M. Hennig: Das Bützow meiner Kindheit

An der Warnow
Ein laues Lüftchen wehte. Welch eine schöne Frühjahrssonne. Ich setzte mich auf mein Fahrrad, um eine kleine Runde durch Bützow zu fahren. Eigentlich ohne Ziel, aber dann führte mich mein Weg über die Lange Straße und die Bahnhofstrasse, an den Garagen im Verbindungsweg und dem Andreassteig vorbei, in Richtung Vierburg. Der schmale Weg zum Ziegelhofweg weckte in mir Kindheitserinnerungen: Ich sah mich als kleines Mädchen dort entlanglaufen, die Abkürzung quer durch die Wiesen, zu unserer Badestelle an der Warnow. Die Wiese war mit allerlei Kleingetier bevölkert. Ich und auch viele andere Kinder aus der Bahnhofsgegend verbrachten ganze Sommernachmittage dort, badete in der Warnow, wo die Strömung nicht so stark war. War die Schule vorbei und die Hausaufgaben gemacht, schnappte ich mir die Badesachen und machte mich auf den Weg. Wie habe ich die Sommerferien herbeigesehnt! An diesen langen Sommertagen waren wir Kinder von morgens bis abends dort, kamen nur zum Essen nach Hause. Nicht nur wir, sondern auch viele Jugendliche und Erwachsene badeten in der Warnow oder lagen auf ihren Decken auf der Wiese. Das Gras war manchmal so hoch, dass man sich darin versteckten konnte. Wurde es gemäht, an trockenen Tagen, roch es überall nach frischem Heu. Meine großen Brüder und deren Freunde hatten zwei Stege gebaut: einen quer zum Wasser, der andere ragte in den Fluss hinein, so dass man ins tiefe Wasser springen konnte. Hierfür bekamen sie Unterstützung durch das Sägewerk, die das Holz zur Verfügung stellten. Der VEB Bau fuhr den Kies heran, um den Untergrund etwas zu stabilisieren. Irgendwann wurde der Steg mutwillig zerstört – und den Rest erledigte dann das Wetter, bis am Ende nichts mehr davon zu sehen war.
Der Zugang zum Fluss war an beiden Seiten von mächtigen, stabilen Bäumen gesäumt. An einem ihrer dicken Äste wurde ein Seil angebunden, mit dem man mit Schmackes in Wasser schleudern konnte. Ich traute mich nicht so recht, aber für die Größeren war es eine Freude. Solange ich noch nicht Schwimmen konnte, nahmen mich meine Geschwister mit – später nahmen sich zwei große Mädchen meiner an und brachten es mir bei. So richtig unter Beweis stellte ich meine Schwimmkünste dann, indem wir von der Badestelle, an den Bootshäusern vorbei, zur Holzbrücke am Gummiweg (der heutigen Fritz-Reuter-Allee) schwammen.
Die großen Jungen sprangen von dem Brückengeländer kopfüber ins Wasser, um so tief wie möglich zu tauchen. Manch einer von ihnen brachte auch etwas vom Grund mit nach oben. Sie mussten aber auch aufpassen, dass nicht gerade ein Abschnittsbevollmächtigter (kurz ABV) vorbeikam, denn dann gab es mächtig Ärger. Die beliebtesten Fundstücke waren Gewehre oder Pistolen, die die Wehrmachtsangehörigen in der Kriegszeit dort ins Wasser geworfen hatten. Ich kann mich noch gut erinnern, dass einer meiner Brüder dort eine Pistole fand, in das Gebäude der Staatssicherheit am Fritz-Reuter-Platz brachte – und es sehr lange dauerte, bis er wieder aus dem Gebäude kam.
Das Wasser der Warnow war am Ufer so klar, dass man unter den angeschwemmten Baumwurzeln Krebse fangen konnte, wenn man geschickt war. Manchmal zwickten uns die Krebse aber auch mit ihren Scheren – das gab ein Gejauchze.
