, die meine Arbeit bereichern sollten, musste ich mich erst einstellen. Ich machte mir Gedanken: Was werde ich den Frauen erzählen, womit fange ich an? Was wollen die Frauen hören, was erwarteten sie von mir? Am Ende überließ ich den Verlauf der Gespräche dem Zufall.

Mit gemischten Gefühlen betrat ich zum ersten Mal den Produktionsbetrieb, in dem nur Frauen arbeiteten. Als ich die Tür zur Wäscherei aufmachte, war ich erstaunt. Durch den heißen Wasserdampf, der die gesamte Halle durchzog, konnte ich nur schwach Umrisse von Maschinen und Frauen erkennen. Ich blieb an der Tür stehen – meine Augen begannen zu brennen und ich sah kaum noch etwas. Plötzlich stand eine kleine Frau mit gutmütigen Augen vor mir. Sie fasste mich an die Hand und sagte nur: „Kommen Sie schnell mit in den Aufenthaltsraum, sonst werden Sie noch nass.“ Später stellte sich heraus, dass sie die Leiterin der Wäscherei war. Ich folgte ihr wortlos, vorbei an Maschinen und schwitzenden Frauen. Der kleine Aufenthalts- oder Pausenraum war sehr gemütlich hergerichtet. Als ich gerade nach den Arbeitsplätzen fragen wollte, betraten die anderen Frauen den Raum. Alle waren heiter und lustig. Während sie sich setzten, gingen mir viele Dinge durch den Kopf. Die kleine Rede, die ich eigentlich hatte halten wollen, war plötzlich weg. Was soll ich nur sagen? Ich sah die nassen Haare, die feuchte Kleidung, die Gummistiefel an den Füßen der Frauen, die ebenfalls bis obenhin nass waren. Sollte ich ihnen jetzt noch mit meinen Sprüchen von Leistungssteigerung und Erhöhung der Arbeitsproduktivität kommen? Ich versetzte mich in die Lage dieser Frauen. Das hätte ich jetzt auch nicht hören wollen.

Die kleine liebevolle Frau, die Leiterin der Wäscherei, kam mir schließlich zu Hilfe. Sie begrüßte mich und stellte ihre Kolleginnen vor. Und sprach dann immer weiter, ich kam gar nicht mehr zu Wort. Später habe ich mich oft gefragt, ob sie mir angesehen hat, dass ich unbeholfen und in keiner guten Verfassung war. Ich war damals noch sehr jung: Was sollte ich diesen Frauen erzählen, die älter und erfahrener waren und ihre Arbeit ausgezeichnet verrichteten? Ich hätte ihnen gerne einige Fragen gestellt, stattdessen schaute ich in ihre Gesichter. Freundliche, lachende Frauen saßen mir gegenüber, fassten plötzlich Vertrauen und erzählten mir viele Dinge von ihrer Arbeit, ihren Familien, ihrer Freizeit und ihre Wünsche. Auch ich wurde immer lockerer. Schon bald standen mehrere Kollegen auf und stellten Kaffee und Kuchen auf den Tisch – plötzlich saßen wir in einer gemütlichen Runde. Als die Kaffeetafel beendet war, dachte keiner mehr daran, dass ich ja eigentlich diese Gesprächsrunde leiten sollte. Die Leiterin der Wäscherei brachte mich in die Halle, alle Frauen waren bereits wieder an ihrem Arbeitsplatz. Ich hatte plötzlich keine brennenden Augen mehr, mit jeder Kollegin kam ich ins Gespräch, sah die veralteten Waschmaschinen und Trockner, auch die alte Mangel und die großen Behälter mit der nassen Wäsche. Alle Frauen mussten die schwere Arbeit von Hand erledigen.

Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten: Hier nun müssen die Frauen arbeiten, Tag für Tag. Sie hatten ihre Tagesnorm, das hatten sie mir vorher erzählt. Die Leiterin lief durch die Wäscherei und organisierte durch kleine Anweisungen die Arbeit. Ich bewunderte die Ausdauer, die Freude und den Humor der Kolleginnen in diesem kleinen Betrieb. Als ich mich verabschiedete, sagte ich nur: „Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Und meinte damit die vielen kleinen Änderungswünsche, die sie in den persönlichen Gesprächen an mich herangetragen hatten. Bis heute empfinde ich Respekt und Bewunderung für diese fleißige Arbeit – und auch damals nahm ich ihn mit in mein sauberes Büro, an meinem Schreibtisch voller Akten. Vor wenigen Tagen habe ich erfahren, dass diese fleißige Frau von uns gegangen ist. Ich habe sie oft nach dieser ersten Begegnung noch oft gesehen. Über alte Zeiten haben wir nicht mehr gesprochen, doch ihren Humor und ihre lustige Art hat sie nie verloren. In meinem Herzen wird sie immer weiterleben.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Dirk Paepcke: Mein Bützow - Erinnerungen an Orte meiner Stadt

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Als ich den Aufruf zum Erzählen sah, dachte ich, was für eine schöne Idee! Und mal sehen, ob ich mich in den Geschichten und Erlebnissen wiederfinden kann. Jetzt sitze ich an meinem Fenster und schaue auf die von den Schneeflocken nasse und wegen der Sanierungsarbeiten gesperrte und einsame Straße. Und die Erinnerungen an frühe Kindertage entstehen fast von selbst, mit dem Blick auf den weihnachtlich geschmückten Bahnhof. Warum nicht aufschreiben, denke ich, und muss schmunzeln über mich selbst. Der alte Mann erzählt längst vergangene Geschichten…

Meine ältesten Erinnerungen an unsere Stadt sind mit dem Bahnhof und dem angrenzenden Viertel verbunden. Ich war etwa fünf Jahre alt, Ende der 1960er Jahre. Meine Eltern waren gerade mit mir und meinem Bruder in die Carl-Moltmann-Straße gezogen, in eine sehr schöne, moderne Wohnung für damalige Verhältnisse. Insbesondere im Vergleich zu dem abbruchreifen Haus am Markt, in dem wir vorher wohnten. Jahre später wurde dieses auch tatsächlich abgerissen und die Überreste zur Befestigung des Gummiweges genutzt – sehr nachhaltig, wie ich heute finde. Auf der freigewordenen Fläche wurde ein kleiner Platz gestaltet, mit einem Zeitungskiosk, der unter Bützowern sehr beliebt war. Aber das ist eine andere Geschichte...

Ich erinnere mich daran, dass mein Vater mir damals erzählte, dass das kleine Häuschen im Flur des damaligen Bahnhofsgebäudes vormals ein Schalter war. Hier wurden die Leute kontrolliert, ehe die Bahnsteig betreten durften, um dort Besuch zu empfangen oder zu verreisen – man brauchte dafür mindestens eine Bahnsteigkarte. Das fand ich sehr komisch! Eine Fahrkarte für den Bahnsteig, irgendwie passte das nicht in meine kindlichen Vorstellungen. Später wurde der Bahnhof etwas modernisiert und das Häuschen verschwand. Übrig blieben die Spuren auf den Fliesen am Boden, die ich ausführlich betrachten konnte, wenn die Bahn Verspätung hatte und ich im Winter dort auf den Zug wartete, der mich zur Uni nach Rostock bringen sollte.

Beim Aufschreiben dieser Geschichte sehe ich die damalige Schalterhalle vor mir, als wäre die Zeit stehengeblieben. Ich denke an die Wartezeiten in der Mitropa. An die Tische und den Tresen in der Mitropa, in der mein Großvater sich hin und wieder mit Freunden auf ein Bier oder einen Kaffee mit Zigarre traf. Ich saß dabei und lauschte den Erzählungen der alten Leute, bei einer Brause mit Bockwurst. Oder ich denke an den Intershop, den ich ab und an mit meinem Großonkel besuchen durfte: Gelegenheiten, bei denen er mir kleine Träume erfüllte, etwa ein Matchboxauto oder, später, eine Jeans. Aber vor allem denke ich an die Gepäckaufbewahrung – und das aus gutem Grund! Denn dort erfüllte sich ein großer Kindheitstraum. Hierzu muss man wissen, dass dort damals nicht nur Gepäck zur Aufbewahrung abgegeben werden konnte. Auch Sperrgut und sogar Tiertransporte wurden hier verschickt oder abgeholt, nicht nur für die Betriebe des Ortes, sondern auch für Privatpersonen. Und sogar für einen kleinen Jungen wie mich. Als mein Opa mir eines Tages erzählte, er habe einen Schäferhundwelpen für mich gekauft, waren Vorfreude und Erwartungen riesengroß. Jeden Tag lief ich mehrmals zum Bahnhof – und was für eine Freude, als der Kleine dann endlich eintraf: ein putzmunterer Welpe und viele Jahre ein treuer Freund und Begleiter.

Ein weiteres, sehr beeindruckendes Erlebnis meiner Kindertage waren die damals schon selteneren Durchfahrten und Aufenthalte von Dampflokomotiven. Die Geräusche, der Geruch und die altertümliche Optik, verbunden mit der transparenten Mechanik des Antriebes – all das war so faszinierend und schön. Schon etwas aus der Zeit gefallen, aber eine imposante Erscheinung und Abwechslung vom Alltag. Ich erinnere mich, wie wir Kinder das Befüllen des Wassertankes der Lok an der nahegelegenen Station mit großem Staunen beobachteten, während es für die Bewohner der Blöcke 1 und 2 der AWG wahrscheinlich eher störend war. Aber wenn ich bei meinen Großeltern war, die dort wohnten, rannte ich, sobald ich das Geräusch hörte, zum Fenster im Schlafzimmer, um einen Blick auf die Dampflok zu erhaschen.

Betrete ich in Gedanken den Vorplatz, erinnere mich an den Kreisverkehr, an die Geschichten und Erlebnisse in der Gaststätte dort – ein Gebäude mit wechselvoller Geschichte, das für die Bützower einfach "Hubert" hieß. Meine Gedanken wandern weiter zum Bäcker Streblow, zu der kleinen, sehr beliebten Eisdiele und dem Kaufmannsladen. Und dann immer weiter, die neue Bahnhofstrasse in Richtung Stadt entlang. Ich sehe den kleinen Verkaufsraum von Bäcker Brandt mit den leckeren Brötchen für ein paar Pfennige vor mir, denke an den auf der anderen Straßenseite liegenden Konsum und die dahinter liegenden Gärtnerei. Nicht weit entfernt davon die von mir so geliebte kleine Bibliothek und davor die Fleischerei. Und natürlich denke ich an die Alte Molkerei, in der mein Vater arbeitete, und an meinen Kindergarten. Dann komme ich zur Gaststätte Steusloff. Ich erinnere mich an den Bau des Wehres und denke an so viele kleine Geschichten, die ich aber nicht alle erzählen kann, weil es sicher den Rahmen sprengen würde.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Daniela Müller, Jahrgang 1971, zog 1976 nach Bützow und wohnt bis heute hier

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Geboren wurde ich Kühlungsborn. Mein erstes halbes Schuljahr verbrachte ich noch in Satow, aber in den Winterferien der ersten Klasse zog ich mit meiner Mutter nach Bützow. Meine Mutter hatte einen neuen Lebenspartner gefunden, der von hier stammte. Unsere erste Wohnung befand sich am Pferdemarkt. Hier ging ich dann auch in die Schule, gehörte also zu den Kindern, die man damals die „Stadtscheißer“ nannte. An meine Unterstufenzeit kann ich mich nur noch vage erinnern, aber an die späteren Jahre mit Herrn Schmidtbauer erinnere ich mich gut. Als herzlich aber streng könnte man ihn beschreiben. In den Pausen haben wir uns immer vom Schulhof geschlichen, um heimlich an der Ecke neben Bäcker Frenz zu rauchen. Wenn wir wiederkamen war oft das Schultor zu und wir bekamen Ärger, mit Dr. Schmidtbauer persönlich. Später war das Schultor dann von Beginn an abgeschlossen, da kamen wir gar nicht mehr runter vom Gelände.

