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Jörg Quandt, Jahrgang 1961, lebt seit 1962 und bis heute in Bützow, war lange Jahre der Inhaber der „Penne“ und Bützower Stadtvertreter
@Tom (Redaktion "Stadtgespräche") . . 06. Dec 2024

Ich bin geborener Güstrower, aber meine Eltern zogen schon am Ende meines ersten Lebensjahres nach Bützow, weil mein Vater aus Kurzen Trechow stammt und es ihn zurück in seine Heimat zog. Wir wohnten dann in der 4. Wallstraße. Mein Vater arbeitete als Dachdecker und meine Mutter war Leiterin der Kaufhalle. Und ich hatte noch einen drei Jahre jüngeren Bruder.

Ich erinnere mich noch, dass ich an einem Sommermorgen mit meinem damals dreijährigen Bruder und einem Nachbarsjungen zum Ströpern zum Hopfenwall ging. Dort gab es ein Loch in einem Gartenzaun. Wir machten es größer und schlüpften hindurch, in den dahinterliegenden Garten. Dort spielten wir den ganzen Tag und vergaßen vollständig die Zeit – bis es am Ende zehn Uhr abends war. Inzwischen suchte man uns schon überall, glaubte wir seien entführt worden. Als wir uns dann auf den Heimweg machten, weil es allmählich dunkel wurde, entdeckte uns ein Nachbar und lieferte uns zuhause ab. Das gab dann richtig Ärger – meine Eltern hatten schon tausend Ängste ausgestanden.

Aber grundsätzlich war es normal, dass wir nachmittags allein unterwegs waren. 18 Uhr mussten wir zuhause sein, sonst gab es Ärger. Meistens erinnerte uns der Pfiff meines Vaters daran, dass es jetzt Zeit war. Den hörte man bis hinten auf dem Sportplatz, wo wir oft spielten.

Pfaffenstraße, 4. Wallstraße, 5. Wallstraße und Kirchenstraße – die Kinder dort kannten sich und hielten zusammen. Viele davon kenne ich bis heute. Wir waren Jungs-Cliquen und haben uns auch gegenseitig gejagt, aber meistens haben wir gegen die Westenberger Gang gekämpft, die Kinder die in der 2. und 3. Wallstraße wohnten. Ich erinnere ich an einen Tag, als wir mit unserer Clique auf dem Wall waren und ein Klassenkamerad von mir vorbeikam, der zu der anderen Gang gehörte. Wir versteckten uns im Gebüsch, stürzten dann hervor, schnappten ihn und setzten ihn in einen Ameisenhaufen. Als ich am nächsten Morgen zur Schule kam, hatte ich natürlich ziemliche Bedenken, dass er sich rächen würde. Aber glücklicherweise blieb alles ruhig.

Wir waren auch immer mal in den Baracken in der Nähe des früheren Jugendclubs und des Schrottplatzes. Eines Tages kam ein Mädchen aus der 3. Wallstraße vorbei und wollte bei uns mitmachen. Das ging nur mit einer Mutprobe – mit einem von uns. Und der war ich. Diese Mutprobe bedeutete: alle Taschen mit Steinen füllen und alle Scheiben der Baracken einwerfen, in denen damals eine Versicherung saß. Und das morgens um zehn – während die Leute dort bei der Arbeit saßen. Die haben uns natürlich gejagt. Das Mädchen wurde erwischt, ich nicht. Ich rettete mich durch den Sumpf und kam dann entsprechend nass nach Hause, wo schon ein Freund auf mich wartete. Als ich ihm davon erzählte, machte er mir richtig Angst: Die Polizei würde mich finden, meine Eltern kämen dann ins Gefängnis. Also zog ich mir saubere Sachen an und ging zu den Baracken, wo inzwischen alle wieder ruhig bei der Arbeit saßen. Ich klopfte, ging hinein – und brach dann sofort in Tränen aus und beichtete meine Tat. Man hörte mich in Ruhe an und gab mir am Ende einen Zettel für meine Eltern mit, den ich auf dem Heimweg heimlich vergrub. Meine Eltern erfuhren nie etwas von der Sache, es gab auch keine weiteren Konsequenzen. Das Mädchen dagegen musste eine Strafe zahlen, die aber von der Versicherung übernommen wurde.

