
In Bützow hatte meine Familie wichtige Wurzeln: Meine Großeltern lebten dort und meine Mutter ist dort aufgewachsen. Erst als erwachsene Frau zog sie nach Rostock, um dort als Hebamme zu arbeiten. Da sie sich, alleinerziehend im Schichtdienst, nicht wirklich gut um mich kümmern konnte, verbrachte ich meine ersten Lebensjahre bei unseren Verwandten, Achim und Else Giese, im Vierburgweg. Die anderen Kinder dachten natürlich, dass die Gieses meine Eltern sind und so wurde ich hier immer Bernd Giese gerufen. Und auch ich selbst habe zu den Gieses Mutti und Vati gesagt – ich hatte nun halt zwei Muttis. Meine Kinder nennen sie heute auch noch Öming und Öping. Mutti Giese konnte keine Kinder bekommen, sie waren froh, dass sie mich hatten.
Als dann meine Einschulung anstand, zog ich zurück zu meiner Mutter nach Rostock, verbrachte aber fast jedes Wochenende und meine Ferien in Bützow: ich wurde in den Bus gesetzt (ein AH-3 manchmal mit Hänger) und fuhr nach Bützow. Dann hieß es immer „Bützow Bahnhof, Endstation“. Später bin ich mit dem D-Zug gefahren und Schwaan umgestiegen – oder nahm den Bummelzug direkt nach Bützow. Wenn ich dort ankam, bekam ich erstmal etwas zu essen. Danach stiefelte ich zum Fritz-Reuter-Platz, dort war unser Treffpunkt. Wir spielten zusammen, ich vor allem mit meinem Freund Dieter Prief. Bei Regen spielten wir drinnen – aber daran kann ich mich kaum erinnern. Ich habe nur Erinnerungen an das gute Wetter. Und an das Zuckerbrot, dass es bei Janni Hennigs Mama gab.
Die Eltern von den Gieses wohnten neben Bäcker Strebelow. Der alte Herr Giese hatte bis in die 1970er Jahr einen Friseursalon – und fuhr außerdem noch mit dem Fahrrad ins Bützower Krankenhaus, um dort den Patienten die Haare zu schneiden. Er erzählte uns manchmal vom Afrikakorps, in dem sein Großonkel gewesen war. Das war was – richtig abenteuerlich. Aber natürlich hat er nur die Heldengeschichten erzählt
Auch bei Strebelows war ich öfter zu Gast, habe dort mit den beiden Jungs und dem Strebelow-Mädchen gespielt. Nur manchmal mussten wir leise sein, denn hieß es: “Der Bäckermeister schläft.“ Ich weiß noch, dass das Schlafzimmer hinten im Haus lag. Die Backstube war übern Hof, da haben wir immer mal zugeschaut, die die Gesellen diese vielen Brote auf den großen Brettern mit einer Hand nach vorne in den Laden trugen. Dort gab es an der Ladentür eine Glocke, die machte immer „bing bong“. Das war wir im Film. Und dort stand auch ein runder Marmortisch mit Metallfuß. Manchmal aß ich dort einen von diesen rot-weißen Kuchen, Amerikaner nannte man die. Im Laden arbeiteten Oma Engelhardt, Frau Strebelow, und die Hannelore, die Tochter der Familie.
Mein richtiger Opa, Alfred Knüddel, wohnte in der Gödenstraße 11. Er arbeitete als Maler bei Malermeister Jochens. Den haben sie immer geholt, wenn die Sprossenfenster im Rathaus gestrichen werden mussten. Dann hieß es: Hol mal den alten Knüddel – der hatte die Geduld. Er erzählte damals viel aus dem 1. Weltkrieg. Einmal wurden sie sprichwörtlich von der Front überrollt. Sie fanden einen Weinkeller und haben sie da unten betrunken. Als sie morgens aufwachte, sahen sie, dass in der Nacht die Gegner über das Land gezogen waren. Sie selbst waren unentdeckt und unversehrt geblieben. Dazu sagte er dann immer, natürlich auf platt. „Der Alkohol de hett mi mal dat Leven gerettet.“ Das war so abenteuerlich.
Es gab damals Bahnhofskinder und Stadtkinder - die Grenze war die Bahnhofsbrücke. Wir gingen im Sommer oft an die Badestelle an der Warnowbrücke, hinter dem Andreassteig. Da gab es eine Mutprobe: Man musste im Fluss untertauchen und in den Schlamm greifen. Später, als das Wasser abgelassen wurde, bei der Erneuerung der Schleuse, fand man dort Pistolen im Schlamm.
