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M. Hennig: Das Bützow meiner Kindheit

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

An der Warnow

Ein laues Lüftchen wehte. Welch eine schöne Frühjahrssonne. Ich setzte mich auf mein Fahrrad, um eine kleine Runde durch Bützow zu fahren. Eigentlich ohne Ziel, aber dann führte mich mein Weg über die Lange Straße und die Bahnhofstrasse, an den Garagen im Verbindungsweg und dem Andreassteig vorbei, in Richtung Vierburg. Der schmale Weg zum Ziegelhofweg weckte in mir Kindheitserinnerungen: Ich sah mich als kleines Mädchen dort entlanglaufen, die Abkürzung quer durch die Wiesen, zu unserer Badestelle an der Warnow. Die Wiese war mit allerlei Kleingetier bevölkert. Ich und auch viele andere Kinder aus der Bahnhofsgegend verbrachten ganze Sommernachmittage dort, badete in der Warnow, wo die Strömung nicht so stark war. War die Schule vorbei und die Hausaufgaben gemacht, schnappte ich mir die Badesachen und machte mich auf den Weg. Wie habe ich die Sommerferien herbeigesehnt! An diesen langen Sommertagen waren wir Kinder von morgens bis abends dort, kamen nur zum Essen nach Hause. Nicht nur wir, sondern auch viele Jugendliche und Erwachsene badeten in der Warnow oder lagen auf ihren Decken auf der Wiese. Das Gras war manchmal so hoch, dass man sich darin versteckten konnte. Wurde es gemäht, an trockenen Tagen, roch es überall nach frischem Heu. Meine großen Brüder und deren Freunde hatten zwei Stege gebaut: einen quer zum Wasser, der andere ragte in den Fluss hinein, so dass man ins tiefe Wasser springen konnte. Hierfür bekamen sie Unterstützung durch das Sägewerk, die das Holz zur Verfügung stellten. Der VEB Bau fuhr den Kies heran, um den Untergrund etwas zu stabilisieren. Irgendwann wurde der Steg mutwillig zerstört – und den Rest erledigte dann das Wetter, bis am Ende nichts mehr davon zu sehen war.

Der Zugang zum Fluss war an beiden Seiten von mächtigen, stabilen Bäumen gesäumt. An einem ihrer dicken Äste wurde ein Seil angebunden, mit dem man mit Schmackes in Wasser schleudern konnte. Ich traute mich nicht so recht, aber für die Größeren war es eine Freude. Solange ich noch nicht Schwimmen konnte, nahmen mich meine Geschwister mit – später nahmen sich zwei große Mädchen meiner an und brachten es mir bei. So richtig unter Beweis stellte ich meine Schwimmkünste dann, indem wir von der Badestelle, an den Bootshäusern vorbei, zur Holzbrücke am Gummiweg (der heutigen Fritz-Reuter-Allee) schwammen.

Die großen Jungen sprangen von dem Brückengeländer kopfüber ins Wasser, um so tief wie möglich zu tauchen. Manch einer von ihnen brachte auch etwas vom Grund mit nach oben. Sie mussten aber auch aufpassen, dass nicht gerade ein Abschnittsbevollmächtigter (kurz ABV) vorbeikam, denn dann gab es mächtig Ärger. Die beliebtesten Fundstücke waren Gewehre oder Pistolen, die die Wehrmachtsangehörigen in der Kriegszeit dort ins Wasser geworfen hatten. Ich kann mich noch gut erinnern, dass einer meiner Brüder dort eine Pistole fand, in das Gebäude der Staatssicherheit am Fritz-Reuter-Platz brachte – und es sehr lange dauerte, bis er wieder aus dem Gebäude kam.

Das Wasser der Warnow war am Ufer so klar, dass man unter den angeschwemmten Baumwurzeln Krebse fangen konnte, wenn man geschickt war. Manchmal zwickten uns die Krebse aber auch mit ihren Scheren – das gab ein Gejauchze.

Ab und zu kamen auch Paddler und Ruderer vorbei, die dann auch mal bespritzt wurden. Ich mochte die kleinen versteckten Einbuchtungen am Flussrand, die Anglern anlegten, um dort in Ruhe zu angeln. Sie waren von Bäumen und Büschen bedeckt. Diese Stellen wurden auch gern von Liebespaaren genutzt, um ungestört zu sein. Wenn wir am späten Abend im Dunkeln baden gingen, konnte man das Leuchten der Glühwürmchen sehen, die in Schwärmen über Gebüsche schwirrten. Gelegentlich zelteten sogar Menschen am Warnowufer.