Besonders im Gedächtnis noch der Kurs für Zivilverteidigung, den man zu DDR-Zeiten im Unterricht machen musste. Damals mussten wir in der Gruppe, mit allen Mädchen der Klasse, nach unten in den Keller der Schule, um dort schießen zu üben – und auch das Aufsetzen von Gasmasken. Mit den Masken mussten wir dann durch einen Tunnel kriechen, der sich unter dem Schulneubau befand. Der Tunnel endete an einer Luke mitten auf dem Schulhof, da mussten wir dann wieder nach oben klettern. Das fanden wir immer alles ziemlich eklig.

1987 schloss ich die zehnte Klasse ab. Mein Stiefvater fuhr damals Transporte für die DDR-Handelsorganisation HO, oft Marmelade von RoKoMa, der Rostocker Marmeladenfabrik. Durch ihn entstand die Idee, dass ich Verkäuferin werde – und so kam es dann auch. Es gab zwar viele Bewerber, aber durch seine Beziehungen bekam ich die Lehrstelle und war darüber sehr froh. Ich musste mich einmal im HO-Büro vorstellen und dann war die Sache entschieden. Das Unterschreiben des Lehrvertrags war dann schon eine andere Nummer. Das war eine richtig feierliche Veranstaltung in Güstrow, im großen Festsaal der Fachhochschule, mit schicker Kleidung. Dort gab es dann eine sehr festliche Rede und anschließend mussten wir einzeln auf die Bühne, wo man uns unseren Lehrvertrag überreichte. Dort kamen alle Lehrlinge aus dem Kreis zusammen, die damals Verkäuferin werden sollten – aus den Kaufhallen, aber auch aus den anderen Läden. Damals gab es ja in jedem Dorf ein Konsum, also waren das richtig viele.

Mein Ausbildungsbetrieb war der HO-Laden, der später der Burmeister-Spar wurde und heute ein Asialaden ist. Damals war das eine typische DDR-Kaufhalle, mit einem Softeisstand und ein Broilerstand daneben. In Bützow gab es damals insgesamt vier Kaufhallen: in der Kühlungsborner Straße, am Forsthof, oben am Bahnhof und die, in der ich arbeitete. Verwaltet wurden sie alle in der Konsumverwaltung. Ich persönlich hatte mit der Verwaltung nichts zu tun, aber ich erinnere mich, dass der Hauptkassierer unserer Kaufhalle immer abends nach Dienstschluss das Geld dort vorbeibringen musste. Unser Team in der Kaufhalle war damals ziemlich groß – wir waren allein schon vier Lehrlinge und insgesamt mindestens fünfzehn Leute. Montags wurden nur Milch, Butter und Brötchen verkauft, außer Haus, von einem Tisch aus, den wir an die Eingangstür stellen, immer von sieben bis elf Uhr. Der Grund war, dass am Montag alle Waren geliefert wurden und von uns eingeräumt werden mussten. An den anderen Tagen, von Dienstag bis Freitag, öffneten wir um 8 Uhr und schlossen um 18 Uhr. Am Samstag war die Kaufhalle bis mittags um 12 Uhr offen. Ich arbeitete in meiner Lehrzeit in allen Abteilungen nacheinander, am Bäckerstand, am Fleischtresen, beim Gemüse – jeweils ein halbes Jahr. Bei mir lief die Ausbildung dann allerdings etwas anders ab als geplant, weil ich schon am Beginn schwanger war. Das war damals kein Drama und auch nicht unüblich. Ich lernte also von September 1987 bis Februar 1988 und ging dann erstmal in eine Mutterschutzzeit, weil im April unsere Tochter geboren wurde. Und ein Jahr später, im Februar 1989, setzte ich die Ausbildung dann genau an dieser Stelle fort. Das hatte den Vorteil, dass ich nicht mehr im Fischgeschäft arbeiten musste, das auch zur HO gehörte. Davor hatte ich mich am meisten gegruselt. Dort gab es lebende Fische, die vor Ort getötet und dann in Zeitungspapier eingewickelt und mitgegeben wurden. Ich erinnere mich noch gut an die Frau, die dort arbeitete: sie sah selbst ein bisschen aus wie ein Karpfen.

Als ich wieder arbeitete, ging unsere Tochter in die Krippe am Rostocker Tor, ganz in der Nähe unserer Wohnung. Da ich schon morgens um 7 Uhr in der Berufsschule sein musste, brachte mein Mann sie immer in die Krippe, auf dem Weg zum Bahnhof, weil er jeden Morgen mit dem Zug nach Seelow fahren musste. Das funktionierte alles ziemlich gut und wir waren mit der Krippe zufrieden.

Was die gelieferten Waren anging, haben wir beim Auspacken durchaus auch ein bisschen vorsortiert: Jeder Mitarbeiter hatte eine Kiste mit ihrem oder seinem Namen drauf, in der landeten die Sachen, die man eher selten bekam. Was genau, wussten wir selbst immer erst beim Auspacken. Oft standen die Leute da vor der Tür schon an, ohne zu wissen, was genau es geben würde – irgendetwas Besonderes würde schon dabei sein. Besonders beliebt waren beispielsweise die Schaumküsse, die schon damals aus Grabow kamen: Die wurden einzeln verkauft und man bekam höchstens zwölf Stück pro Person, in Tüten, weil wir sie ja in den Großpackungen geliefert bekamen. Bananen und Orangen waren auch sehr beliebt – und dann später der Westjoghurt, der nicht in Flaschen sondern in Plastebechern geliefert wurde. Das muss in der Wendezeit gewesen sein, die Leute haben sich fast gehauen, um davon etwas abzubekommen. Damals war traurig zu sehen, wie die Ostprodukte dann in den Regalen liegenblieben – da musste es dann das gute Zeug aus dem Westen sein.

Die Wende selbst haben wir gar nicht so richtig mitbekommen. Ich war damals gerade mit meiner kleinen kranken Tochter zuhause und verstand erst so richtig, was da geschehen war, als ich am Montag darauf wieder zur Arbeit kam. Sorgen machte ich mir keine: Ich war jung und davon überzeugt, dass sich alles irgendwie finden würde. Und im Grunde war es auch erstmal so. Wir wurden dann von Spar statt von der HO beliefert und Herr Burmeister aus der ehemaligen HO-Verwaltung übernahm die Filiale, die ja privatisiert werden musste, weil es keinen staatlichen Betreiber mehr gab. Er richtete alles neu ein, besorgte ein neues Kassensystem und übernahm alle Mitarbeiter. Und wir blieben alle dort, für mich war das gar keine Frage. Das Ganze funktionierte sehr lange sehr gut. Ein paar Mitarbeiter wechselten Mitte der 1990er zu famila, andere gingen in Rente, aber sonst waren wir ein stabiles Team. Es lief nicht überall so glatt: Die Kaufhalle in der Kühlungsborner Straße wurde nach der Wende geschlossen, weil sich dafür kein Käufer fand, die Kaufhalle von Karl Mottmann schon bald darauf ebenfalls. Der Inhaber übernahm dann den kleinen Laden am Andreassteig. Aus der vierten Kaufhalle wurde dann ein EDEKA.

Ich selbst arbeitete noch bis 2006 in dem SPAR, dann wurde dort mehr und mehr eingespart und ich dann schließlich auch gekündigt. Ich war nicht besonders überrascht – man konnte schon eine ganze Weile spüren, dass es nicht mehr gut lief. Ich musste dann beim Arbeitsamt erstmal einen Computerlehrgang anfangen, fand aber schnell eine neue Arbeitsstelle bei Fleischer Dankert. Das war eine schöne Arbeit. 2016 wechselte ich dann zu Holz, weil der Fleischer in die Insolvenz ging. Ich wollte nicht in so einem großen Supermarkt arbeiten, ich mag es, wenn ein Laden eher familiär ist.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Frank Müller, Jahrgang 1964, Bahnhofskind, lebt bis heute in Bützow

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Meine inzwischen leider schon verstorbenen Eltern, Heinz und Waltraud, waren zu DDR-Zeiten beim Rat des Kreises tätig. Meine Mutter arbeitete in der Organisationsabteilung, später wurde sie Bürgermeisterin von Moisall. Heinz, mein Vater, war in den 1980er Jahren Bürgermeister in Warnow und danach, bis 1990, Bürgermeister von Zernin. Er fuhr dorthin meist mit dem Zug, wir wohnten ja in Bützow. Mein Vater war Sozialist durch und durch, ebenso wie meine Oma, die Staatsbürgerkundelehrerin. Unsinn zu machen, habe ich mich bei beiden nicht getraut. Meine Mutter habe ich oft an ihrem Arbeitsplatz besucht, der sich in einem inzwischen abgerissenen Gebäude befand, dem ehemaligen Frauengefängnis am Schlossplatz.

Meine Schulzeit verbrachte ich in der Kopernikusschule, die heute nicht mehr steht. Rechts im Schulgebäude befand sich die Unterstufe, links die Oberstufe - aber auch eine Zahnarztpraxis. Als die Schule später geschlossen wurde, habe ich zusammen mit anderen Mitgliedern des damaligen Heimatvereins die Sonnenuhr abgeholt, die sich am Schulgebäude befand. Die haben wir dann auf dem heutigen Schlossplatz wieder aufgebaut, mit dem Sockel und der Gravur M&M (der Abkürzung von Müller & Menter).

Nach der Schule haben wir immer auf dem Bolzplatz bei der AWG gespielt, da wo jetzt die Garagen stehen, in der Carl-Moltmann-Straße. Wir durften nicht in die Stadt gehen, zu den „Stadtscheißern“. Manchmal waren wir auch beim Bootsverleih und ruderten auf dem Bützower See. Oder wir haben Wertstoffe gesammelt und zur Sammelstelle gebracht – das Geld habe ich dann gespart.

Ich kann mich noch gut an die Gefangenen erinnern, die am Bahnhof große Kabelrollen verladen haben. Sie trugen braune Kleidung mit einem gelben Streifen. Ich konnte das aus meinem Kinderzimmer im ersten Stock der Bahnhofstraße 42 beobachten.

Nach meiner Schulzeit machte ich eine Ausbildung zum Landwirt – erst in Schwaan, später dann in Moisall. Aber an den Wochenenden kam ich immer nach Bützow: Freitagabend nahm ich den Bus dorthin, am Sonntagabend dann den Bus zurück nach Moisall zurück. Da hatte ich immer ein paar Lebensmittel im Gepäck, aber den Rest habe ich Moisaller Konsum gekauft. Es gab ja damals überall einen Konsum, auch in den kleinen Dörfern.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Jörg Quandt, Jahrgang 1961, lebt seit 1962 und bis heute in Bützow, war lange Jahre der Inhaber der „Penne“ und Bützower Stadtvertreter

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich bin geborener Güstrower, aber meine Eltern zogen schon am Ende meines ersten Lebensjahres nach Bützow, weil mein Vater aus Kurzen Trechow stammt und es ihn zurück in seine Heimat zog. Wir wohnten dann in der 4. Wallstraße. Mein Vater arbeitete als Dachdecker und meine Mutter war Leiterin der Kaufhalle. Und ich hatte noch einen drei Jahre jüngeren Bruder.