Mit den Mutproben haben wir trotzdem nicht aufgehört. Unser Revier waren die Altstadt und der Wall. Über den Wallgraben springen gehörte auch dazu: das klappte manchmal – und manchmal nicht. In der Nähe unseres Wohnhauses war damals eine Holzbrücke. Dort kam ich eines Abends vorbei und entdeckte drei Jungs, die gerade versuchten, die Brücke anzusägen. Die nahmen mich gleich in die Mangel: Wenn ich etwas erzählen würde, wäre ich dran. Also schwieg ich. Als am nächsten Tag einige unserer Lehrer die Brücke überquerten, vermutlich weil sie zur Schulspeisung in der Pfaffenstraße wollten, brach diese auseinander und fiel um. Natürlich suchte man die Täter – aber ich habe nichts verraten.

Und wir waren viel in den alten, verfalleneren Häusern in der Wallstraße unterwegs, in denen niemand mehr wohnte. Waren dort die Fenster zugenagelt, dauerte es nicht lange, bis wir die Bretter gelockert hatten und uns das Haus von innen anschauten. Das war immer spannend.

Als ältere Schüler haben wir dann oft heimlich geraucht. Einmal erwischte uns Dr. Schmidtbauer, unser damaliger Direktor. Da steckten die Raucher ihre Zigaretten schnell in die Jackentaschen – aus denen es dann qualmte. Nach der Schule war unser Treff eigentlich immer die Alte Badeanstalt. Dort spielten wir 17/4 und Knack, teilweise auch richtig um Geld – oder Tischtennis. Wir verbrachten viele Nachmittage dort, wenn wir nicht mit den Mopeds oder Fahrrädern durch die Gegend fuhren. Unsere Clique war immerhin so berüchtigt, dass einmal in der Stadtvertretung vor uns gewarnt wurde. Wir wären eine kriminelle Gruppe hieß es dort. Erstmal waren wir darüber ziemlich empört, aber andererseits war es auch ein bisschen schmeichelhaft. Denn wir haben ja tatsächlich auch viel Action gemacht in der Stadt.

An den Wochenenden unternahmen wir viel gemeinsam: Wir fuhren mit den Fahrrädern ins Warnowtal, mit über dreißig Leuten. Einmal machten wir dirt alle zusammen eine FKK-Wanderung, sogar nackt Volleyball haben wir gespielt. Das brachte uns prompt eine Anzeige ein, die aber im Sande verlief, weil man uns nichts beweisen konnte. Und auch sonst haben wir die Gegend gut erkundet.

Wenn an den Wochenenden mal ein Konzert in der Nähe stattfand, was ja nicht so oft der Fall war, waren wir natürlich auch dabei. Und wir waren ab und an im Kulturhaus Steinhagen, denn dort war alle vierzehn Tage Tanz. Also gingen wir dort zu Fuß hin und liefen anschließend auch zu Fuß wieder zurück. Der Rückweg kam mir immer wahnsinnig kurz vor – beflügelt vom Alkohol und mit reichlich Erzählstoff, nach dem erlebnisreichen Abend. Außerdem waren wir immer mal in Sternberg in der Disco. Einmal haben wir die Frau, die dort an der Bar arbeitete, tagsüber in Bützow getroffen. Auf Nachfrage erklärte sie uns, das sei hier die einzige Stadt, in der man vernünftig einkaufen könne – sogar besser als in Rostock. Das lag wohl auch daran, dass es hier so viel Einzelhandel gab. Der Inhaber des Kaufhauses fuhr damals immer persönlich nach Thüringen, um direkt vor Ort, in der Produktionsstätte, einzukaufen. Deshalb gab es bei ihm immer so viele Dinge, die man woanders nicht bekam.