All das verschwand, als die Warnow umgeleitet wurde. Badestelle und Schwimmstrecke wucherten zu und vermoderten immer mehr, die Natur eroberte sich ihr Terrain zurück.

Ich saß noch einige Zeit an der ehemaligen Badestelle und hing meinen Gedanken nach. Dann setzte ich mich wieder aufs Rad und fuhr an der Warnow, deren Strömung mich nicht begleiten konnte, da es diese ja nicht mehr gibt, über die zwei Brücken zurück nach Hause.


Das Bahnhofsviertel

Ich sehe mich auf einer Fotografie. Ungefähr zwei Jahre alt muss ich wohl gewesen sein. Wer das Foto gemacht hat, weiß ich nicht. Wir sitzen in einem aus Korb geflochtenen Kinderbett auf Rädern vor der Bahnhofsuhr, die mitten auf dem Bahnhofvorplatz stand: Eine gemauerte Säule mit roten Klinkern, ganz oben eine Uhr, die in vier Richtungen zeigt. An den Seiten sind Werbeplakate angebracht. Meine beiden älteren Brüder und ich sitzen in dem Wagen. Ein Nachbarmädchen, älter als wir, steht daneben. Es ist ein schöner Sommertag. Einmal mehr fährt ein dampfender Koloss in den Bahnhof ein und gibt einen schrillen Pfeifton von sich. Menschen, kleine und große, steigen ein und aus und nach ein paar Minuten hebt der Schaffner seine Kelle. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung.

Für mich als Kind war es eine Freude, wenn ich mit dem Zug reisen durfte. Wir haben uns oft am Bahnhof herumgetrieben. Hatten wir einen Zehner in der Tasche, holten wir uns aus der Mitropa eine Brause. Meine Freundin und ich haben uns gerne an den Tischen von Reisenden gesetzt und sind mit ihnen ins Gespräch gekommen, bis der Zug kam.

„Es wird wieder Vieh verladen“, rief einer der Freunde. Und schon liefen wir zur Verladerampe und sahen zu, wie die Bauern die Kühe oder Schweine auf die bereitgestellten Waggons scheuchten. Das war ein Tumult. Es quickte oder muhte und die Bauern schimpften, wenn sich das Vieh wehrte und versuchte in eine andere Richtung zu laufen. Auch wenn kein Vieh verladen wurde, trieben wir uns auf dem dafür vorgesehenen Gelände herum. Die Gatter waren schöne Klettergerüste und da sie regelmäßig gereinigt wurden, brauchten man keine Angst zu haben, dass man irgendwo in einen Fladen trat. Vom Speicher führte ein langes Rohr über die Straße, hin zur Verladestation, wo die Spezialwaggons für das Getreide standen. Diese wurden dann mittels einer Förderschnecke befüllt.

An den beiden Seiten des Eingangs zum Bahnsteig standen zwei Kabinen, in denen der Schaffner stand und die Fahrkarten der Reisenden abknipste. Daneben befand sich eine Waage, in die man einen Zehner stecken musste, wenn man wissen wollte wie schwer man war. Am Fahrkartenschalter wurden die Fahrkarten, kleine Pappkärtchen, mit Reiseziel, Preis, Reisedatum und Entfernungsangabe bedruckt. Bevor mein Opa in Rente ging, war er in der Gepäckaufbewahrung beschäftigt. Auch meine Tante arbeitete bei der Bahn.

Hinter den Bahnsteigen sah man das Oberbauwerk (OBW). Dort haben wir in der Schulzeit unseren PA-Unterricht (PA = praktische Arbeit) in einem ausrangierten Waggon gemacht. Wir mussten kleine Metallplättchen bearbeiten. Schneiden, Stanzen und viel Feilen – und am Ende wurde es doch keine gerade Kante.