Ab und zu kamen auch Paddler und Ruderer vorbei, die dann auch mal bespritzt wurden. Ich mochte die kleinen versteckten Einbuchtungen am Flussrand, die Anglern anlegten, um dort in Ruhe zu angeln. Sie waren von Bäumen und Büschen bedeckt. Diese Stellen wurden auch gern von Liebespaaren genutzt, um ungestört zu sein. Wenn wir am späten Abend im Dunkeln baden gingen, konnte man das Leuchten der Glühwürmchen sehen, die in Schwärmen über Gebüsche schwirrten. Gelegentlich zelteten sogar Menschen am Warnowufer.
All das verschwand, als die Warnow umgeleitet wurde. Badestelle und Schwimmstrecke wucherten zu und vermoderten immer mehr, die Natur eroberte sich ihr Terrain zurück.
Ich saß noch einige Zeit an der ehemaligen Badestelle und hing meinen Gedanken nach. Dann setzte ich mich wieder aufs Rad und fuhr an der Warnow, deren Strömung mich nicht begleiten konnte, da es diese ja nicht mehr gibt, über die zwei Brücken zurück nach Hause.
Das Bahnhofsviertel
Ich sehe mich auf einer Fotografie. Ungefähr zwei Jahre alt muss ich wohl gewesen sein. Wer das Foto gemacht hat, weiß ich nicht. Wir sitzen in einem aus Korb geflochtenen Kinderbett auf Rädern vor der Bahnhofsuhr, die mitten auf dem Bahnhofvorplatz stand: Eine gemauerte Säule mit roten Klinkern, ganz oben eine Uhr, die in vier Richtungen zeigt. An den Seiten sind Werbeplakate angebracht. Meine beiden älteren Brüder und ich sitzen in dem Wagen. Ein Nachbarmädchen, älter als wir, steht daneben. Es ist ein schöner Sommertag. Einmal mehr fährt ein dampfender Koloss in den Bahnhof ein und gibt einen schrillen Pfeifton von sich. Menschen, kleine und große, steigen ein und aus und nach ein paar Minuten hebt der Schaffner seine Kelle. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung.
Für mich als Kind war es eine Freude, wenn ich mit dem Zug reisen durfte. Wir haben uns oft am Bahnhof herumgetrieben. Hatten wir einen Zehner in der Tasche, holten wir uns aus der Mitropa eine Brause. Meine Freundin und ich haben uns gerne an den Tischen von Reisenden gesetzt und sind mit ihnen ins Gespräch gekommen, bis der Zug kam.
„Es wird wieder Vieh verladen“, rief einer der Freunde. Und schon liefen wir zur Verladerampe und sahen zu, wie die Bauern die Kühe oder Schweine auf die bereitgestellten Waggons scheuchten. Das war ein Tumult. Es quickte oder muhte und die Bauern schimpften, wenn sich das Vieh wehrte und versuchte in eine andere Richtung zu laufen. Auch wenn kein Vieh verladen wurde, trieben wir uns auf dem dafür vorgesehenen Gelände herum. Die Gatter waren schöne Klettergerüste und da sie regelmäßig gereinigt wurden, brauchten man keine Angst zu haben, dass man irgendwo in einen Fladen trat. Vom Speicher führte ein langes Rohr über die Straße, hin zur Verladestation, wo die Spezialwaggons für das Getreide standen. Diese wurden dann mittels einer Förderschnecke befüllt.
An den beiden Seiten des Eingangs zum Bahnsteig standen zwei Kabinen, in denen der Schaffner stand und die Fahrkarten der Reisenden abknipste. Daneben befand sich eine Waage, in die man einen Zehner stecken musste, wenn man wissen wollte wie schwer man war. Am Fahrkartenschalter wurden die Fahrkarten, kleine Pappkärtchen, mit Reiseziel, Preis, Reisedatum und Entfernungsangabe bedruckt. Bevor mein Opa in Rente ging, war er in der Gepäckaufbewahrung beschäftigt. Auch meine Tante arbeitete bei der Bahn.