Ich erinnere mich noch, dass ich an einem Sommermorgen mit meinem damals dreijährigen Bruder und einem Nachbarsjungen zum Ströpern zum Hopfenwall ging. Dort gab es ein Loch in einem Gartenzaun. Wir machten es größer und schlüpften hindurch, in den dahinterliegenden Garten. Dort spielten wir den ganzen Tag und vergaßen vollständig die Zeit – bis es am Ende zehn Uhr abends war. Inzwischen suchte man uns schon überall, glaubte wir seien entführt worden. Als wir uns dann auf den Heimweg machten, weil es allmählich dunkel wurde, entdeckte uns ein Nachbar und lieferte uns zuhause ab. Das gab dann richtig Ärger – meine Eltern hatten schon tausend Ängste ausgestanden.

Aber grundsätzlich war es normal, dass wir nachmittags allein unterwegs waren. 18 Uhr mussten wir zuhause sein, sonst gab es Ärger. Meistens erinnerte uns der Pfiff meines Vaters daran, dass es jetzt Zeit war. Den hörte man bis hinten auf dem Sportplatz, wo wir oft spielten.

Pfaffenstraße, 4. Wallstraße, 5. Wallstraße und Kirchenstraße – die Kinder dort kannten sich und hielten zusammen. Viele davon kenne ich bis heute. Wir waren Jungs-Cliquen und haben uns auch gegenseitig gejagt, aber meistens haben wir gegen die Westenberger Gang gekämpft, die Kinder die in der 2. und 3. Wallstraße wohnten. Ich erinnere ich an einen Tag, als wir mit unserer Clique auf dem Wall waren und ein Klassenkamerad von mir vorbeikam, der zu der anderen Gang gehörte. Wir versteckten uns im Gebüsch, stürzten dann hervor, schnappten ihn und setzten ihn in einen Ameisenhaufen. Als ich am nächsten Morgen zur Schule kam, hatte ich natürlich ziemliche Bedenken, dass er sich rächen würde. Aber glücklicherweise blieb alles ruhig.

Wir waren auch immer mal in den Baracken in der Nähe des früheren Jugendclubs und des Schrottplatzes. Eines Tages kam ein Mädchen aus der 3. Wallstraße vorbei und wollte bei uns mitmachen. Das ging nur mit einer Mutprobe – mit einem von uns. Und der war ich. Diese Mutprobe bedeutete: alle Taschen mit Steinen füllen und alle Scheiben der Baracken einwerfen, in denen damals eine Versicherung saß. Und das morgens um zehn – während die Leute dort bei der Arbeit saßen. Die haben uns natürlich gejagt. Das Mädchen wurde erwischt, ich nicht. Ich rettete mich durch den Sumpf und kam dann entsprechend nass nach Hause, wo schon ein Freund auf mich wartete. Als ich ihm davon erzählte, machte er mir richtig Angst: Die Polizei würde mich finden, meine Eltern kämen dann ins Gefängnis. Also zog ich mir saubere Sachen an und ging zu den Baracken, wo inzwischen alle wieder ruhig bei der Arbeit saßen. Ich klopfte, ging hinein – und brach dann sofort in Tränen aus und beichtete meine Tat. Man hörte mich in Ruhe an und gab mir am Ende einen Zettel für meine Eltern mit, den ich auf dem Heimweg heimlich vergrub. Meine Eltern erfuhren nie etwas von der Sache, es gab auch keine weiteren Konsequenzen. Das Mädchen dagegen musste eine Strafe zahlen, die aber von der Versicherung übernommen wurde.

Mit den Mutproben haben wir trotzdem nicht aufgehört. Unser Revier waren die Altstadt und der Wall. Über den Wallgraben springen gehörte auch dazu: das klappte manchmal – und manchmal nicht. In der Nähe unseres Wohnhauses war damals eine Holzbrücke. Dort kam ich eines Abends vorbei und entdeckte drei Jungs, die gerade versuchten, die Brücke anzusägen. Die nahmen mich gleich in die Mangel: Wenn ich etwas erzählen würde, wäre ich dran. Also schwieg ich. Als am nächsten Tag einige unserer Lehrer die Brücke überquerten, vermutlich weil sie zur Schulspeisung in der Pfaffenstraße wollten, brach diese auseinander und fiel um. Natürlich suchte man die Täter – aber ich habe nichts verraten.

Und wir waren viel in den alten, verfalleneren Häusern in der Wallstraße unterwegs, in denen niemand mehr wohnte. Waren dort die Fenster zugenagelt, dauerte es nicht lange, bis wir die Bretter gelockert hatten und uns das Haus von innen anschauten. Das war immer spannend.

Als ältere Schüler haben wir dann oft heimlich geraucht. Einmal erwischte uns Dr. Schmidtbauer, unser damaliger Direktor. Da steckten die Raucher ihre Zigaretten schnell in die Jackentaschen – aus denen es dann qualmte. Nach der Schule war unser Treff eigentlich immer die Alte Badeanstalt. Dort spielten wir 17/4 und Knack, teilweise auch richtig um Geld – oder Tischtennis. Wir verbrachten viele Nachmittage dort, wenn wir nicht mit den Mopeds oder Fahrrädern durch die Gegend fuhren. Unsere Clique war immerhin so berüchtigt, dass einmal in der Stadtvertretung vor uns gewarnt wurde. Wir wären eine kriminelle Gruppe hieß es dort. Erstmal waren wir darüber ziemlich empört, aber andererseits war es auch ein bisschen schmeichelhaft. Denn wir haben ja tatsächlich auch viel Action gemacht in der Stadt.

An den Wochenenden unternahmen wir viel gemeinsam: Wir fuhren mit den Fahrrädern ins Warnowtal, mit über dreißig Leuten. Einmal machten wir dirt alle zusammen eine FKK-Wanderung, sogar nackt Volleyball haben wir gespielt. Das brachte uns prompt eine Anzeige ein, die aber im Sande verlief, weil man uns nichts beweisen konnte. Und auch sonst haben wir die Gegend gut erkundet.

Wenn an den Wochenenden mal ein Konzert in der Nähe stattfand, was ja nicht so oft der Fall war, waren wir natürlich auch dabei. Und wir waren ab und an im Kulturhaus Steinhagen, denn dort war alle vierzehn Tage Tanz. Also gingen wir dort zu Fuß hin und liefen anschließend auch zu Fuß wieder zurück. Der Rückweg kam mir immer wahnsinnig kurz vor – beflügelt vom Alkohol und mit reichlich Erzählstoff, nach dem erlebnisreichen Abend. Außerdem waren wir immer mal in Sternberg in der Disco. Einmal haben wir die Frau, die dort an der Bar arbeitete, tagsüber in Bützow getroffen. Auf Nachfrage erklärte sie uns, das sei hier die einzige Stadt, in der man vernünftig einkaufen könne – sogar besser als in Rostock. Das lag wohl auch daran, dass es hier so viel Einzelhandel gab. Der Inhaber des Kaufhauses fuhr damals immer persönlich nach Thüringen, um direkt vor Ort, in der Produktionsstätte, einzukaufen. Deshalb gab es bei ihm immer so viele Dinge, die man woanders nicht bekam.

Die Wendezeit in Bützow war unglaublich spannend. Es gab plötzlich keine Regeln mehr, wir konnten machen, was wir wollten. Ich war damals 28 Jahre alt und fing an Livemusik zu machen und Konzerte zu organisieren. Wir haben Bands aus Berlin nach Bützow geholt, die nach den Konzerten was Verrücktes erleben wollte. Mit denen sind wir teilweise auf dem Autodach sitzend durch die Gegend gefahren. Ich habe dann immer Blut und Wasser geschwitzt, denn in einer Kleinstadt wie Bützow fällt sowas auf und am nächsten Tag reden alle darüber. Aber insgesamt hat das viel Spaß gemacht. Die Veranstaltungen, der Kontakt zu den vielen Künstlern – das hat mich wirklich glücklich gemacht.

Als nach der Wende die SED-Kreisleitung aufgelöst wurde und deren Gebäude mit dem großen Saal leer wurde (heute ist dort der Polizeiparkplatz), ging ich zunächst zur PDS und dann zur Treuhand, um mich zu erkundigen, ob ich es mieten konnte. Und wir machten dann gleich einen Mietvertrag, auch wenn niemand von uns davon Ahnung hatte – die von der Treuhand nicht und ich auch nicht. 770 Mark Miete wollten sie damals dafür. Das war natürlich ein Witz, aber damals erschien mir das unglaublich viel. Nach zwei Jahren wurde der Treuhand klar, dass das viel zu wenig Geld war, für diesen riesigen Saal. Aber ich hatte einen zehnjährigen Mietvertrag, da konnten sie wenig machen. In den Räumen betrieb ich dann „Zur Penne“. Den Namen habe ich gewählt, weil ja gegenüber das Gymnasium war. In der „Penne“ konnte ich dann meinem Hobby frönen: Ich holte mir die Livemusiker, denen ich sonst hinterhergefahren war, einfach in meine Heimatstadt. Viele Bands schliefen dann auch bei mir zuhause, weil ich keine Hotels buchen wollte, um die Kosten zu sparen . Das waren ja unsichere Zeiten damals. Dadurch entstanden viele persönliche Beziehungen. Wir feierten nach den Konzerten meist noch in meiner Wohnung in der Bahnhofstraße. Das hatte sich nachher in Berlin schon rumgesprochen. Und so kamen dann Bands wie Cäsar und Renft nach Bützow. Gerhard Gundermann kam sogar drei Mal – total fetziger Typ, nur seine Band war ein bisschen anstrengend. Auch Damien Ball, der ehemalige Gitarreningenieur der Rolling Stones, war in Bützow und trat bei mir in der „Penne“ auf. Er fand Bützow so schön, dass er noch eine Woche blieb, zum Urlaubmachen.