Die Sirene heulte auf. Drei Mal. Wo brennt es? Es war an einem Wahlsonntag und wir flitzen auf den Dachboden unseres Hauses, um durch die Luke zu schauen. Wir hatten einen guten Überblick und sahen dicke Rauchschwaden in unmittelbarer Nähe. Und wieder runter, rüber über die Straße, durch den Weg zwischen den Gärten, Richtung Bahnhofsgebäude. Da kamen sie. Die Feuerwehr mit lautem Tatütata. Der Schacht der Ofenfabrik brannte, wir beobachteten es von der gegenüberliegenden Seite. Die Polizei passte auf, dass wir ja nicht zu dicht an das Gebäude kamen und die Feuerwehrleute beim Löschen behinderten. Ein Gewimmel, denn wir waren ja nicht die einzig Neugierigen. Mit vollem Einsatz versuchten die Feuerwehrmänner, den Brand zu löschen und ein Übergreifen auf die danebenstehenden Häuser zu verhindern. Trotzdem blieben am Ende nur zwei Schornsteine und viele verbrannte Steine und Kacheln zurück – von der Vorderfront der Fabrik war nichts mehr übrig.

An der Ecke der Kreuzung vor dem Bahnhof gab es damals noch eine Gastwirtschaft, eigentlich mehr eine Kneipe. „Wir gehen zu Hubert“ hieß es, wenn man dort hinwollte. Unmittelbar daneben befand sich eine kleine Stahlbaufirma namens Stahlfast, dahinter dann Gärten (jetzt Neubaugebiet der AWG).

Jede Woche kam ein LKW mit russischen Soldaten zum Bahnhof. Diese nahmen dann den aus Rostock kommenden Zug, der sie nach Hause oder in eine andere Garnison brachte. Die älteren Kinder haben sich dann mit den Soldaten unterhalten, so gut es eben ging. Mitunter wurden auch kleine Tauschgeschäfte gemacht und man ging mit einem echten russischen Teil nach Hause.


Die Darnow

Ich schaute durch das Fenster in die sternenklare Nacht und sah, wie die Schneeflocken sachte zu Boden glitten, um dort im glitzernden Mondschein liegenzubleiben. Ich konnte es gar nicht abwarten bis die Nacht zu Ende ging, denn draußen lag inzwischen stiefelhoher Schnee. Eine Freude für uns Kinder – für die Erwachsenen weniger, denn die mussten Wege und Straßen vom Schnee befreien. In einem Winter lag der Schnee so hoch, dass ich kaum noch darüber hinwegsehen konnte. Der Weg zum Bäcker oder Konsum wurde freigeschaufelt – gerade so breit, dass zwei Leute aneinander vorbeigehen konnten.

Was macht man an solchen schönen, verschneiten Winterferientagen? Den Schlitten schnappen, den wir zu Weihnachten bekommen hatten – und dann ab in die Darnow, zu unserem Rodelberg. Mit meinen Geschwistern und Freunden machte ich mich voller Freude auf den Weg: laut schnatternd, warm eingemummelt. Wir stapften durch die Carl-Moltmann-Straße zum Bahnübergang nach Wolken. Hatte man Pech, waren die Schranken am Bahndamm geschlossen: Dann hieß es warten. Kam ein Güterzug vorbei, zählten wir die Waggons. Danach passierten wir Wolken, gingen über die alte, heute nicht mehr vorhandene Holzbrücke, die über den Bützow-Güstrow-Kanal führte, in Richtung Schwaan.

Unterwegs kamen wir auch am Haus meines Opas vorbei. Dort gab es im Vorgarten einen ausgehöhlten Fliederbusch, unter dem man an heißen Sommertagen im Schatten bei Kaffee und Kuchen sitzen konnte, den fand ich großartig. Da es kein fließendes Wasser im Haus gab, musste dieses von einer Pumpe auf der anderen Straßenseite geholt werden – mit zwei Holzeimern, die man an einer über die Schulter gehängten Wacht trug. Wenn ich mal zu Besuch war, durfte ich meinen Opa begleiten. Er lachte, wenn ich versuchte, den eisernen Pumpenschwengel zu bewegen und es mir nicht gelang.