Hinter den Bahnsteigen sah man das Oberbauwerk (OBW). Dort haben wir in der Schulzeit unseren PA-Unterricht (PA = praktische Arbeit) in einem ausrangierten Waggon gemacht. Wir mussten kleine Metallplättchen bearbeiten. Schneiden, Stanzen und viel Feilen – und am Ende wurde es doch keine gerade Kante.
Die Sirene heulte auf. Drei Mal. Wo brennt es? Es war an einem Wahlsonntag und wir flitzen auf den Dachboden unseres Hauses, um durch die Luke zu schauen. Wir hatten einen guten Überblick und sahen dicke Rauchschwaden in unmittelbarer Nähe. Und wieder runter, rüber über die Straße, durch den Weg zwischen den Gärten, Richtung Bahnhofsgebäude. Da kamen sie. Die Feuerwehr mit lautem Tatütata. Der Schacht der Ofenfabrik brannte, wir beobachteten es von der gegenüberliegenden Seite. Die Polizei passte auf, dass wir ja nicht zu dicht an das Gebäude kamen und die Feuerwehrleute beim Löschen behinderten. Ein Gewimmel, denn wir waren ja nicht die einzig Neugierigen. Mit vollem Einsatz versuchten die Feuerwehrmänner, den Brand zu löschen und ein Übergreifen auf die danebenstehenden Häuser zu verhindern. Trotzdem blieben am Ende nur zwei Schornsteine und viele verbrannte Steine und Kacheln zurück – von der Vorderfront der Fabrik war nichts mehr übrig.
An der Ecke der Kreuzung vor dem Bahnhof gab es damals noch eine Gastwirtschaft, eigentlich mehr eine Kneipe. „Wir gehen zu Hubert“ hieß es, wenn man dort hinwollte. Unmittelbar daneben befand sich eine kleine Stahlbaufirma namens Stahlfast, dahinter dann Gärten (jetzt Neubaugebiet der AWG).
Jede Woche kam ein LKW mit russischen Soldaten zum Bahnhof. Diese nahmen dann den aus Rostock kommenden Zug, der sie nach Hause oder in eine andere Garnison brachte. Die älteren Kinder haben sich dann mit den Soldaten unterhalten, so gut es eben ging. Mitunter wurden auch kleine Tauschgeschäfte gemacht und man ging mit einem echten russischen Teil nach Hause.
Die Darnow
Ich schaute durch das Fenster in die sternenklare Nacht und sah, wie die Schneeflocken sachte zu Boden glitten, um dort im glitzernden Mondschein liegenzubleiben. Ich konnte es gar nicht abwarten bis die Nacht zu Ende ging, denn draußen lag inzwischen stiefelhoher Schnee. Eine Freude für uns Kinder – für die Erwachsenen weniger, denn die mussten Wege und Straßen vom Schnee befreien. In einem Winter lag der Schnee so hoch, dass ich kaum noch darüber hinwegsehen konnte. Der Weg zum Bäcker oder Konsum wurde freigeschaufelt – gerade so breit, dass zwei Leute aneinander vorbeigehen konnten.
Was macht man an solchen schönen, verschneiten Winterferientagen? Den Schlitten schnappen, den wir zu Weihnachten bekommen hatten – und dann ab in die Darnow, zu unserem Rodelberg. Mit meinen Geschwistern und Freunden machte ich mich voller Freude auf den Weg: laut schnatternd, warm eingemummelt. Wir stapften durch die Carl-Moltmann-Straße zum Bahnübergang nach Wolken. Hatte man Pech, waren die Schranken am Bahndamm geschlossen: Dann hieß es warten. Kam ein Güterzug vorbei, zählten wir die Waggons. Danach passierten wir Wolken, gingen über die alte, heute nicht mehr vorhandene Holzbrücke, die über den Bützow-Güstrow-Kanal führte, in Richtung Schwaan.
