
Meine Großmutter und ich wurden 1943 aus Berlin, meiner Geburtsstadt, evakuiert. Nach dem Feuersturm auf Hamburg, der große Teile der Stadt vernichtete und 30.000 Todesopfer forderte, befürchtete man Ähnliches für Berlin. Meine Eltern mussten in Berlin bleiben, weil sie arbeitsfähige Personen waren. Meine Großmutter und ich gelangten über die Uckermark und Südmecklenburg schrittweise in den Norden. Damals sah ich, auf der Durchreise, zum ersten Mal den Bützower Bahnhof. Ein zweites Mal sah ich ihn dann 1947 auf der Fahrt von Wesenberg nach Schwerin, wo ich den Landesvorstand der FDJ aufsuchen wollte. Das war damals eine abenteuerliche Reise über Neustrelitz, Neubrandenburg, Güstrow und Laage. Dort stieg man dann in einen Zug um, der über Bützow nach Schwerin fuhr. Bei diesem zweiten Aufenthalt sah ich erneut diesen tollen, großen Bahnhof und war mir sicher: Bützow muss eine wunderschöne, interessante Stadt sein. Anfang der 1950er Jahre war ich mit dem Paddelboot die Warnow abwärts unterwegs – und sah Bützow ein drittes Mal, nun vom Wasser aus. Dieses Mal dachte ich: Was für eine tolle Kirche! Was für eine eindrucksvolle Schleuse! Ich sah die großen Speicher, die Mühle, die damals noch in Betrieb war. Ich sah das Eckhaus zwischen der Ersten Wallstraße und der Langen Straße, ebenfalls ein tolles Gebäude. Aber dann ging es auch schon weiter, Richtung Schwaan und Rostock.
Näher kennengelernt habe ich den Ort dann aber erst, als ich 1954 dort eine Stelle als Lehrer bekam. Ich war nach dem Krieg zunächst Neulehrer in Parchim gewesen und hatte dann an der Pädagogischen Hochschule Potsdam ein Pädagogikstudium absolviert. Nun stand meine erste Anstellung an. Ich konnte zwischen Güstrow und Bützow wählen – und entschied mich für Bützow, weil es klein und gemütlich wirkte. Ich kam auf dem Bahnhof an. Und nahm natürlich an, nun direkt in der Stadt zu sein, bis mir eine mitleidige Seele erklärte, dass noch ein längerer Weg vor mir lag, bis in die Innenstadt. Ich lief über die Brücke aus Holz, einen langen, staubigen, nicht gepflasterten Weg entlang, den Gummiweg. Schließlich landete ich in ein kleines, geducktes Städtchen. Meine neue Arbeitsstelle befand sich in einer der vier Baracken am Wall, in der Nähe des Sportplatzes. Dort war damals der Rat des Kreises untergebracht. Das war dann schon ein kleiner Kulturschock. Ich meldete mich bei der Verwaltung an und ging dann zur Kaderabteilung, weil ich ja eine Unterkunft brauchte. „Tja“, lautete die Antwort: „damit sieht es eher schlecht aus. Wir sind ja gerade erst ein neuer Kreis geworden. Wohnungen haben wir derzeit nicht. Sie müssen also erstmal im Hotel wohnen, die Kosten dafür übernehmen wir.“
Also bezog ich ein Zimmerchen im Hotel Schmidt, das heute „Stadt Bützow“ heißt. Dort wurde ich gleich erstmal krank, ein richtig schöner grippaler Infekt - das war kein wirklich toller Start. Nach einer Weile wurde mir dann ein Zimmer in der Kirchenstraße 6 zugewiesen, bei einer Frau Kenk. Ihre Wohnung bestand aus einem Vorderzimmer, dass sie selbst bewohnte, und meiner Kammer auf der Hofseite, mit einem Fenster in die Küche hinein, ohne Licht und ohne Luft. Die Küche durfte ich mitbenutzen, ebenso wie das Plumpsklo auf dem Hof. So spärlich es war, war es aber ja nun immerhin meins – dachte ich. Bis mir Frau Kenk mitteilte, dass ich am Samstag und Sonntag nicht dort sein dürfe, weil sie dann Gäste bekam. So stand ich, ein inzwischen 26jähriger Mann, an den Wochenenden ohne Bleibe da. Ich stellte schnell fest, dass es in Bützow mehrere Menschen gab, die mein Schicksal teilten – und so entstand sehr bald ein großer, runder Tisch im „Hotel Schmidt“. Dort verbrachten wir dann, in meinen ersten Monaten in Bützow, gemeinsam unsere Wochenenden.