Wir überquerten einen zweiten Bahnübergang (die Gleise führen nach Güstrow), kamen an der ehemaligen Fahnenfabrik vorbei und durchquerten den Wald – und da war sie dann, unsere Rodelbahn. Wer die Schneise gebaut hat, die sich im Wald befand, weiß ich nicht. Vielleicht waren schon meine Eltern als Kinder dort rodeln. Die Schneise war breit genug, um nebeneinander oder in Schlange rodeln zu können – und wenn man genug Schwung nahm, erreichte man sogar den Rand der Straße. Was war das für eine Freude, den großen Berg hinunterzurodeln. Weniger schön fand ich es, ihn dann schwitzend wieder nach oben zu kraxeln. Hatte ich dann oben meinen Schlitten zum Rodeln ausgerichtet, rief ich schon vor dem Losfahren: „Bahn frei, Osterei“.

Direkt neben der Rodelbahn befand sich ein steiler Abhang, der auch Todesbahn genannt wurde. Der eine oder andere hat sich schon dem Wagnis ausgesetzt und hatten dann Glück, wenn er auf der anderen Seite, vor den Bäumen, zum Stehen kam.

Erst als sich die Sonne neigte, wurde es Zeit nach Hause zu gehen – erschöpft, aber glücklich und zufrieden. In nassen Sachen kamen wir zuhause an und setzen uns nach dem Umkleiden an den wärmenden Kachelofen, in dessen Röhre Bratäpfel lagen.

Außerdem erinnere ich mich noch an das „Manöver Schneeflocke“, bei dem wir in der Darnow als Schulgruppe verschiedene Stationen anlaufen und dort Aufgaben lösen mussten. Dazu gehörte das Lesen von Tierspuren (die natürlich nicht im Schnee zu sehen waren, sondern auf einer Vorlage gemalt wurden) und die Orientierung mit dem Kompass.

Und es gibt noch eine weniger schöne Erinnerung an die Darnow, nämlich an den Crosslauf, den wir mit unserer Schule dort machen mussten. Die Strecke ging bergauf und bergab. Ich war nie eine schnelle Läuferin, deshalb fiel es mir und auch anderen Kindern schwer, die Strecke im Laufschritt zu bewältigen. Die Letzte war ich dennoch nie.

Die Darnow hat aber auch eine grausige Geschichte. Im Wald steht ein Sühnestein. Er weist auf einen Doppelmord hin, den ein Diener vor mehreren hundert Jahren an seinem Herrn und dessen Kutscher verübt haben soll. Die Rodelbahn ist heute nur noch zu erahnen – die Natur hat sie zurückerobert. Damit auch diese Erinnerung nicht in Vergessenheit gerät, habe ich sie aufgeschrieben.


Die Vierburg

Die Gaststätte an der Viehburg war früher eine Zollstation: Wer nach Bützow wollte, musste hier Zoll entrichten, die Tafel am Eingang informierte darüber, wieviel gezahlt werden musste.

Mit Tschingtarassassa und Bumsfallera marschierten wir hinter einer Musikkapelle durch den Vierburger Wald, in Richtung der Vierburg-Gaststätte. Voller Vorfreude – es war Kindertag und wir waren gespannt, was dort auf uns wartete. Es war ein schöner, sonniger Tag, Tische und Bänke standen auf der Wiese gegenüber der Gaststätte. Wir tranken Muckefuck und aßen Kuchen. Danach wurde gespielt: Blinde Kuh, Topfschlagen, Sackhüpfen, Ballweitwurf und dergleichen. Und immer bekam man zur Belohnung eine Süßigkeit, so dass wir gleich mehrmals daran teilnahmen. War das ein Tumult, Gekicher, Geschnatter und Getobe – aber alle fühlten sich wohl. Die Erwachsenen, die sich gerade nicht um uns kümmerten, saßen in der Gaststätte und löschten ihren Durst oder aßen eine Bockwurst.

Sonntags war Wandertag mit der Familie – und mich lockte die Aussicht, in der Vierburg eine Brause zu bekommen. Ich zog ein Kleidchen an, denn es war ja Sonntag. Sonst lief ich eher in Hosen herum. Wir waren nie die einzigen Spaziergänger auf diesem Weg, die Vierburg-Gaststätte war immer ein sehr beliebter Ausflugsort. Da es dort einen großen Saal und gegenüber eine große Wiese gab, fanden dort auch häufig Veranstaltungen statt. Einmal war ich sogar zu einer Kinovorstellung dort, obwohl es ja auch ein Kino in der Stadt gab.