Unterwegs kamen wir auch am Haus meines Opas vorbei. Dort gab es im Vorgarten einen ausgehöhlten Fliederbusch, unter dem man an heißen Sommertagen im Schatten bei Kaffee und Kuchen sitzen konnte, den fand ich großartig. Da es kein fließendes Wasser im Haus gab, musste dieses von einer Pumpe auf der anderen Straßenseite geholt werden – mit zwei Holzeimern, die man an einer über die Schulter gehängten Wacht trug. Wenn ich mal zu Besuch war, durfte ich meinen Opa begleiten. Er lachte, wenn ich versuchte, den eisernen Pumpenschwengel zu bewegen und es mir nicht gelang.
Wir überquerten einen zweiten Bahnübergang (die Gleise führen nach Güstrow), kamen an der ehemaligen Fahnenfabrik vorbei und durchquerten den Wald – und da war sie dann, unsere Rodelbahn. Wer die Schneise gebaut hat, die sich im Wald befand, weiß ich nicht. Vielleicht waren schon meine Eltern als Kinder dort rodeln. Die Schneise war breit genug, um nebeneinander oder in Schlange rodeln zu können – und wenn man genug Schwung nahm, erreichte man sogar den Rand der Straße. Was war das für eine Freude, den großen Berg hinunterzurodeln. Weniger schön fand ich es, ihn dann schwitzend wieder nach oben zu kraxeln. Hatte ich dann oben meinen Schlitten zum Rodeln ausgerichtet, rief ich schon vor dem Losfahren: „Bahn frei, Osterei“.
Direkt neben der Rodelbahn befand sich ein steiler Abhang, der auch Todesbahn genannt wurde. Der eine oder andere hat sich schon dem Wagnis ausgesetzt und hatten dann Glück, wenn er auf der anderen Seite, vor den Bäumen, zum Stehen kam.
Erst als sich die Sonne neigte, wurde es Zeit nach Hause zu gehen – erschöpft, aber glücklich und zufrieden. In nassen Sachen kamen wir zuhause an und setzen uns nach dem Umkleiden an den wärmenden Kachelofen, in dessen Röhre Bratäpfel lagen.
Außerdem erinnere ich mich noch an das „Manöver Schneeflocke“, bei dem wir in der Darnow als Schulgruppe verschiedene Stationen anlaufen und dort Aufgaben lösen mussten. Dazu gehörte das Lesen von Tierspuren (die natürlich nicht im Schnee zu sehen waren, sondern auf einer Vorlage gemalt wurden) und die Orientierung mit dem Kompass.
Und es gibt noch eine weniger schöne Erinnerung an die Darnow, nämlich an den Crosslauf, den wir mit unserer Schule dort machen mussten. Die Strecke ging bergauf und bergab. Ich war nie eine schnelle Läuferin, deshalb fiel es mir und auch anderen Kindern schwer, die Strecke im Laufschritt zu bewältigen. Die Letzte war ich dennoch nie.
Die Darnow hat aber auch eine grausige Geschichte. Im Wald steht ein Sühnestein. Er weist auf einen Doppelmord hin, den ein Diener vor mehreren hundert Jahren an seinem Herrn und dessen Kutscher verübt haben soll. Die Rodelbahn ist heute nur noch zu erahnen – die Natur hat sie zurückerobert. Damit auch diese Erinnerung nicht in Vergessenheit gerät, habe ich sie aufgeschrieben.
Die Vierburg
Die Gaststätte an der Viehburg war früher eine Zollstation: Wer nach Bützow wollte, musste hier Zoll entrichten, die Tafel am Eingang informierte darüber, wieviel gezahlt werden musste.
Mit Tschingtarassassa und Bumsfallera marschierten wir hinter einer Musikkapelle durch den Vierburger Wald, in Richtung der Vierburg-Gaststätte. Voller Vorfreude – es war Kindertag und wir waren gespannt, was dort auf uns wartete. Es war ein schöner, sonniger Tag, Tische und Bänke standen auf der Wiese gegenüber der Gaststätte. Wir tranken Muckefuck und aßen Kuchen. Danach wurde gespielt: Blinde Kuh, Topfschlagen, Sackhüpfen, Ballweitwurf und dergleichen. Und immer bekam man zur Belohnung eine Süßigkeit, so dass wir gleich mehrmals daran teilnahmen. War das ein Tumult, Gekicher, Geschnatter und Getobe – aber alle fühlten sich wohl. Die Erwachsenen, die sich gerade nicht um uns kümmerten, saßen in der Gaststätte und löschten ihren Durst oder aßen eine Bockwurst.