Sogar Punkkonzerte hatten wir in der Zeit hier, mit 850 Leuten. Bei einem dieser Konzerte kreuzten einige Bützower Nazis vor dem Eingang auf und wollten Stunk machen. Daraufhin gingen dann einige der Punks vor die Tür, um zu zeigen, wie viele sie waren. Am Ende gab es dann eine richtige Straßenschlacht, bei der sich die Gegner mit Straßenpflaster bewarfen. Ich hatte das völlig falsch eingeschätzt, weil ich nicht mit dieser Gewaltbereitschaft gerechnet hatte. Das war doch eigentlich nur Punkmusik und meine private Veranstaltung. Ich bekam dann eine Abmahnung von der Stadtverwaltung, weil ich ja damals über eine ABM im Hauptamt für Kultur arbeitete, insgesamt vier Jahre lang. Außerdem bekam ich mehrmals nächtliche Anrufe mit Morddrohungen – man würde mich abstechen, wenn man mich in der Stadt sehen würde, und dergleichen mehr. Alles immer anonym. Daraufhin ging ich dann extra jeden Abend in die Kneipe. Wenn dort irgendwo Nazis am Tisch saßen, ging ich gezielt dort hin und sprach sie an: „Guten Abend, die Herren.“ Die wagten dann oft nicht mal, mich noch einmal anzusprechen. Ich kannte ja oft sogar ihre Eltern. Dass ich mit denen reden würde – davor hatten sie tatsächlich am meisten Angst. Dass man sich in einer Kleinstadt wie Bützow immer auch auf verschiedenen Ebenen wiederbegegnet, ist ja eigentlich etwas Gutes: Man kann Sachen regeln, weil man auch die Gemeinsamkeiten sieht, die einen trotz unterschiedlicher Meinungen verbinden.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Bernd Wagemeyer ,wurde 1959 in Rostock geboren, verbrachte aber seine ersten Lebensjahre in Bützow, der Heimat seiner Mutter, in der auch seine Großeltern lebten

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

In Bützow hatte meine Familie wichtige Wurzeln: Meine Großeltern lebten dort und meine Mutter ist dort aufgewachsen. Erst als erwachsene Frau zog sie nach Rostock, um dort als Hebamme zu arbeiten. Da sie sich, alleinerziehend im Schichtdienst, nicht wirklich gut um mich kümmern konnte, verbrachte ich meine ersten Lebensjahre bei unseren Verwandten, Achim und Else Giese, im Vierburgweg. Die anderen Kinder dachten natürlich, dass die Gieses meine Eltern sind und so wurde ich hier immer Bernd Giese gerufen. Und auch ich selbst habe zu den Gieses Mutti und Vati gesagt – ich hatte nun halt zwei Muttis. Meine Kinder nennen sie heute auch noch Öming und Öping. Mutti Giese konnte keine Kinder bekommen, sie waren froh, dass sie mich hatten.

Als dann meine Einschulung anstand, zog ich zurück zu meiner Mutter nach Rostock, verbrachte aber fast jedes Wochenende und meine Ferien in Bützow: ich wurde in den Bus gesetzt (ein AH-3 manchmal mit Hänger) und fuhr nach Bützow. Dann hieß es immer „Bützow Bahnhof, Endstation“. Später bin ich mit dem D-Zug gefahren und Schwaan umgestiegen – oder nahm den Bummelzug direkt nach Bützow. Wenn ich dort ankam, bekam ich erstmal etwas zu essen. Danach stiefelte ich zum Fritz-Reuter-Platz, dort war unser Treffpunkt. Wir spielten zusammen, ich vor allem mit meinem Freund Dieter Prief. Bei Regen spielten wir drinnen – aber daran kann ich mich kaum erinnern. Ich habe nur Erinnerungen an das gute Wetter. Und an das Zuckerbrot, dass es bei Janni Hennigs Mama gab.

Die Eltern von den Gieses wohnten neben Bäcker Strebelow. Der alte Herr Giese hatte bis in die 1970er Jahr einen Friseursalon – und fuhr außerdem noch mit dem Fahrrad ins Bützower Krankenhaus, um dort den Patienten die Haare zu schneiden. Er erzählte uns manchmal vom Afrikakorps, in dem sein Großonkel gewesen war. Das war was – richtig abenteuerlich. Aber natürlich hat er nur die Heldengeschichten erzählt

Auch bei Strebelows war ich öfter zu Gast, habe dort mit den beiden Jungs und dem Strebelow-Mädchen gespielt. Nur manchmal mussten wir leise sein, denn hieß es: “Der Bäckermeister schläft.“ Ich weiß noch, dass das Schlafzimmer hinten im Haus lag. Die Backstube war übern Hof, da haben wir immer mal zugeschaut, die die Gesellen diese vielen Brote auf den großen Brettern mit einer Hand nach vorne in den Laden trugen. Dort gab es an der Ladentür eine Glocke, die machte immer „bing bong“. Das war wir im Film. Und dort stand auch ein runder Marmortisch mit Metallfuß. Manchmal aß ich dort einen von diesen rot-weißen Kuchen, Amerikaner nannte man die. Im Laden arbeiteten Oma Engelhardt, Frau Strebelow, und die Hannelore, die Tochter der Familie.

Mein richtiger Opa, Alfred Knüddel, wohnte in der Gödenstraße 11. Er arbeitete als Maler bei Malermeister Jochens. Den haben sie immer geholt, wenn die Sprossenfenster im Rathaus gestrichen werden mussten. Dann hieß es: Hol mal den alten Knüddel – der hatte die Geduld. Er erzählte damals viel aus dem 1. Weltkrieg. Einmal wurden sie sprichwörtlich von der Front überrollt. Sie fanden einen Weinkeller und haben sie da unten betrunken. Als sie morgens aufwachte, sahen sie, dass in der Nacht die Gegner über das Land gezogen waren. Sie selbst waren unentdeckt und unversehrt geblieben. Dazu sagte er dann immer, natürlich auf platt. „Der Alkohol de hett mi mal dat Leven gerettet.“ Das war so abenteuerlich.

Es gab damals Bahnhofskinder und Stadtkinder - die Grenze war die Bahnhofsbrücke. Wir gingen im Sommer oft an die Badestelle an der Warnowbrücke, hinter dem Andreassteig. Da gab es eine Mutprobe: Man musste im Fluss untertauchen und in den Schlamm greifen. Später, als das Wasser abgelassen wurde, bei der Erneuerung der Schleuse, fand man dort Pistolen im Schlamm.

Albert Giese war der Schleusenwärter, deshalb durften wir immer an der Schleuse angeln. Die Schleuse wurde 1970/71 instandgesetzt. Damals wurde das Wasser abgelassen und wir konnten auf dem Grund langgehen. Dort fanden wir eine Kiste mit versiegelten Weinbrandflaschen – und auch Bajonette. Die Flaschen haben wir geköpft, um zu schauen was da drin war. Als wir rochen, dass das Weinbrand war, haben wir sie weggeworfen. Heute wäre das ein Vermögen wert. Außerdem war ich damals viel im Heimatmuseum im Schloss, bei Dr. Vorbeck. Und wir stöberten viel auf den Schrottplätzen herum. Und wenn wir dort alte Sachen fanden, gaben wir sie im Museum ab. Einmal haben wir sogar Münzprägestöcke gefunden, aber oft auch alte Dokumente und anderen alten Kram. Als Dank für unsere gesammelten Sachen durften wir im Museum alle Schubladen aufmachen, in dem Kabuff unten – und alles Schöne angucken. Der Schrottplatz war am Ende des Andreassteigs, bei der Kopernikus-Schule. Und im Heimatmuseum oben haben damals auch noch Leute gewohnt, obwohl das Gebäude schon ziemlich marode war.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als der Schacht der Ofenfabrik brannte. Es war ein sonniger Tag. Neben der Fabrik lag ja nur noch Tischler Höppner. Wie das gequalmt und gebrannt hat!

Uns als Kinder hat im Grunde immer alles interessiert, wo man rumgucken und rumstrobern konnte. Es tauchten dann weiße Porzellankugeln auf, mit denen wir auf der Straße spielten. Wie kleine Golfbälle sahen die aus. Wir durften uns halt nur nicht erwischen lassen. Wir haben auch Luftschutzkram gefunden, aber der wurde vom ABV Domke einkassiert. Und dann sind wir immer „Gefangene gucken gegangen“ am Bahnhof. An bestimmte Züge waren spezielle Wagen angehängt, mit denen die Gefangenen transportiert wurden. Sie trugen dunkle Gefangenenuniformen mit gelben Strichen und wurden von Hunden bewacht. Wir dachten natürlich, das wären alles Schwerverbrecher. Wir sind dann dicht an den Bahnhof gezogen, das war ja abenteuerlich und spannend. Einmal sahen wir die Insassen, die mit der Grünen Minna nach Dreibergen gefahren wurden. Der Bahnhof war auch sonst immer spannend, da war ich unheimlich gerne.

Als kleiner Butscher von vier oder fünf Jahren bin ich mal stiften gegangen. Ich stellte mich mit der Schiebkarre ans Tor und kletterte drüber, um mir die Dampfloks am Bahngleis anschauen. Wenn die ihren Dampf ausstieß, während wir dort spielten, haben wir uns immer vorgestellt, das wäre unsere Wolke. Da haben wir dann Flugzeug gespielt und sind durch die Wolken geflogen.

Das Sägewerk gehörte damals den Grimmes. Achim Giese, mein „Vati“, arbeitete dort als Heizer. Im Werk gab es riesige Dampfmaschinen, die hießen Lokomobile. Sie hatten ein riesengroßes Schwungrad und einen Transmissionsriemen, das war der Antrieb des Gatters. Ich habe damals, 1966, einen Schulaufsatz über Lurche und Frösche geschrieben, die im Winter in der Wasserlache unter der Dampfmaschine überwinterten. „Was ist das für ein Quatsch“, sagte die Lehrerin. Aber das war kein Quatsch, es gab sie wirklich.

Aus dem Sauerstoffwerk bekamen wir mal Trockeneis, ich weiß gar nicht, wer das besorgte hatte. Das füllten wir in Plaste-Essigflaschen. Die haben wir dann in die Warnow geschmissen – und irgendwann explodierten sie. Da kam dann die Wasserschutzpolizei, die damals hier noch mit dem Motorboot Streife fuhr. Die Polizisten dachten, das wäre Karbit, da im Wasser, auch weil es so an der Hand klebte, wenn man es anfasste. Da gab es tüchtig Ärger – und wir wurden natürlich aufgeschrieben.

Im Oberbauwerk wurden damals Langschienen produziert. Dort arbeiteten auch russische Soldaten, ich erinnere mich noch daran, dass die immer so viele Abzeichen hatten. Einmal verletzte sich einer der Soldaten, der suchte dann ein Krankenhaus und wir haben es ihnen gezeigt. Am nächsten Tag waren wir auf dem Hinterhof und aus den beiden Küchenfenstern, die zum Hof gingen, riefen Oma Prief und meine Mutti Giese: „Die Jungs haven nen Ivan gehulfen“ – auf Platt natürlich.

Die Soldaten wollten immer Hefte mit nackten Frauchen. Die haben wir besorgt und dann gegen Abzeichen eingetauscht. Wir waren auch manchmal in der Unterkunft. Da mussten wir uns mal unterm Bett verstecken, weil die Offiziere kamen. Die Heftchen haben wir von älteren Geschwistern stiebitzt. Manchmal konnte man die auch so kaufen – oder wir sammelten sie aus dem Altstoff.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Dr. Schmidtbauer, wurde 1928 in Berlin geboren und lebt seit 1954 in Bützow, lange Jahre Rektor des Bützower Gymnasiums

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Meine Großmutter und ich wurden 1943 aus Berlin, meiner Geburtsstadt, evakuiert. Nach dem Feuersturm auf Hamburg, der große Teile der Stadt vernichtete und 30.000 Todesopfer forderte, befürchtete man Ähnliches für Berlin. Meine Eltern mussten in Berlin bleiben, weil sie arbeitsfähige Personen waren. Meine Großmutter und ich gelangten über die Uckermark und Südmecklenburg schrittweise in den Norden. Damals sah ich, auf der Durchreise, zum ersten Mal den Bützower Bahnhof. Ein zweites Mal sah ich ihn dann 1947 auf der Fahrt von Wesenberg nach Schwerin, wo ich den Landesvorstand der FDJ aufsuchen wollte. Das war damals eine abenteuerliche Reise über Neustrelitz, Neubrandenburg, Güstrow und Laage. Dort stieg man dann in einen Zug um, der über Bützow nach Schwerin fuhr. Bei diesem zweiten Aufenthalt sah ich erneut diesen tollen, großen Bahnhof und war mir sicher: Bützow muss eine wunderschöne, interessante Stadt sein. Anfang der 1950er Jahre war ich mit dem Paddelboot die Warnow abwärts unterwegs – und sah Bützow ein drittes Mal, nun vom Wasser aus. Dieses Mal dachte ich: Was für eine tolle Kirche! Was für eine eindrucksvolle Schleuse! Ich sah die großen Speicher, die Mühle, die damals noch in Betrieb war. Ich sah das Eckhaus zwischen der Ersten Wallstraße und der Langen Straße, ebenfalls ein tolles Gebäude. Aber dann ging es auch schon weiter, Richtung Schwaan und Rostock.

