
Als ich den Aufruf zum Erzählen sah, dachte ich, was für eine schöne Idee! Und mal sehen, ob ich mich in den Geschichten und Erlebnissen wiederfinden kann. Jetzt sitze ich an meinem Fenster und schaue auf die von den Schneeflocken nasse und wegen der Sanierungsarbeiten gesperrte und einsame Straße. Und die Erinnerungen an frühe Kindertage entstehen fast von selbst, mit dem Blick auf den weihnachtlich geschmückten Bahnhof. Warum nicht aufschreiben, denke ich, und muss schmunzeln über mich selbst. Der alte Mann erzählt längst vergangene Geschichten…
Meine ältesten Erinnerungen an unsere Stadt sind mit dem Bahnhof und dem angrenzenden Viertel verbunden. Ich war etwa fünf Jahre alt, Ende der 1960er Jahre. Meine Eltern waren gerade mit mir und meinem Bruder in die Carl-Moltmann-Straße gezogen, in eine sehr schöne, moderne Wohnung für damalige Verhältnisse. Insbesondere im Vergleich zu dem abbruchreifen Haus am Markt, in dem wir vorher wohnten. Jahre später wurde dieses auch tatsächlich abgerissen und die Überreste zur Befestigung des Gummiweges genutzt – sehr nachhaltig, wie ich heute finde. Auf der freigewordenen Fläche wurde ein kleiner Platz gestaltet, mit einem Zeitungskiosk, der unter Bützowern sehr beliebt war. Aber das ist eine andere Geschichte...
Ich erinnere mich daran, dass mein Vater mir damals erzählte, dass das kleine Häuschen im Flur des damaligen Bahnhofsgebäudes vormals ein Schalter war. Hier wurden die Leute kontrolliert, ehe die Bahnsteig betreten durften, um dort Besuch zu empfangen oder zu verreisen – man brauchte dafür mindestens eine Bahnsteigkarte. Das fand ich sehr komisch! Eine Fahrkarte für den Bahnsteig, irgendwie passte das nicht in meine kindlichen Vorstellungen. Später wurde der Bahnhof etwas modernisiert und das Häuschen verschwand. Übrig blieben die Spuren auf den Fliesen am Boden, die ich ausführlich betrachten konnte, wenn die Bahn Verspätung hatte und ich im Winter dort auf den Zug wartete, der mich zur Uni nach Rostock bringen sollte.
Beim Aufschreiben dieser Geschichte sehe ich die damalige Schalterhalle vor mir, als wäre die Zeit stehengeblieben. Ich denke an die Wartezeiten in der Mitropa. An die Tische und den Tresen in der Mitropa, in der mein Großvater sich hin und wieder mit Freunden auf ein Bier oder einen Kaffee mit Zigarre traf. Ich saß dabei und lauschte den Erzählungen der alten Leute, bei einer Brause mit Bockwurst. Oder ich denke an den Intershop, den ich ab und an mit meinem Großonkel besuchen durfte: Gelegenheiten, bei denen er mir kleine Träume erfüllte, etwa ein Matchboxauto oder, später, eine Jeans. Aber vor allem denke ich an die Gepäckaufbewahrung – und das aus gutem Grund! Denn dort erfüllte sich ein großer Kindheitstraum. Hierzu muss man wissen, dass dort damals nicht nur Gepäck zur Aufbewahrung abgegeben werden konnte. Auch Sperrgut und sogar Tiertransporte wurden hier verschickt oder abgeholt, nicht nur für die Betriebe des Ortes, sondern auch für Privatpersonen. Und sogar für einen kleinen Jungen wie mich. Als mein Opa mir eines Tages erzählte, er habe einen Schäferhundwelpen für mich gekauft, waren Vorfreude und Erwartungen riesengroß. Jeden Tag lief ich mehrmals zum Bahnhof – und was für eine Freude, als der Kleine dann endlich eintraf: ein putzmunterer Welpe und viele Jahre ein treuer Freund und Begleiter.
Ein weiteres, sehr beeindruckendes Erlebnis meiner Kindertage waren die damals schon selteneren Durchfahrten und Aufenthalte von Dampflokomotiven. Die Geräusche, der Geruch und die altertümliche Optik, verbunden mit der transparenten Mechanik des Antriebes – all das war so faszinierend und schön. Schon etwas aus der Zeit gefallen, aber eine imposante Erscheinung und Abwechslung vom Alltag. Ich erinnere mich, wie wir Kinder das Befüllen des Wassertankes der Lok an der nahegelegenen Station mit großem Staunen beobachteten, während es für die Bewohner der Blöcke 1 und 2 der AWG wahrscheinlich eher störend war. Aber wenn ich bei meinen Großeltern war, die dort wohnten, rannte ich, sobald ich das Geräusch hörte, zum Fenster im Schlafzimmer, um einen Blick auf die Dampflok zu erhaschen.
Betrete ich in Gedanken den Vorplatz, erinnere mich an den Kreisverkehr, an die Geschichten und Erlebnisse in der Gaststätte dort – ein Gebäude mit wechselvoller Geschichte, das für die Bützower einfach "Hubert" hieß. Meine Gedanken wandern weiter zum Bäcker Streblow, zu der kleinen, sehr beliebten Eisdiele und dem Kaufmannsladen. Und dann immer weiter, die neue Bahnhofstrasse in Richtung Stadt entlang. Ich sehe den kleinen Verkaufsraum von Bäcker Brandt mit den leckeren Brötchen für ein paar Pfennige vor mir, denke an den auf der anderen Straßenseite liegenden Konsum und die dahinter liegenden Gärtnerei. Nicht weit entfernt davon die von mir so geliebte kleine Bibliothek und davor die Fleischerei. Und natürlich denke ich an die Alte Molkerei, in der mein Vater arbeitete, und an meinen Kindergarten. Dann komme ich zur Gaststätte Steusloff. Ich erinnere mich an den Bau des Wehres und denke an so viele kleine Geschichten, die ich aber nicht alle erzählen kann, weil es sicher den Rahmen sprengen würde.
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