Sonntags war Wandertag mit der Familie – und mich lockte die Aussicht, in der Vierburg eine Brause zu bekommen. Ich zog ein Kleidchen an, denn es war ja Sonntag. Sonst lief ich eher in Hosen herum. Wir waren nie die einzigen Spaziergänger auf diesem Weg, die Vierburg-Gaststätte war immer ein sehr beliebter Ausflugsort. Da es dort einen großen Saal und gegenüber eine große Wiese gab, fanden dort auch häufig Veranstaltungen statt. Einmal war ich sogar zu einer Kinovorstellung dort, obwohl es ja auch ein Kino in der Stadt gab.
Nach dem Mittagessen machten wir uns auf den Weg. Er führte uns durch den Andreassteig, vorbei an dem schmalen Weg zur Badestelle, an dem Pavilloner Schott, wo später Gärten entstanden und die Schule gebaut wurde. Der Sportplatz linker Hand war zwar klein, aber immer gepflegt. Hinter dem Sportplatz befand sich ein kleines Wäldchen, in dem meine Geschwister und deren Freunde kleine Höhlen bauten, die mit Stöcken und Grassoden abgedeckt wurden, in denen sie sich dann verstecken konnten. Dann begann der Wald und es wurde schön schattig. Wir tanzten vorneweg, liefen, sprangen, pflückten Anemonen, sammelten Kienäpfel und die Vögel zwitscherten uns zu. Die Erwachsenen folgten langsamer, oft in Gespräche vertieft. Zur rechten Hand erstreckt sich der Viersee, der bei Anglern sehr beliebt ist.
Es führte aber auch noch ein anderer Weg zur Vierburg – zwischen den Gärten entlang, in Richtung Bahnhof. Bog man an der Sargtischlerei ab, gelangte man in den Vierburgweg, vorbei an einem Getreidespeicher und dem Sägewerk. Am Sägewerk blieb ich oft stehen um zu beobachten, wie die große Zange, die auf Seilen lief, die großen Baumstämme packte und auf eine kleine Lore legte. Die Stämme wurden dann durch das Sägegatter geschoben. Mehrere Sägeblätter schnitten diese mit lautem Rattern in breite Bretter. Ich habe mir immer die Ohren zugehalten, weil es so laut war. Am Anfang des Werkes säumten Kastanien- und Eichenbäume den Landweg, der in Richtung Zernin und Warnow führt. Später mussten einige der Bäume einer neuen Chaussee weichen.
Weiter ging es, vorbei an Gärten, dem Sportplatz, nun zur rechten Hand, der Hühnerfarm und dem Kohlehandel. Die Molkerei gab es noch nicht. Der Vierburger Wald begann – hier trafen beide Wege aufeinander und wir folgten dem schmalen Pfad, bis wir die Vierburg erreichten. Dort setzten wir uns dann wahlweise in die Gaststätte oder auf den kleinen Hinterhof, mit seinen Tischen und Stühlen. Die Gaststättenbetreiber, eine Familie namens Ohde, die auch auf dem Gelände wohnte, bewirtete uns oder wir holten die Getränke vom Tresen.
Die Warnow konnte man von der Vierburg aus nicht sehen. Aber eine Dampflok, die laut pfeifend Dampf ausstieß, fuhr auf der anderen Straßenseite, hinter der Wiese vorbei. Einmal wagten meine Freunde und ich uns über die Schienen, obwohl das streng verboten war, um dahinter zum Peetscher See zu gelangen. Dort konnten wir einen Adlerhorst beobachten. Einer der Jungen hatte ein Fernglas mitgenommen. Wir konnten einen der Adler über den See kreisen sehen, der dann wie ein Pfeil ins Wasser schoss und einen Fisch mit seinen Krallen festhielt.