Näher kennengelernt habe ich den Ort dann aber erst, als ich 1954 dort eine Stelle als Lehrer bekam. Ich war nach dem Krieg zunächst Neulehrer in Parchim gewesen und hatte dann an der Pädagogischen Hochschule Potsdam ein Pädagogikstudium absolviert. Nun stand meine erste Anstellung an. Ich konnte zwischen Güstrow und Bützow wählen – und entschied mich für Bützow, weil es klein und gemütlich wirkte. Ich kam auf dem Bahnhof an. Und nahm natürlich an, nun direkt in der Stadt zu sein, bis mir eine mitleidige Seele erklärte, dass noch ein längerer Weg vor mir lag, bis in die Innenstadt. Ich lief über die Brücke aus Holz, einen langen, staubigen, nicht gepflasterten Weg entlang, den Gummiweg. Schließlich landete ich in ein kleines, geducktes Städtchen. Meine neue Arbeitsstelle befand sich in einer der vier Baracken am Wall, in der Nähe des Sportplatzes. Dort war damals der Rat des Kreises untergebracht. Das war dann schon ein kleiner Kulturschock. Ich meldete mich bei der Verwaltung an und ging dann zur Kaderabteilung, weil ich ja eine Unterkunft brauchte. „Tja“, lautete die Antwort: „damit sieht es eher schlecht aus. Wir sind ja gerade erst ein neuer Kreis geworden. Wohnungen haben wir derzeit nicht. Sie müssen also erstmal im Hotel wohnen, die Kosten dafür übernehmen wir.“

Also bezog ich ein Zimmerchen im Hotel Schmidt, das heute „Stadt Bützow“ heißt. Dort wurde ich gleich erstmal krank, ein richtig schöner grippaler Infekt - das war kein wirklich toller Start. Nach einer Weile wurde mir dann ein Zimmer in der Kirchenstraße 6 zugewiesen, bei einer Frau Kenk. Ihre Wohnung bestand aus einem Vorderzimmer, dass sie selbst bewohnte, und meiner Kammer auf der Hofseite, mit einem Fenster in die Küche hinein, ohne Licht und ohne Luft. Die Küche durfte ich mitbenutzen, ebenso wie das Plumpsklo auf dem Hof. So spärlich es war, war es aber ja nun immerhin meins – dachte ich. Bis mir Frau Kenk mitteilte, dass ich am Samstag und Sonntag nicht dort sein dürfe, weil sie dann Gäste bekam. So stand ich, ein inzwischen 26jähriger Mann, an den Wochenenden ohne Bleibe da. Ich stellte schnell fest, dass es in Bützow mehrere Menschen gab, die mein Schicksal teilten – und so entstand sehr bald ein großer, runder Tisch im „Hotel Schmidt“. Dort verbrachten wir dann, in meinen ersten Monaten in Bützow, gemeinsam unsere Wochenenden.

Mit der Bützower Bevölkerung hatte ich damals wenig zu tun. Daran änderte auch mein Beruf nichts, denn ich wurde gleich als Kreisreferent für Lehrerbildung eingesetzt. Hier kam ich dann fast ausschließlich mit den Lehrerinnen und Lehrern des Kreises und den Mitarbeitern der Kreisverwaltung in Kontakt. Damals war es üblich, dass man mit diesem Amt auch die Verantwortung für eine LPG übernehmen musste, egal wie weit das vom eigenen Fachgebiet entfernt war. „Du kommst vom Land, Du wirst doch wohl Ahnung von Landwirtschaft haben“, hieß es dann einfach. Und schon war ich in Wokrent mit der Überwachung der Frühjahrsbestellung betraut. Damals war dort ein alter Bauer LPG-Vorsitzender, bei dem meldete ich mich. Er zeigte mir die Maschinen, mit denen dort gearbeitet wurde – kleine Mäher und dergleichen. Er war erst ziemlich skeptisch. Aber als er feststellte, dass ich von diesen Maschinen durchaus ein bisschen Ahnung hatte, veränderte sich die Situation. Schon bald fuhr ich mit aufs Feld und half bei den Arbeiten.

Die Besetzung der neuen Schulkreisverwaltung lief damals noch sehr „auf Zuruf“: Man brauchte einen Schulrat und wählte einen der Lehrer dafür aus, einen zweiten als seinen Stellvertreter. Beide warfen schon nach einem Jahr die Flinte ins Korn – die Arbeit war ihnen zu schwer, sie wollten lieber wieder selbst unterrichten. Als eines Tages das Ministerium für Volksbildung aus Berlin anrief, sprach es mit der damaligen Sekretärin des Schulamtes, der sehr kompetenten Frau Eichhorn, auch Eichhörnchen genannt. Man verlangte, den Schulrat zu sprechen. Frau Eichhorn antwortete, dass es derzeit keinen gäbe. Daraufhin wollte man den stellvertretenden Schulrat sprechen – aber auch den gab es nicht. Schließlich verlangte man den Schulinspektor, nun hieß es: „Der ist im Kreis unterwegs.“ Das machte natürlich die Runde, alle lachten darüber, aber es musste natürlich eine Lösung gefunden werden. Bald darauf gab es einen neuen Schulrat, bei dem ich mich dann, gerade in Bützow angekommen, vorstellte. Er teilte mir mit, dass heute sein letzter Tag vor dem Urlaub sei und es nun meine Aufgabe sei, die Lehrerkonferenz zum Schuljahresbeginn vorzubereiten. Das schloss auch ein Referat mit ein, das eigentlich der Schulinspektor planen sollte. Aber auch der war schon im Urlaub und würde erst zwei Tage vor der Konferenz zurückkommen Da saß ich also, 26 Jahre jung, ohne jede Kenntnis über den Kreis, vor 40 Schulleitern und eröffnete mit ihnen das Schuljahr. Wie das gelang, ist mir bis heute unklar – aber am Ende haben wir es irgendwie hinbekommen.

Es war also keine leichte Anfangszeit. Damals träumte ich noch davon, an die Uni zu gehen. Aber je mehr ich mit meinem Amt vertraut wurde, je mehr ich auch die Vorzüge und Freiheiten meiner Stelle erlebte (der Schulrat ließ uns wirklich an der langen Leine, unterstützte die meisten Vorschläge und ließ uns machen), desto mehr wusste ich meine Arbeit zu schätzen.

Als ich als 26jähriger nach Bützow kam, dachte ich allmählich auch daran, eine eigene Familie zu gründen. Ich war dann tatsächlich auch kurze Zeit mit einer Bützowerin verlobt, aber die Beziehung zerbrach daran, dass sie überzeugte Christin war und ich mit Religion eher fremdelte. Meine spätere Frau lernte ich dann während eines Urlaubs in Zingst kennen. Wir heirateten bald darauf und sie zog mit mir nach Bützow.

Politisch engagiert habe ich mich zu DDR-Zeiten nur eine Legislaturperiode lang. Es war mir dann einfach zu langweilig, man konnte ja nichts gestalten, sondern nur Dinge zur Kenntnis nehmen. Die Haushaltsplanung für die Stadt war bereits fertig vorgegeben, die der Schule ebenso. Mit den bereitstehenden Budgets, abgesehen von den Gehältern, konnte die Schule selbst wirtschaften, da redete einem keiner rein. Aber nach der Wende, 1990, kandidierte ich dann für die Stadtvertretung.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Peter Müller, Jahrgang 1943, lebt bis heute in Bützow

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich wurde 1943 in Botin geboren. Nach einer Hausgeburt, die drei Tage dauerte, kam ich als 10-Pfund-Kind zur Welt. Nach meiner Schulzeit, 1958, wollte ich bei Herrn Stahlfast eine Ausbildung beginnen. Leider hatte er eine Stunde bevor wir dort anfragten, schon einen Lehrling eingestellt. Also begann ich dann in Löbsin eine Lehre als Landmaschinen-Traktoren-Schlosser. In diesem Beruf war ich viele Jahre tätig, beim Betrieb für Landtechnik in Steinhagen. Außerdem habe ich, zusammen mit Kollegen, als Feierabendbrigade viele Dinge in Bützow mitgebaut. Dazu gehörte unter anderem die Bushaltestelle am Pferdemarkt, der damals Otto-Grotewohl-Platz hieß. Ich wurde damals von Stadtrat Krüger gefragt, ob wir dort eine Bushaltestelle bauen könnten, als Feierabendarbeit. Wir kamen dann mit großem Gerät und bauten dann mit viel Aufwand, Stahl und Alublech eine große Bushaltestelle – an zwei Abenden. Das missfiel aber der Kreisleitung der SED, die dann unseren Direktor dafür rügte, das wir solche Arbeiten nach Feierabend übernehmen, wenn wir doch gleichzeitig Planschulden haben. Also musste ich zu unserem Direktor, dem ich versicherte, dass das eine gute Tat für die Stadt Bützow gewesen war. Trotzdem versprach ich ihm, dass wir die Planschulden aufholen würden – das solle er so an die Kreisleitung melden, was er dann auch tat. Mit Stadtrat Krüger dagegen tranken wir nach getaner Arbeit einen Wodka, als Belohnung für unsere Hilfe.

Neben der Sparkasse in Bützow (sie befand sich dort, wo heute der Parkplatz ist) haben wir mit unserer Feierabendbrigade einen Bratwurststand aufgebaut, an dem dann Bockwurst und Bratwurst verkauft wurden. Am Kaufhaus Hollien und oben an der Tankstelle (dort wo jetzt die Bäckerei ist), errichteten wir damals mit unserer Feierabendbrigade zwei Ampeln. Eine davon, die am Kaufhaus Hollien, gibt es heute nicht mehr. Die andere steht bis heute. Und wir haben damals auch viel am Kulturhaus in Steinhagen gearbeitet – immer von fünf bis sieben Uhr morgens, also vor unserer regulären Arbeit.

1982 wurde ich dann Chef der Berufsausbildung. Wir bildeten Wirtschaftskaufleute aus, aber auch Maschinen-Traktorenschlosser. Insgesamt gab es bei uns 64 Lehrlinge. Mehr als die Hälfte kam aus den LPGs der Region. In der Zeit war ich auch dafür zuständig, den Gabelstapler der Möbelwerke am Laufen zu halten. Dazu musste ich einen guten Kontakt zum Gabelstaplerbetrieb in Leipzig pflegen. Rief ich dort an, weil ich ein Ersatzteil brauchte, ließ mich der Kollege dort schon am Telefon wissen, was ich mitbringen müsste, damit er mich beliefert. Hasenpfeffer, also Wildfleisch, war damals eine beliebte Währung.