Albert Giese war der Schleusenwärter, deshalb durften wir immer an der Schleuse angeln. Die Schleuse wurde 1970/71 instandgesetzt. Damals wurde das Wasser abgelassen und wir konnten auf dem Grund langgehen. Dort fanden wir eine Kiste mit versiegelten Weinbrandflaschen – und auch Bajonette. Die Flaschen haben wir geköpft, um zu schauen was da drin war. Als wir rochen, dass das Weinbrand war, haben wir sie weggeworfen. Heute wäre das ein Vermögen wert. Außerdem war ich damals viel im Heimatmuseum im Schloss, bei Dr. Vorbeck. Und wir stöberten viel auf den Schrottplätzen herum. Und wenn wir dort alte Sachen fanden, gaben wir sie im Museum ab. Einmal haben wir sogar Münzprägestöcke gefunden, aber oft auch alte Dokumente und anderen alten Kram. Als Dank für unsere gesammelten Sachen durften wir im Museum alle Schubladen aufmachen, in dem Kabuff unten – und alles Schöne angucken. Der Schrottplatz war am Ende des Andreassteigs, bei der Kopernikus-Schule. Und im Heimatmuseum oben haben damals auch noch Leute gewohnt, obwohl das Gebäude schon ziemlich marode war.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als der Schacht der Ofenfabrik brannte. Es war ein sonniger Tag. Neben der Fabrik lag ja nur noch Tischler Höppner. Wie das gequalmt und gebrannt hat!
Uns als Kinder hat im Grunde immer alles interessiert, wo man rumgucken und rumstrobern konnte. Es tauchten dann weiße Porzellankugeln auf, mit denen wir auf der Straße spielten. Wie kleine Golfbälle sahen die aus. Wir durften uns halt nur nicht erwischen lassen. Wir haben auch Luftschutzkram gefunden, aber der wurde vom ABV Domke einkassiert. Und dann sind wir immer „Gefangene gucken gegangen“ am Bahnhof. An bestimmte Züge waren spezielle Wagen angehängt, mit denen die Gefangenen transportiert wurden. Sie trugen dunkle Gefangenenuniformen mit gelben Strichen und wurden von Hunden bewacht. Wir dachten natürlich, das wären alles Schwerverbrecher. Wir sind dann dicht an den Bahnhof gezogen, das war ja abenteuerlich und spannend. Einmal sahen wir die Insassen, die mit der Grünen Minna nach Dreibergen gefahren wurden. Der Bahnhof war auch sonst immer spannend, da war ich unheimlich gerne.
Als kleiner Butscher von vier oder fünf Jahren bin ich mal stiften gegangen. Ich stellte mich mit der Schiebkarre ans Tor und kletterte drüber, um mir die Dampfloks am Bahngleis anschauen. Wenn die ihren Dampf ausstieß, während wir dort spielten, haben wir uns immer vorgestellt, das wäre unsere Wolke. Da haben wir dann Flugzeug gespielt und sind durch die Wolken geflogen.
Das Sägewerk gehörte damals den Grimmes. Achim Giese, mein „Vati“, arbeitete dort als Heizer. Im Werk gab es riesige Dampfmaschinen, die hießen Lokomobile. Sie hatten ein riesengroßes Schwungrad und einen Transmissionsriemen, das war der Antrieb des Gatters. Ich habe damals, 1966, einen Schulaufsatz über Lurche und Frösche geschrieben, die im Winter in der Wasserlache unter der Dampfmaschine überwinterten. „Was ist das für ein Quatsch“, sagte die Lehrerin. Aber das war kein Quatsch, es gab sie wirklich.
Aus dem Sauerstoffwerk bekamen wir mal Trockeneis, ich weiß gar nicht, wer das besorgte hatte. Das füllten wir in Plaste-Essigflaschen. Die haben wir dann in die Warnow geschmissen – und irgendwann explodierten sie. Da kam dann die Wasserschutzpolizei, die damals hier noch mit dem Motorboot Streife fuhr. Die Polizisten dachten, das wäre Karbit, da im Wasser, auch weil es so an der Hand klebte, wenn man es anfasste. Da gab es tüchtig Ärger – und wir wurden natürlich aufgeschrieben.
Im Oberbauwerk wurden damals Langschienen produziert. Dort arbeiteten auch russische Soldaten, ich erinnere mich noch daran, dass die immer so viele Abzeichen hatten. Einmal verletzte sich einer der Soldaten, der suchte dann ein Krankenhaus und wir haben es ihnen gezeigt. Am nächsten Tag waren wir auf dem Hinterhof und aus den beiden Küchenfenstern, die zum Hof gingen, riefen Oma Prief und meine Mutti Giese: „Die Jungs haven nen Ivan gehulfen“ – auf Platt natürlich.
Die Soldaten wollten immer Hefte mit nackten Frauchen. Die haben wir besorgt und dann gegen Abzeichen eingetauscht. Wir waren auch manchmal in der Unterkunft. Da mussten wir uns mal unterm Bett verstecken, weil die Offiziere kamen. Die Heftchen haben wir von älteren Geschwistern stiebitzt. Manchmal konnte man die auch so kaufen – oder wir sammelten sie aus dem Altstoff.
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