Der Fritz–Reuter Platz
Meine Kindheit begann am Fritz-Reuter-Platz, im Bahnhofsviertel. Ich habe später das Wort „Fleutendörp“ gehört, aber in meinem Umfeld wurde der Platz nie so genannt. Vor unseren Fenstern standen große Eichenbäume, die den Platz sehr dunkel machten und im Herbst in einen Blätterwald verwandelten. Die Bäume wurden später gefällt und es wurden neue Setzlinge gesteckt. Die Baumwurzeln sind im Laufe der Jahrzehnte langsam verwittert. Ein dreieckiges Rondell mit einer uralten Linde darin bildet den Mittelpunkt. Um sie herum war eine Bank und irgendwann wurde auch ein Stein mit dem Namen „Fritz Reuter“ aufgestellt.
Wir Kinder trafen uns dort, um uns darüber auszutauschen, was der Tag so gebracht hatte – oder noch bringen würde. Im Herbst, wenn die Linde blühte, versuchten wir, diese Blüten zu pflücken, so hoch wir kamen, um sie dann in der Apotheke zu verkaufen. Drei Straßen beginnen an diesem Platz. Eine davon ist die Fritz-Reuter-Allee, die in Richtung Innenstadt führt. Für mich war immer Sonntag, wenn meine Mutter mich mit in die Stadt nahm, um dort etwas zu erledigen. Denn dann gab es immer eine Kleinigkeit für mich, was nicht so oft vorkam – wir waren viele Kinder. Die zweite Straße führt zum Andreassteig und in Richtung Bahnhofstrasse. Alle drei Straßen sind mit Kopfsteinen gepflastert.
In unserem Haus gab es drei Aufgänge und an der Ecke unseres Hauses befand sich eine HO-Verkaufsstelle, die über fünf breite Stufen zu erreichen war. Neben dem Eingang wurden im Herbst Kartoffeln aus großen Säcken verkauft, die auf einer Holzwaage mit verschiedenen Gewichten abgewogen wurden. Die Menge bestimmte der Kunde.
Mein kleiner Bruder stellte sich öfter auf der Treppe vor dem Ladeneingang und sang. Es gab Kunden, die ihm einen Zehner gaben, den er dann auch gleich in Süßigkeiten umsetzte. Im Nebengebäude befand sich ein Friseur, in einem Raum, der nicht größer war als ein Wohnzimmer. Ausgestattet mit zwei kopfhohen Lehnstühlen für die Wartenden und einen Friseurstuhl mit einer Nackenstütze, platziert vor einem Spiegel. In der Ecke befand sich ein Vorhang, hinter dem der Friseur seine Utensilien verwahrte, und an der Wand hing ein langes breites Lederband, an dem er das Rasiermesser schärfte. Da ich noch zu klein war, um in den Spiegel zu schauen, legte er ein Brett über die Stuhllehnen. Auf dieses setzte er mich, um mir die Haare schneiden zu können.
Auf der anderen Straßenseite befand sich das gefürchtete Gebäude der Staatssicherheit. Als Kind nahm ich es gar nicht wahr – es stand dort eben einfach. Einmal wurde mein Vati angezählt, weil er die DDR-Fahne verkehrtherum auf einen Stiel gezogen hatte und diese dann so in den Fahnenhalter steckte.
An der Ecke zur Bahnhofstrasse war die Bäckerei Straebelow mit zwei großen Schaufenstern. Dort bekamen wir öfter mal eine Tüte mit Kuchenkrümeln oder Kanten, die wir dann sofort verputzten. Am Sonntag, wenn mal das Brot ausgegangen war (was selten vorkam), bekam man es bei diesem Bäcker – auf dem Hof.