Als die Wende kam, waren die Eltern unserer Lehrlinge alle hochbesorgt, wie es weitergehen würde. Aber wir bildeten weiter aus, jetzt auch Maurer, Tischler, Gas-Wasser-Installateure und Maler. Dazu bauten wir die ehemaligen Garagen der Kampfgruppen zum Ausbildungsort um. Außerdem hatten wir ja noch die Werkstätten in Steinhagen. Wir beantragten 1,2 Millionen Fördergelder, weil uns der damalige Innenminister diese vollmundig versprochen hatte. Er traute uns die Beantragung nicht zu, das sagte er sogar öffentlich, aber wir schafften das und bekamen dann das Geld - allerdings vom Wirtschaftsministerium. Da war es unser Glück, dass Karin Reimers uns mit den Geldern half. Wir wären sonst mit der Verwaltung vollkommen überfordert gewesen und hätten alles wieder zurückzahlen müssen. Sie fand ein ziemliches Chaos vor, arbeitete aber alles ein Jahr rückwirkend auf. Aber am Ende war alles ordnungsgemäß abgerechnet.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Karin Reimers, Jahrgang 1941, geboren Wichmann, ist in Bützow geboren und hat immer hier gelebt

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich kam in Bützow, im Ziegelhofweg 13, auf die Welt, in dem Haus, das von meinem Großvater gebaut wurde und bis heute meiner Familie gehört. Inzwischen wohnt meine Nichte dort. Meine Mutter ist Bützowerin, mein Vater kam aus Szczecin.

Meine Lehre machte ich bei den Bützower Möbelwerken, in denen damals die Anbauwände der „Bützow“-Serien gebaut wurden. Es war damals, Ende der 1950er Jahre, gar nicht so leicht, eine Lehrstelle zu finden. Da half es, dass meine Mutter dort in der Produktion arbeitete und ich eben ein Arbeiterkind war. Ich wurde dort dann drei Jahre lang zum Industriekaufmann ausgebildet, als einziger Lehrling in einem Büro mit acht Mitarbeitern. Zum Berechnen der Löhne fuhren wir immer nach Güstrow in die Pädagogische Hochschule, dort stand eine große Rechenmaschine. Hatten wir die Berechnungen von dort erhalten, setzten wir uns damit in den Möbelwerken oben an den großen runden Tisch, um das Geld in die Lohntüten zu füllen. Einer zählte, ein zweiter zählte nach, bis der Gesamtbetrag dann verteilt war, ohne dass etwas fehlte oder übrigblieb. Das Geld holte ich vorher in einem Geldbeutel von der Bank ab. Einmal ging ich auf dem Rückweg noch kurz in den Schuhladen von Frau Paul, um mir ein paar neue Schuhe auszusuchen. Dort vergaß ich dann den Beutel mit dem Geld unter dem Anprobestuhl. Als ich das bemerkte, erschrak ich mich wirklich sehr. Aber ich hatte Glück – der Beutel stand da noch, als ich zurückkam.

Damals gab es von Bützow aus einen Bus, der nach Rostock zum Theater fuhr. Ich als Lehrling war dafür zuständig, die dreißig Theaterkarten zu verteilen – so viele Plätze hatte der Bus und er war immer voll. Das hat mir immer viel Spaß gemacht und brachte Abwechslung.

Zu den Möbelwerken gehörten damals auch das Sägewerk am Stadtrand und die Innenkunst in der Innenstadt. Bei Innenkunst wurden Einzelanfertigungen entgegengenommen, für die Rostocker Professoren. Zwei Frauen nahmen die Wünsche der Kunden auf, ein technischer Zeichner machte dann die Zeichnungen, auf deren Grundlage gebaut wurde. Anfangs wurden dort sogar noch Polstermöbel hergestellt, in der Polsterei unter dem Dach, die man über eine Hühnerleiter erreichen konnte. Die Sachen, die bei Innenkunst entstanden sind, waren schon damals teuer und werden bis heute zu hohen Preisen gehandelt. Bevor die Innenkunst von der DDR betrieben wurde, hieß das Geschäft Kröplin.

Als ich meinen Abschluss bei den Möbelwerken gemacht hatte, konnte ich dort nicht bleiben, aber damals bekam man ja dann trotzdem sicher eine Stelle. Ich arbeitete dann bei der Konsumverwaltung – mein Vater war damals in der Kaderabteilung beim Konsum und vermittelte mir den Job. Dort saß ich mit vier Leuten im Vorzimmer und war für Planung und Statistik zuständig, verwaltete also die Umsätze der Verkaufsstellen. Außerdem musste ich in die Verkaufsstellen in den Dörfern fahren, um dort Kontrollen durchzuführen, „auf Bruch und Schwund“ wie es damals hieß. Ich prüfte also, welche Waren kaputtgegangen oder verdorben waren. Und all das mit dem Bus. Deshalb saß ich dann oft lange an irgendwelchen Dorfbushaltestellen und wartete auf den nächsten Bus, der zurück nach Bützow fuhr.

Die Verteilung der Lebensmittel lief über Anträge der einzelnen Verkaufsstellen: Die Verkaufsstellenleiter schätzten ab, was gebraucht wurde, auf der Basis ihrer Erfahrungen. Anschreiben lassen durfte man damals noch, bis zum Ende der Woche, wenn die nächste Lohntüte kam. Da war genug Vertrauen da.

Später wechselte ich vom Konsum ins Gesundheitswesen. Nun arbeitete ich in der Baracke vor dem Krankenhaus. Da war ich viele Jahre, die Arbeit machte mir Spaß. Aber irgendwann dachte ich: Das kann es noch nicht gewesen sein. Ich bewarb mich in Potsdam zum Ökonomiestudium. Nun musste ich an zwei Tagen pro Woche nach Potsdam fahren, also sehr früh aufstehen, weil ich mit dem Zug anreisen und schon um 9 Uhr dort sein musste. Am zweiten Tag ging es dann abends zurück, da war ich dann nachts um zwei zuhause. Einmal kam ich deshalb zu spät zur Arbeit, weil ich verschlafen hatte. Aber mein Chef nahm mich in Schutz, er verstand, was das für eine Kraftanstrengung war. Trotzdem hat mir das Studium sehr gefallen – und Potsdam auch, eine wirklich schöne Stadt.

Ziel des Studiums war auch, eine Planstelle zu bekommen, die mit einem höheren Gehalt verbunden war. Hundert Mark mehr waren zu DDR-Zeiten eine Menge Geld. Also wechselte ich Anfang der 1980er Jahre, nach dem Ende des Studiums, zurück zu den Möbelwerken. Und obwohl ich Jahre weg gewesen da, erkannten mich viele Mitarbeiter wieder. Ich arbeitete dort wieder in der Planung. Das war und blieb einfach mein Metier – mit Zahlen habe ich mich immer wohlgefühlt. Ich war jetzt für die Überwachung der Produktionspläne zuständig. Dass ich später sogar Direktorin für Ökonomie werden würde, war damals noch nicht absehbar. Werksleiter gab es damals ja drei: Je einen für die Serienproduktion, die Innenkunst und das Sägewerk. Als der alte Werkleiter für die Serienproduktion ging, übernahm ich die Steller erstmal provisorisch – und später dann dauerhaft.

Damals arbeiteten mehr als 400 Leute in den Möbelwerken. Und es gab einen regelrechten Wettbewerb der Schichten untereinander. Jede Schicht wollte die bessere sein. In den Werken wurden mehrere Modelle hergestellt: Fünf verschiedene Modelle der Linie Bützow gab es im Laufe der Zeit. Die wurden alle von der Innenkunst Bützow entworfen. Die Herstellung war teilweise wirklich harte Arbeit, vor allem das Hantieren mit den großen Platten. Das wurde deshalb auch am besten bezahlt. Die Möbel wurden aus mit Furnier beklebten Platten hergestellt – dafür gab es eine riesige Furnierpresse, eine Leimauftragsmaschine. Die Platten bestanden aus einer Art Pressholz. Sie wurden aus Ribnitz angeliefert. Ein Teil der Produktion ging dann auch ins sogenannte nichtsozialistische Ausland, dafür bekam der Betrieb dann Bonuszahlungen, weil er zur Devisenbeschaffung beitrug. In manchen Jahren produzierten wir nur für den Westen. Als Ostdeutscher brauchte man gute Beziehungen, um von den Bützower Möbeln etwas abzubekommen – am besten einen guten Draht zur Betriebsleitung oder zur Kreisleitung.

Ich fuhr auch mehrfach zur Leipziger Messe, wo wir unsere aktuelle Produktion am Stand „VEB Möbelwerke Ernst Mundt“ vorstellten. Dort trafen wir auch auf Menschen aus den nichtsozialistischen Ländern (NSW). Für diese Begegnungen waren wir extra geschult worden. Wir waren da durchaus selbstbewusst, stolz auf das, was wir geschaffen hatten. Es lief gut, wir hatten keinerlei Absatzprobleme. Auf der Messe nahmen wir die Vertragswünsche auf und gaben das dann an übergeordnete Abteilungen weiter.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Karl-Heinz Stahlfast, wurde 1933 in Bützow geboren und lebt bis heute dort

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Mein Vater ist ja Bützower, aber meine Mutter kam 1914 aus dem Lippeschen, der Gegend um den Teutoburger Wald, nach Mecklenburg. Die Familie suchte nach eigenem Grund und Boden – und den gab es hier. Also zog sie mit insgesamt sechs Kindern nach Rühn, wo sie ein Gehöft übernehmen konnten. 1918 verkaufte die Familie die Bauernstelle aber wieder und zog nach Bützow, in die Bahnhofsstraße, in das Gebäude neben dem Berliner Haus. Und in Bützow lernte meine Mutter dann meinen Vater kennen. Sie war damals noch Lehrling für Buchhaltung im Holzverarbeitungsbetrieb Hofmann. Der Inhaber verließ jedoch schon kurz nach dem 1. Weltkrieg die Stadt. Also wechselte sie in das von der Familie Grimme betriebene Sägewerk und arbeitete dort im Büro. Herr Grimme, der Inhaber, war recht umtriebig, kümmerte sich viel und machte auch vieles selbst. Einmal kam Herr Teckel zu ihm, der Bützower Pferdeschlächter aus der ersten Wallstraße, um Sägemehl zum Räuchern zu holen. Er nahm nur einen kleineren Beutel voll mit, aber trotzdem wollte Herr Grimme fünfzig Pfennige dafür haben. „Sack ist Sack“, lautete die Begründung, egal ob dieser groß oder klein sei. Also kam Herr Teckel beim nächsten Mal mit einem so großen Sack, dass ihn drei Leute aufladen mussten. Und bestand darauf, dass auch der nur 50 Pfennige kosten dürfe. Das fand Herr Grimme gar nicht lustig und regte sich bei meiner Mutter sehr darüber auf. Ab sofort verkaufte er das Sägemehl nur noch nach Gewicht.