Nach dem Mittagessen machten wir uns auf den Weg. Er führte uns durch den Andreassteig, vorbei an dem schmalen Weg zur Badestelle, an dem Pavilloner Schott, wo später Gärten entstanden und die Schule gebaut wurde. Der Sportplatz linker Hand war zwar klein, aber immer gepflegt. Hinter dem Sportplatz befand sich ein kleines Wäldchen, in dem meine Geschwister und deren Freunde kleine Höhlen bauten, die mit Stöcken und Grassoden abgedeckt wurden, in denen sie sich dann verstecken konnten. Dann begann der Wald und es wurde schön schattig. Wir tanzten vorneweg, liefen, sprangen, pflückten Anemonen, sammelten Kienäpfel und die Vögel zwitscherten uns zu. Die Erwachsenen folgten langsamer, oft in Gespräche vertieft. Zur rechten Hand erstreckt sich der Viersee, der bei Anglern sehr beliebt ist.

Es führte aber auch noch ein anderer Weg zur Vierburg – zwischen den Gärten entlang, in Richtung Bahnhof. Bog man an der Sargtischlerei ab, gelangte man in den Vierburgweg, vorbei an einem Getreidespeicher und dem Sägewerk. Am Sägewerk blieb ich oft stehen um zu beobachten, wie die große Zange, die auf Seilen lief, die großen Baumstämme packte und auf eine kleine Lore legte. Die Stämme wurden dann durch das Sägegatter geschoben. Mehrere Sägeblätter schnitten diese mit lautem Rattern in breite Bretter. Ich habe mir immer die Ohren zugehalten, weil es so laut war. Am Anfang des Werkes säumten Kastanien- und Eichenbäume den Landweg, der in Richtung Zernin und Warnow führt. Später mussten einige der Bäume einer neuen Chaussee weichen.

Weiter ging es, vorbei an Gärten, dem Sportplatz, nun zur rechten Hand, der Hühnerfarm und dem Kohlehandel. Die Molkerei gab es noch nicht. Der Vierburger Wald begann – hier trafen beide Wege aufeinander und wir folgten dem schmalen Pfad, bis wir die Vierburg erreichten. Dort setzten wir uns dann wahlweise in die Gaststätte oder auf den kleinen Hinterhof, mit seinen Tischen und Stühlen. Die Gaststättenbetreiber, eine Familie namens Ohde, die auch auf dem Gelände wohnte, bewirtete uns oder wir holten die Getränke vom Tresen.

Die Warnow konnte man von der Vierburg aus nicht sehen. Aber eine Dampflok, die laut pfeifend Dampf ausstieß, fuhr auf der anderen Straßenseite, hinter der Wiese vorbei. Einmal wagten meine Freunde und ich uns über die Schienen, obwohl das streng verboten war, um dahinter zum Peetscher See zu gelangen. Dort konnten wir einen Adlerhorst beobachten. Einer der Jungen hatte ein Fernglas mitgenommen. Wir konnten einen der Adler über den See kreisen sehen, der dann wie ein Pfeil ins Wasser schoss und einen Fisch mit seinen Krallen festhielt.


Der Fritz–Reuter Platz

Meine Kindheit begann am Fritz-Reuter-Platz, im Bahnhofsviertel. Ich habe später das Wort „Fleutendörp“ gehört, aber in meinem Umfeld wurde der Platz nie so genannt. Vor unseren Fenstern standen große Eichenbäume, die den Platz sehr dunkel machten und im Herbst in einen Blätterwald verwandelten. Die Bäume wurden später gefällt und es wurden neue Setzlinge gesteckt. Die Baumwurzeln sind im Laufe der Jahrzehnte langsam verwittert. Ein dreieckiges Rondell mit einer uralten Linde darin bildet den Mittelpunkt. Um sie herum war eine Bank und irgendwann wurde auch ein Stein mit dem Namen „Fritz Reuter“ aufgestellt.

Wir Kinder trafen uns dort, um uns darüber auszutauschen, was der Tag so gebracht hatte – oder noch bringen würde. Im Herbst, wenn die Linde blühte, versuchten wir, diese Blüten zu pflücken, so hoch wir kamen, um sie dann in der Apotheke zu verkaufen. Drei Straßen beginnen an diesem Platz. Eine davon ist die Fritz-Reuter-Allee, die in Richtung Innenstadt führt. Für mich war immer Sonntag, wenn meine Mutter mich mit in die Stadt nahm, um dort etwas zu erledigen. Denn dann gab es immer eine Kleinigkeit für mich, was nicht so oft vorkam – wir waren viele Kinder. Die zweite Straße führt zum Andreassteig und in Richtung Bahnhofstrasse. Alle drei Straßen sind mit Kopfsteinen gepflastert.