Die dritte Straße am Fritz-Reuter-Platz war die Bahnhofstrasse. Dort gab es viele Geschäfte, darunter einen zweiten Friseur, einen Milchladen und später auch einen Eisladen. Einen Krämerladen (Sievert hießen die Inhaber) gab es auch. Dort hingen die Waren sogar an der Decke, weil sein Sortiment so groß und im Verkaufsraum zu wenig Platz war. Eine Linde warf ihren Schatten in den Laden und machte diesen dunkel. Vor dem Laden stand eine Bank, auf der meist ältere Männer saßen, ihr Bierchen tranken und klönten. Es gab noch eine zweite Bäckerei (Brandt), eine Heißmangel (Schreiber), eine Molkerei und einen Schuster (Pinak), der seine kleine Werkstatt hinten auf dem Hof hatte. Der Raum des Schusters war so klein, dass er im Sitzen an alles herankam. Auf der anderen Straßenseite befand sich die Firma des Brunnenbauers Zelck, den es heute noch gibt, die Konsumbaracke, die Fleischerei Ahrens – heute Zweigstelle der Bibliothek – und der Blumenladen Feil auf dem Hinterhof.
Da es damals noch nicht so viele parkende Autos gab, konnten wir gut auf der Straße vor dem Haus spielen. Kippel-Kappel, Bäumchen wechsel dich, Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser? Lange Nase, Murmeln, „Lütt letzt mit anbacken“ und dergleichen mehr. Beliebt war auch Völkerball – dafür nutzen wir den Weg zwischen den Gärten zum Bahnhof hin. Kinder gab es viele und das Alter spielte keine Rolle. Ab und zu flog auch mal ein Ball in die Gärten. Die Älteren und Geschicktesten holten ihn dann wieder raus, was manchem Gartenbesitzer missfiel.
Federball und Gummitwist gehörten damals zu meinen Lieblingsspielen. Abends im Herbst spielten wir auch gerne Verstecken. Einer lehnte sich an den Baum und hielt sich die Augen zu und rief: „Eins, Zwei, Drei, Vier Eckstein, alles muss Versteckt sein“ – und alle schwirrten auseinander. Gerne versteckte ich mich hinter der Buchsbaumhecke, die das Rondell umfasste. Sie wurde zwar niedrig gehalten, aber als Kind konnte man sich gut dahinterlegen. Auch in die Keller der drei Hauseingänge, die nie abgeschlossen waren, flüchteten wir. Und da es auch Ausgänge zu den Höfen gab, war es nicht leicht, die Versteckten zu finden.
„Er kommt, er kommt“, rief eines der Kinder. Ein Barkas rollte über das Kopfsteinpflaster und hielt vor einem Haus im Andreassteig. Im Anbau des Hauses befand sich ein Kühlraum, in dem das Eis vom Eisladen in der Bahnhofstrasse gelagert wurde. Wenn die größeren Kinder beim Ausladen der Eisbehälter und der Kartons mit dem Stangeneis halfen, bekamen aber auch die kleinen etwas von diesem leckeren Eis.
Im Herbst, wenn die Kartoffelerntezeit war, hielt vor unserem Haus ein LKW mit länglichen Holzsitzen, angeordnet in drei Reihen, um die Frauen, Männer und Kinder zum Kartoffeln stoppeln abzuholen. Die Kartoffeln wurden in Kippen gesammelt und die starken Männer kippten sie dann auf einen Anhänger. Da meine Mutter der Kinder wegen zu Haus war, bekam sie für mich keinen Kindergartenplatz. Noch heute sehe ich es vor mir, wie wir nach der Absage traurig nach Haus trotteten. Während der Kartoffelerntezeit ging ich dann aber trotzdem in den Kindergarten - in Parkow und Zepelin. Am Nachmittag fuhr der LKW zuerst zum Kindergarten, um uns dort abzuholen, wenn die Frauen und Männer noch nicht fertig waren. Dann bekamen wir auch noch ein Stück von dem herrlichen Streuselkuchen, den es des Öfteren für die Kartoffelsammler/innen zum Kaffee gab.