Ich selbst wurde 1933 in der Villa geboren, in der auch der Fabrikant Grimme wohnte, per Hausgeburt, wie später auch meine Geschwister. Da meine Mutter schon kurz darauf wieder arbeiten ging, kümmerte sich ihre jüngste Schwester um mich. In den Jahren 1936, 1939 und 1941 wurden dann meine Geschwister geboren.

Mein Vater machte sich zum 1.1.1935 mit einer Maschinenreparaturwerkstadt selbständig, zusammen mit einem Kompagnon. Grübbel und Stahlfast hieß die Firma zu dieser Zeit. Dann musste er in den Krieg, kam aber 1940 zurück, weil man ihn für kriegsuntauglich erklärt hatte. Er einigte sich dann mit Herrn Grübbel und führte die Firma alleine weiter: Das war die Geburtsstunde der Eisen- und Stahlschmiede zu Bützow, geführt von der Familie Stahlfast.

Bei uns im Betrieb gab es auch französische Kriegsgefangene. Von 1916 bis 1920 war mein Vater in französischer Gefangenschaft, deshalb sprach er Französisch. Die Kriegsgefangenen, es waren insgesamt fünf, wohnten gegenüber vom Bahnübergang, auf der linken Seite. Als sich 1945 die Niederlage der Nazis abzeichnete, wollten sie in mit nach Frankreich nehmen, um ihn so in Sicherheit zu bringen. Aber mein Vater weigerte sich. Er gab ihnen noch einen großen Ziehwagen und Marschverpflegung mit. Wir hatten eigentlich alles schon gepackt, um vor den Russen zu fliehen, die damals schon bei Anklam standen. Aber mein Vater sagte, er habe keine Veranlassung wegzugehen. Er sei in keiner Partei gewesen und werde als Handwerker immer gebraucht.

Zum Kriegsende war der Bützower Bahnhof voll mit Menschen, die aus dem Osten gekommen waren – und nun nicht weiterkonnte. Das lag auch daran, dass die sich zurückziehenden deutschen Truppen auch die Eisenbahnbrücke gesprengt hatten. Außerdem hatten sie Teile der Zugstrecke demontiert.

1953 mussten wir aus der Villa der Familie Grimme ausziehen und zogen in das Haus der Familie Schacht, das früher der Familie Josephy gehört hatte. Dort lebten allerdings nur noch Mutter und Tochter Schacht, denn der Vater wurde 1945 erschossen, als er seine Tochter vor den Russen beschützen wollte. Die Frau führte den Betrieb alleine weiter, eine couragierte und verständnisvolle Frau.

Ich war bei unserem Einzug in das Haus schon fast zwanzig Jahre alt. Im Vorgarten des Hauses stand ein kleiner Verschlag. In dem saß die Vermieterin und beobachtete ganz genau, wer am Bahnhof nach Bützow hereinkam. In der Villa der Familie Schacht gab es in den Nachkriegsjahren längere Zeit eine Zwangsvermietung: Oben im Dachgeschoss wohnten zwei Flüchtlingsfamilien und auf der mittleren Etage eine dritte, Familie Sawlowski. Die Wohnung von Frau Schacht war für damalige Verhältnisse sehr schick eingerichtet. Die Wände waren „gefilzt“, also mit einem mit Filz bespannten Reibbrett geglättet – dadurch waren sie ganz besonders glatt.

Als mein Vater das Werk aufgeben wollte, weil er in Rente ging, war klar, dass ich die Nachfolge antreten würde. Ich hatte 1947 die Schule verlassen, um das Arbeiten im Unternehmen von der Pieke auf zu lernen. Vorher war ich in die Ferdinand-Freiligrath-Schule gegangen. Dort blieb man dann bis zum Mittag, dann fuhren wir mit unseren Rädern nach Hause, zum Mittagessen bei meiner Mutter.

1986 heiratete ich meine Frau, Erika. Sie brachte zwei Kinder mit in die Familie, aus ihrer ersten Ehe mit einem Lehrer, wegen dem sie eigentlich mal nach Bützow gezogen. Wir hatten vorher schon eine ganze Weile in wilder Ehe gewohnt, nach der Hochzeit adoptierte ich die beiden Kinder dann. Die Hochzeit fand in Güstrow statt, im ganz kleinen Kreis, nur die engste Familie.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Ilse Mildner, Jahrgang 1933, wurde in Zernin geboren und war ihr ganzes Berufsleben lang im Bützower Einzelhandel tätig

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

1948 ging ich, als damals Vierzehnjährige, im Kaufhaus Ramelow in die Lehre. Das Kaufhaus war nach seinem damaligen Inhaber benannt, Gustav Ramelow. Kennengelernt habe ich allerdings nur seine Frau, die uns während meiner Lehrzeit einmal im Kaufhaus besuchte. Die Familie hatte ja mehrere Filialen und lebte also selbst nicht in Bützow. Der Chef des Bützower Kaufhauses war Herr Lange. Sie kam also zu uns, ganz schicke Dame, toll gekleidet. Ich wischte gerade Staub und wurde ihr nur kurz als „das ist unser jüngster Stift“ vorgestellt. Sie grüßte mich nicht mal, sondern ging einfach weiter. Das hat mich schon gekränkt, weil ich es als herablassend empfand.

Aber grundsätzlich war ich sehr froh über diese Lehrstelle, weil es damals wirklich schwierig war, eine zu bekommen. Diese hier hatte mir das Arbeitsamt vermittelt. Ich hätte auch bei Hollien arbeiten können, aber da war es mir zu duster. Im ersten Lehrjahr bekam ich fünf Mark pro Monat, immer am Monatsende bar ausgezahlt.

Das Kaufhaus sah natürlich damals noch ganz anders aus – der Laden ging nur bis hinter die Treppe im Erdgeschoss und war dort durch einen schweren Vorhang vom Rest des Gebäudes abgetrennt. Rechts neben dem Eingang befand sich die Kurzwarenabteilung, da bekam man also Knöpfe, Schnallen, Nähgarn, Portemonnaies, Schnittmuster und dergleichen mehr. Damals war das eine wichtige Abteilung, weil alle Leute noch viel selbst nähten. Für die Verkäuferinnen war vor allem der Verkauf von Knöpfen eine echte Herausforderung, weil deren Preise immer im Dutzend angegeben waren. Kam dann die Schneiderin und brauchte acht Knöpfe, musste man das genau ausrechnen und dann erst in die Kasse eintragen. Alles was wir ausrechneten wurde von Fräulein Gläser nochmal nachgerechnet. Dieses Nachrechnen war eine ihrer Aufgaben im Kaufhaus. Wenn man sich verrechnet hatte, war das immer ziemlich furchtbar und gab echt Ärger. Auf der anderen Seite des Kaufhauses gab es das, was man sonst noch so hatte - 1948 war das ja nicht viel.

Als das Kaufhaus nach der Verstaatlichung vergrößert wurde, verschwand der Vorhang und ein großer Verkaufsraum mit Abteilungen entstand. Gleich wenn man durch die große Tür kam, war rechts die Kurzwarenabteilung, die Wichtigste. In Bützow gab es viele Schneider und Schneiderinnen und Schneiderkurse. Es wurde sehr viel genäht und zwar sehr gut, möchte ich betonen, weil es damals einen anderen Ärmelschnitt gab, die Kleidung saß besser. Und war natürlich teurer, denn die Anfertigung dauerte länger. Außerdem gab es im Kaufhaus nun noch folgende Abteilungen:

1. Die Abteilung „Meterware“, in der Stoffe jeglicher Art verkauft wurden: Anzug-, Mantel- und Kleiderstoffe, aufgerollt auf dicke Papierrollen. Dort arbeitete Herr Düwe, der Herr der Stoffe. Beim Verkauf gab man sich viel Mühe. Bei Unentschlossenen wurde der Ballen gekonnt abgerollt und dem Kunden über die Schulter gelegt, damit er den Stoff im Spiegel sehen konnte.

2. Die Gardinenabteilung: Damals war sie ganz wichtig – ein schöner Blickfang von innen und außen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, diese Wichtigkeit!

In der 1. Wallstraße wohnte damals Frau Wolff. Sie war Bestatterin oder eher Leicheneinkleiderin. Sie wurde ganz diskret bedient. Sie brauchte auch Bezüge für Kopfkissen aus festem Papier, außerdem ein Hemd mit Ärmeln und Kragen und eine Decke. Kopfkissen und Decke waren kunstvoll mit weißem Seidengarn bestickt. So konnten die Verstorbenen würdig verabschiedet werden.

Eine Treppe höher lag links die Wohnung der Familie des Chefs. In der Mitte war ein Lichthof mit einem Geländer davor. An der Fensterseite saßen Näherinnen, sogar eine Schneidermeisterin war dabei. Ganz oben war eine Federreinigung. Federvieh gab es reichlich auf den Dörfern. Alte Federn wurden gereinigt und neue kamen dazu. Oder es gab ein neues Inlett, dann war alles neu. Einmal gab es ganz große Aufregung: Herr Wiechmann, Herr der Federn, hatte vergessen eine Klappe zu schließen – und die Stadt war befedert. Da gab’s auf verschiedenen Ebenen Ärger.

Als Anfang der 1950er Jahre das erste Weltjugendtreffen in Berlin stattfand, gab es im Kaufhaus die erste FDJ-Kleidung. Die war für das Weltjugendtreffen gedacht. Ich bekam Lust, bei dem Treffen dabei zu sein. Das Kaufhaus erlaubte es und ich wurde bei den Kindergärtnerinnen eingeteilt. Die haben dann ein Auge auf mich gehabt, ich war die Jüngste in der Gruppe.

Da Kaufhaus hieß nun Mecklenburgisches Kaufhaus. Da kam dann eines Tages ein junger Mann, der mit „dem Lehrling“ sprechen wollte, also mit mir. Er wollte dann wissen, welche Arbeiten mir übertragen wurden – und das waren auch tatsächlich eine ganze Menge, aber eben kein Verkauf. Im ersten Jahr habe ich nur saubergemacht, Ware sortiert und mit im Keller gelagerten Paraffin Lichter gegossen. Dazu musste ich mit einem heißen Topf auf dem Ofen das Paraffin schmelzen und umfüllen, das spritzte jedes Mal und verdarb meine Kleider. Meine Mutter war darüber schon echt sauer. Aber wir brauchten diese Lichter, weil es so oft Stromsperren gab - aber keine Kerzen zu kaufen. Glücklicherweise wussten wir ja immer, wann der Strom abgeschaltet wurde – das war jeden Tag zu einer bestimmten Zeit, in ganz Mecklenburg. Der junge Mann hörte sich meine Schilderungen an und versprach, dass sich die Situation nun ändern würde: Der Lehrling musste mit in die normale Arbeit eingebunden werden und nicht nur Hilfsarbeiten machen. Und so kam es dann auch. Damals sind aber alle so mit den Lehrlingen umgegangen, vor allem im ersten Lehrjahr. Und ein Abbruch der Lehre war damals undenkbar. Allein eine Lehrstelle zu haben, war ja schon ein großes Glück. Dann bekam man auch Gehalt.