Mit der Bützower Bevölkerung hatte ich damals wenig zu tun. Daran änderte auch mein Beruf nichts, denn ich wurde gleich als Kreisreferent für Lehrerbildung eingesetzt. Hier kam ich dann fast ausschließlich mit den Lehrerinnen und Lehrern des Kreises und den Mitarbeitern der Kreisverwaltung in Kontakt. Damals war es üblich, dass man mit diesem Amt auch die Verantwortung für eine LPG übernehmen musste, egal wie weit das vom eigenen Fachgebiet entfernt war. „Du kommst vom Land, Du wirst doch wohl Ahnung von Landwirtschaft haben“, hieß es dann einfach. Und schon war ich in Wokrent mit der Überwachung der Frühjahrsbestellung betraut. Damals war dort ein alter Bauer LPG-Vorsitzender, bei dem meldete ich mich. Er zeigte mir die Maschinen, mit denen dort gearbeitet wurde – kleine Mäher und dergleichen. Er war erst ziemlich skeptisch. Aber als er feststellte, dass ich von diesen Maschinen durchaus ein bisschen Ahnung hatte, veränderte sich die Situation. Schon bald fuhr ich mit aufs Feld und half bei den Arbeiten.
Die Besetzung der neuen Schulkreisverwaltung lief damals noch sehr „auf Zuruf“: Man brauchte einen Schulrat und wählte einen der Lehrer dafür aus, einen zweiten als seinen Stellvertreter. Beide warfen schon nach einem Jahr die Flinte ins Korn – die Arbeit war ihnen zu schwer, sie wollten lieber wieder selbst unterrichten. Als eines Tages das Ministerium für Volksbildung aus Berlin anrief, sprach es mit der damaligen Sekretärin des Schulamtes, der sehr kompetenten Frau Eichhorn, auch Eichhörnchen genannt. Man verlangte, den Schulrat zu sprechen. Frau Eichhorn antwortete, dass es derzeit keinen gäbe. Daraufhin wollte man den stellvertretenden Schulrat sprechen – aber auch den gab es nicht. Schließlich verlangte man den Schulinspektor, nun hieß es: „Der ist im Kreis unterwegs.“ Das machte natürlich die Runde, alle lachten darüber, aber es musste natürlich eine Lösung gefunden werden. Bald darauf gab es einen neuen Schulrat, bei dem ich mich dann, gerade in Bützow angekommen, vorstellte. Er teilte mir mit, dass heute sein letzter Tag vor dem Urlaub sei und es nun meine Aufgabe sei, die Lehrerkonferenz zum Schuljahresbeginn vorzubereiten. Das schloss auch ein Referat mit ein, das eigentlich der Schulinspektor planen sollte. Aber auch der war schon im Urlaub und würde erst zwei Tage vor der Konferenz zurückkommen Da saß ich also, 26 Jahre jung, ohne jede Kenntnis über den Kreis, vor 40 Schulleitern und eröffnete mit ihnen das Schuljahr. Wie das gelang, ist mir bis heute unklar – aber am Ende haben wir es irgendwie hinbekommen.
Es war also keine leichte Anfangszeit. Damals träumte ich noch davon, an die Uni zu gehen. Aber je mehr ich mit meinem Amt vertraut wurde, je mehr ich auch die Vorzüge und Freiheiten meiner Stelle erlebte (der Schulrat ließ uns wirklich an der langen Leine, unterstützte die meisten Vorschläge und ließ uns machen), desto mehr wusste ich meine Arbeit zu schätzen.
Als ich als 26jähriger nach Bützow kam, dachte ich allmählich auch daran, eine eigene Familie zu gründen. Ich war dann tatsächlich auch kurze Zeit mit einer Bützowerin verlobt, aber die Beziehung zerbrach daran, dass sie überzeugte Christin war und ich mit Religion eher fremdelte. Meine spätere Frau lernte ich dann während eines Urlaubs in Zingst kennen. Wir heirateten bald darauf und sie zog mit mir nach Bützow.
Politisch engagiert habe ich mich zu DDR-Zeiten nur eine Legislaturperiode lang. Es war mir dann einfach zu langweilig, man konnte ja nichts gestalten, sondern nur Dinge zur Kenntnis nehmen. Die Haushaltsplanung für die Stadt war bereits fertig vorgegeben, die der Schule ebenso. Mit den bereitstehenden Budgets, abgesehen von den Gehältern, konnte die Schule selbst wirtschaften, da redete einem keiner rein. Aber nach der Wende, 1990, kandidierte ich dann für die Stadtvertretung.
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