Wenn Laternenzeit war, trafen sich viele Kinder mit ihren Eltern an der Linde. Wir marschierten dann zur Musik einer Kapelle durch die Straßen und sangen „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne…“
Mein erster Kinobesuch
Es war ein sonniger Sonntagmorgen. Kein Wölkchen am Himmel. Ich war voller Vorfreude, denn meine Brüder nahmen mich mit, in die Stadt. Ins Kino. Was war ich aufgeregt! Ich trug ein geblümtes Seidenkleid mit Petticoat, dazu weiße Söckchen und rote Lackschuhe. Was habe ich dieses Kleid geliebt – und es auch nur am Sonntag getragen. An der Hand meiner Brüder tanzte ich voller Freude den Gummiweg (die heutige Fritz-Reuter-Allee) entlang. Über die Holzbrücke, die über die Warnow führt, ging es immer weiter in Richtung der Stadt. Am Ende des Weges bogen wir dann rechts in die Gartenstraße ein, am ungeliebten Zahnarzt vorbei. Auf der Brücke mit dem schmiedeeisernen Geländer blieben wir kurz stehen und schauten in den Fluss, einen Seitenarm der Warnow. Wie flach es dort war! Man konnte die Bewegungen der Wasserpflanzen in der Strömung beobachten, die Köpfe kleiner Fische tauchten hier und da aus dem Wasser auf. Danach ging es weiter die Straße Am Ausfall entlang – und dann in die Nebengasse, in der sich das Kino befand. Dort führte uns unser Weg an zwei großen Holztoren und dem großen Zufahrtstor zur Fleischerei vorbei. Vor dem Kino hatte sich schon eine längere Schlange von Kindern und Erwachsenen gebildet, wir reihten uns ein. Während wir warteten, betrachtete ich die große Schautafel mit den Glastüren an der Wand neben der Eingangstür. Dort hingen die neuesten Filmplakate.
Eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn wurde die Tür geöffnet. Sofort entstand ein Gedrängel, aber die Kinomitarbeiter sorgten schnell wieder für Ordnung. Wir warteten wieder, dieses Mal im Foyer, vor der Kinokasse. Auch hier hingen Plakate an den Wänden, Bilder von Schauspielern und Filmposter. Und dann hielt ich sie endlich in der Hand – meine Eintrittskarte. Im Vorraum riss eine Frau ein Stück davon ab und wir durften den Kinosaal betreten. Umhüllt von lautem Stimmengewirr und mattem Licht gingen wir den abschüssigen Gang neben den Stühlen hinunter und suchten uns einen Platz.
Welches ist die beste Reihe? Von wo aus kann man am besten sehen? Während ich noch alles staunend betrachtete, waren die guten Plätze gefunden. Kurz darauf wurde das Licht gedämmt, die Stimmen im Saal verstummten. Der Vorhang öffnete sich, die Leinwand wurde hell und der Film begann, begleitet von zwei flackernden Lichtern, die durch kleine Fensteröffnungen zu sehen waren. „Die Prinzessin mit dem goldenen Stern“ wurde gezeigt und alle schauten gespannt dem Geschehen auf der Leinwand zu. So ein schönes Märchen! Als der Film endete und das Licht wieder anging, stand ich noch vollkommen im Bann der Geschichte. Das Geschnatter und Gewusel setzte wieder ein und kurz darauf strömten die Besucher durch die großen Holztore ins Freie, an denen wir vorher vorbei gegangen waren. Geblendet von der Sonne suchte ich meine Brüder. An ihrer Hand begab ich mich auf den Heimweg, im Schatten der Bäume in der Bahnhofsstraße und voll von neuen Eindrücken.
Handballtraining Ende der 1960er Jahre
Unser Handballtraining fand immer in der BHG-Sporthalle statt, zwischen der Wäscherei und der katholischen Kirche. Und die Turniere meist am Sonntag, ebenfalls in der Halle, auch wenn die nicht besonders groß war. Meine Mannschaft ging mal als Verlierer und mal als Sieger hervor. Ich erinnere mich noch gut daran, dass einmal die Kinderfernsehsendung „Mach mit, mach‘s nach, mach‘s besser“ in dieser Halle zu Gast war, mit dem Moderator Adi und einer Aufführung des Güstrower Rollschuhclubs. Die schmalen Zuschauerreihen oben und unten waren voll besetzt und der eine und andere hatte Mühe etwas zu sehen.