Während der Ausbildung musste ich ja auch regelmäßig zur Kaufmannsschule. Die befand sich in der ersten Zeit in Kronskamp bei Brühl, mitten im Wald. Wir hatten dort sechs Wochen am Stück Schule und durften in dieser Zeit auch nicht nach Hause fahren. Später besuchte ich dann die Kaufmannsschule in Güstrow. An den Schulen lernten wir alles, was man zum Verkaufen brauchte: Buchführung, Abrechnung, aber auch Verkaufsgespräche. Meinen Abschluss habe ich dann mit der Note 2 gemacht. Die praktische Prüfung, die ich dafür ablegen musste, musste ich nicht an meinem Lehrort, sondern im Kaufhaus in Güstrow ablegen.

Als das Kaufhaus nach der Verstaatlichung vergrößert wurde, der Vorhang im hinteren Bereich verschwand, kamen neue Produkte hinzu – unter anderem ein Gardinenlager. Ich selbst arbeitete dann in der Kinderabteilung. Am Beiseitelegen von Waren für bestimmte Kunden beteiligte ich mich nicht – mit einer Ausnahme: die Kinderkleidung für Kinder, die Übergrößen brauchten. Die war so schwer zu bekommen, dass ich eine Liste jener Kunden anlegte, denen ich dann Sachen reservierte. Damit bin ich aber auch ganz offen umgegangen, trotzdem bekam ich immer mal Ärger.

Am Mittwoch standen die Leute immer bei uns an, weil sie wussten, dass an diesem Tag die Westware kam. Davon gab es aber immer nur wenig, diese Zuteilungen waren sehr knapp. Aber da bekam dann immer der etwas, der in der Schlange vorne stand.

Kleine Sonderregelungen gab es etwa in Bezug auf die Jugendweihe: Da bekamen wir besondere, festliche Jugendweihekleidung und verkauften die auch nur an jene Familien, in denen ein Kind Jugendweihe hatte. Das haben wir aber auch so gesagt und erklärt.

Als wir dann in den Textilfabriken Kleidung kaufen konnten, gab es aber grundsätzlich schon genug davon. Damals entstand die Idee, die Kollektionen in Modenschauen zu präsentieren. Eine fand immer bei Landers statt, vor den älteren Herrschaften, die anderen auf den Dörfern. Beispielsweise beim Bäcker in Bernitt, der uns nach der Modenschau immer zu Kuchen und Kaffee einlud. Die Vorbereitung – also die Zusammenstellung der Sachen – übernahm die Konfektionsabteilung unseres Kaufhauses. Wie die Leute von unseren Auftritten erfuhren, weiß ich gar nicht mehr genau, aber die Veranstaltungen waren immer gut besucht. Es war ja nicht so viel los auf den Dörfern, da war das schon etwas Besonderes, wenn „das Kaufhaus kam“.

Mein Mann und ich lernten uns in meiner Ausbildungszeit kennen – beim Handballspiel. Meine Handballgruppe trainierte damals auf dem Sportplatz am Wall. Dort fand dann auch ein Wettkampf im Rahmen eines Sportfestes statt, bei dem wir gegen mehrere Mannschaften antraten. Mein späterer Mann sah sich das Spiel an – und hatte wohl da schon ein Auge auf mich geworfen. Am Abend nach dem Sportfest war dann ganz großer Tanz bei Landers. Dafür machte man sich richtig schick. Mein Kleid stammte von einer Schneiderin aus Zernin, einer älteren Dame, die hier Handwerk noch richtig gut verstand – und das war trotzdem bezahlbar. Man ging mit dem Stoff zu ihr und dann nähte sie. Bei diesem Tanzabend forderte mein späterer Mann mich dann zum ersten Mal auf. Und er war ein guter Tänzer, das gefiel mir. Also hoffte ich, ihn am nächsten Tag wiederzusehen. Und tatsächlich kam er dann öfter, zum Tanzen nach dem Sportlerball. Gewohnt habe ich ja damals noch in Zernin, ich fuhr jeden Tag mit dem Zug nach Bützow. Aber nach dem Tanz konnte ich immer bei meiner Tante hier in Bützow übernachten, also durfte es auch mal später werden.

Zum Tanz bei Landner war ich damals oft. Er begann immer um 20 Uhr, nicht so spät wie das heute üblich ist. Am Eingang des Veranstaltungsortes saß immer ein Mann, der im Krieg ein Bein verloren hatte. Er verkaufte dort die Karten und sorgte für Ordnung. Auf dem Ball spielte dann eine Kapelle, deren Mitglieder alle zur Familie Kranz gehörten. Ich ging immer mit meinen Freundinnen hin. Wir saßen dann immer alle zusammen und beobachteten genau, wo jemand aufstand, um eine Frau aufzufordern. Damals durfte man als Frau ja nicht tanzen, ohne von einem Mann aufgefordert zu werden. Bei Landers haben sich viele spätere Paare kennengelernt.

Die Eltern meines Mannes waren, wie meine auch, aus dem Sudetenland geflohen und dann nach Bützow gekommen. Mein Mann, 1926 geboren, musste in der Hitlerzeit an die Front. Nach dem Krieg war er dann drei Jahre in Gefangenschaft – mit Arbeit im Bergwerk und einer Typhuserkrankung. Das war eine schlimme Zeit, er hatte großes Glück, dass er sie überlebte. Als er ins Sudentenland zurückkehrte, fand er seine Eltern natürlich nicht mehr vor. Die Eltern hatten sich mit einer Suchanzeige für ihren Sohn beim Roten Kreuz gemeldet, das half am Ende, dass die Familie sich wiederfand. Vor seiner Armeezeit hatte er gerade seine Bäckerlehre abgeschlossen und wollte nun in Bützow auch wieder in seinem Beruf arbeiten. Aber zunächst war er bei der Forst beschäftigt, bis er dann eine Stelle bei der HO-Bäckerei in der Hauptstraße fand. Das hieß natürlich immer „mitten in der Nacht“ aufstehen. Sonntags, auch nachdem wir tanzen gegangen waren, musste er immer um zehn Uhr in die Bäckerei, um den Sauerteig anzusetzen, damit zum Montag Brot gebacken werden konnte. Weihnachten buk er dann immer Stollen für die ganze Familie. Und die war groß. Also lagen dann schon im späten Herbst riesige Mengen von Stollen bei uns oben auf dem Schrank. Auch Torten konnte er wunderbar backen – die Schwanentorte, die so aufwändig war, gab es immer, wenn unsere Kinder Geburtstag hatten.

Später arbeitete ich in der Drogerie in der Hauptstraße 40, als Schwangerschaftsvertretung für die Inhaberin. Sie hatte mich angesprochen, weil ich im gleichen Haus wohnte und ja vom Fach war. Ich hatte damals selbst schon zwei Kinder, also musste ich meine Tante Minna bitten, mir bei der Betreuung zu helfen. Leider war die Inhaberin aufgrund einer schweren Schwangerschaftsvergiftung nach der Geburt ihres Kindes nicht wieder arbeitsfähig und ich blieb länger als geplant in dem Laden.

Mein Mann hat immer wirklich wenig verdient. Als unser drittes Kind geboren wurde, konnte ich erstmal nicht mehr arbeiten gehen. Da kamen wir mit dem Geld nicht mehr aus. Ich hätte gern wieder gearbeitet, aber Tante Minna konnte ich nicht fragen – die war der Meinung, dass man Kinder, die man in die Welt gesetzt hatte, auch selber aufziehen sollte. Da habe ich mich nicht getraut zu widersprechen. Aber eigentlich kamen wir gut miteinander aus, Minna und ich. Wir haben nachher sogar zusammen mit ihr unser Haus gekauft. Am Ende war es dann auch gut und richtig so, dass ich mit den Kindern zuhause war. Sie waren zwar nicht in der Krippe oder Kita, aber ja trotzdem unter Kindern, denn es gab genug Kinder auf der Straße – und genug Auslauf in Richtung Wall, da brauchte man damals keine Angst haben. Falls doch mal ein Auto kam, ging man eben zur Seite, aber das passierte damals nicht allzu oft.

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06. Dec 2024
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Erinnerungen von Herrn Stryi, Jahrgang 1934 zog 1948/49 nach Bützow

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

1948/49 - Die Einschulung in die 9. Klasse . Betrachtet man die äußeren Bedingungen für einen Oberschulstart 1948 und das Ziel, ein Abitur zu machen, nach einem längeren zeitlichen Abstand, so muss man feststellen, dass die Auswirkungen des Krieges noch deutlich vorhanden waren: Der Altersunterschied innerhalb meiner Klasse betrug fünf Jahre. Die Hälfte der Lehrer hatte das Rentenalter überschritten. Das Angebot an Fremdsprachen wechselte in jedem Schuljahr (Latein, Englisch, Russisch). Die Verfügbarkeit von Lehrmitteln (Bücher, Schulhefte, Schreib- und Zeichenmaterial) war miserabel.

Mit den neuen Schulbedingungen, den anderen Lehrern und einer Anzahl neuer Klassenkameraden musste man sich erst einmal vertraut machen. Die große Pause wurde zur Ausgabe eines kleinen trockenen Brötchens und einer kleinen Tasse kalter Milch durch die Hausmeisterin Frau Helms genutzt. Am 29.3.1949 trat ein neuer Direktor sein Amt an, Clemens Maria Rump, ein Fachlehrer für Biologie und Erdkunde aus der Oberschule Rostock.

Am 30.4.1949 erfolgte, unter Teilnahme von Vertretern der Partei, der FDJ und wichtigen Betrieben, die feierliche Namensgebung zur „Geschwister Scholl Oberschule“ vor dem Schulgebäude. In diesem und dem folgenden Schuljahr wurde jeder Schüler zum Sammeln einer bestimmten Menge an Heilkräutern verpflichtet, beispielsweise Taubnesselblüten und Brombeerblätter. Die gewünschten Kräuter waren gelistet, die Mengen unterschiedlich hoch. Abgegeben und getrocknet wurde im Dachgeschoß des Rathauses. Der beauftragte Mann – wir nannten ihn „Kalmusdirektor“ – wog, registrierte und gab, als Belohnung und Anreiz für weitere Aktivitäten, die damals begehrten Süßstofftabletten aus. Den Spitznamen hatte er bekommen, nachdem wir unter seiner Führung zum Kalmuswurzelstechen an umliegende Bach- und Flussufer gezogen waren.

1951/52 – Die Abiturzeit . Durch steigende Schülerzahlen war es notwendig geworden, nach zusätzlichen Räumlichkeiten Ausschau zu halten. Diese boten sich in der Berufsschule für Sonderberufe (das waren z.B. Schornsteinfeger) im Nachbargebäude an.

Auf Anweisung des Schulministeriums war für den Abiturjahrgang 1952 festgelegt worden, dass es fünf schriftliche (Deutsch, Mathematik, eine Fremdsprache und zwei aus den Fächern Biologie, Chemie, Physik, Erdkunde in freier Wahl) Prüfungen geben würde, die Ende April stattfanden. Dann folgten vier mündliche Prüfungen im Mai (Geschichte und Gegenwartskunde für jeden Schüler), dazu zwei weitere Fächer durch Festlegungen aus der Schulkonferenz mit Vertretern der Landesschulbehörde. Erst am jeweiligen Prüfungstag wurde den Schülern mitgeteilt, in welchen zwei Fächern sie mündlich geprüft werden. Der Jahrgang 1952 ist ein guter gewesen, 20 von 37 beendeten das Abi mit gut. Alle Abiturienten begannen im September ein Studium oder eine berufliche Ausbildung.

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06. Dec 2024
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