Die Wendezeit in Bützow war unglaublich spannend. Es gab plötzlich keine Regeln mehr, wir konnten machen, was wir wollten. Ich war damals 28 Jahre alt und fing an Livemusik zu machen und Konzerte zu organisieren. Wir haben Bands aus Berlin nach Bützow geholt, die nach den Konzerten was Verrücktes erleben wollte. Mit denen sind wir teilweise auf dem Autodach sitzend durch die Gegend gefahren. Ich habe dann immer Blut und Wasser geschwitzt, denn in einer Kleinstadt wie Bützow fällt sowas auf und am nächsten Tag reden alle darüber. Aber insgesamt hat das viel Spaß gemacht. Die Veranstaltungen, der Kontakt zu den vielen Künstlern – das hat mich wirklich glücklich gemacht.

Als nach der Wende die SED-Kreisleitung aufgelöst wurde und deren Gebäude mit dem großen Saal leer wurde (heute ist dort der Polizeiparkplatz), ging ich zunächst zur PDS und dann zur Treuhand, um mich zu erkundigen, ob ich es mieten konnte. Und wir machten dann gleich einen Mietvertrag, auch wenn niemand von uns davon Ahnung hatte – die von der Treuhand nicht und ich auch nicht. 770 Mark Miete wollten sie damals dafür. Das war natürlich ein Witz, aber damals erschien mir das unglaublich viel. Nach zwei Jahren wurde der Treuhand klar, dass das viel zu wenig Geld war, für diesen riesigen Saal. Aber ich hatte einen zehnjährigen Mietvertrag, da konnten sie wenig machen. In den Räumen betrieb ich dann „Zur Penne“. Den Namen habe ich gewählt, weil ja gegenüber das Gymnasium war. In der „Penne“ konnte ich dann meinem Hobby frönen: Ich holte mir die Livemusiker, denen ich sonst hinterhergefahren war, einfach in meine Heimatstadt. Viele Bands schliefen dann auch bei mir zuhause, weil ich keine Hotels buchen wollte, um die Kosten zu sparen . Das waren ja unsichere Zeiten damals. Dadurch entstanden viele persönliche Beziehungen. Wir feierten nach den Konzerten meist noch in meiner Wohnung in der Bahnhofstraße. Das hatte sich nachher in Berlin schon rumgesprochen. Und so kamen dann Bands wie Cäsar und Renft nach Bützow. Gerhard Gundermann kam sogar drei Mal – total fetziger Typ, nur seine Band war ein bisschen anstrengend. Auch Damien Ball, der ehemalige Gitarreningenieur der Rolling Stones, war in Bützow und trat bei mir in der „Penne“ auf. Er fand Bützow so schön, dass er noch eine Woche blieb, zum Urlaubmachen.

Sogar Punkkonzerte hatten wir in der Zeit hier, mit 850 Leuten. Bei einem dieser Konzerte kreuzten einige Bützower Nazis vor dem Eingang auf und wollten Stunk machen. Daraufhin gingen dann einige der Punks vor die Tür, um zu zeigen, wie viele sie waren. Am Ende gab es dann eine richtige Straßenschlacht, bei der sich die Gegner mit Straßenpflaster bewarfen. Ich hatte das völlig falsch eingeschätzt, weil ich nicht mit dieser Gewaltbereitschaft gerechnet hatte. Das war doch eigentlich nur Punkmusik und meine private Veranstaltung. Ich bekam dann eine Abmahnung von der Stadtverwaltung, weil ich ja damals über eine ABM im Hauptamt für Kultur arbeitete, insgesamt vier Jahre lang. Außerdem bekam ich mehrmals nächtliche Anrufe mit Morddrohungen – man würde mich abstechen, wenn man mich in der Stadt sehen würde, und dergleichen mehr. Alles immer anonym. Daraufhin ging ich dann extra jeden Abend in die Kneipe. Wenn dort irgendwo Nazis am Tisch saßen, ging ich gezielt dort hin und sprach sie an: „Guten Abend, die Herren.“ Die wagten dann oft nicht mal, mich noch einmal anzusprechen. Ich kannte ja oft sogar ihre Eltern. Dass ich mit denen reden würde – davor hatten sie tatsächlich am meisten Angst. Dass man sich in einer Kleinstadt wie Bützow immer auch auf verschiedenen Ebenen wiederbegegnet, ist ja eigentlich etwas Gutes: Man kann Sachen regeln, weil man auch die Gemeinsamkeiten sieht, die einen trotz unterschiedlicher Meinungen verbinden.

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