In unserem Haus gab es drei Aufgänge und an der Ecke unseres Hauses befand sich eine HO-Verkaufsstelle, die über fünf breite Stufen zu erreichen war. Neben dem Eingang wurden im Herbst Kartoffeln aus großen Säcken verkauft, die auf einer Holzwaage mit verschiedenen Gewichten abgewogen wurden. Die Menge bestimmte der Kunde.

Mein kleiner Bruder stellte sich öfter auf der Treppe vor dem Ladeneingang und sang. Es gab Kunden, die ihm einen Zehner gaben, den er dann auch gleich in Süßigkeiten umsetzte. Im Nebengebäude befand sich ein Friseur, in einem Raum, der nicht größer war als ein Wohnzimmer. Ausgestattet mit zwei kopfhohen Lehnstühlen für die Wartenden und einen Friseurstuhl mit einer Nackenstütze, platziert vor einem Spiegel. In der Ecke befand sich ein Vorhang, hinter dem der Friseur seine Utensilien verwahrte, und an der Wand hing ein langes breites Lederband, an dem er das Rasiermesser schärfte. Da ich noch zu klein war, um in den Spiegel zu schauen, legte er ein Brett über die Stuhllehnen. Auf dieses setzte er mich, um mir die Haare schneiden zu können.

Auf der anderen Straßenseite befand sich das gefürchtete Gebäude der Staatssicherheit. Als Kind nahm ich es gar nicht wahr – es stand dort eben einfach. Einmal wurde mein Vati angezählt, weil er die DDR-Fahne verkehrtherum auf einen Stiel gezogen hatte und diese dann so in den Fahnenhalter steckte.

An der Ecke zur Bahnhofstrasse war die Bäckerei Straebelow mit zwei großen Schaufenstern. Dort bekamen wir öfter mal eine Tüte mit Kuchenkrümeln oder Kanten, die wir dann sofort verputzten. Am Sonntag, wenn mal das Brot ausgegangen war (was selten vorkam), bekam man es bei diesem Bäcker – auf dem Hof.

Die dritte Straße am Fritz-Reuter-Platz war die Bahnhofstrasse. Dort gab es viele Geschäfte, darunter einen zweiten Friseur, einen Milchladen und später auch einen Eisladen. Einen Krämerladen (Sievert hießen die Inhaber) gab es auch. Dort hingen die Waren sogar an der Decke, weil sein Sortiment so groß und im Verkaufsraum zu wenig Platz war. Eine Linde warf ihren Schatten in den Laden und machte diesen dunkel. Vor dem Laden stand eine Bank, auf der meist ältere Männer saßen, ihr Bierchen tranken und klönten. Es gab noch eine zweite Bäckerei (Brandt), eine Heißmangel (Schreiber), eine Molkerei und einen Schuster (Pinak), der seine kleine Werkstatt hinten auf dem Hof hatte. Der Raum des Schusters war so klein, dass er im Sitzen an alles herankam. Auf der anderen Straßenseite befand sich die Firma des Brunnenbauers Zelck, den es heute noch gibt, die Konsumbaracke, die Fleischerei Ahrens – heute Zweigstelle der Bibliothek – und der Blumenladen Feil auf dem Hinterhof.

Da es damals noch nicht so viele parkende Autos gab, konnten wir gut auf der Straße vor dem Haus spielen. Kippel-Kappel, Bäumchen wechsel dich, Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser? Lange Nase, Murmeln, „Lütt letzt mit anbacken“ und dergleichen mehr. Beliebt war auch Völkerball – dafür nutzen wir den Weg zwischen den Gärten zum Bahnhof hin. Kinder gab es viele und das Alter spielte keine Rolle. Ab und zu flog auch mal ein Ball in die Gärten. Die Älteren und Geschicktesten holten ihn dann wieder raus, was manchem Gartenbesitzer missfiel.

Federball und Gummitwist gehörten damals zu meinen Lieblingsspielen. Abends im Herbst spielten wir auch gerne Verstecken. Einer lehnte sich an den Baum und hielt sich die Augen zu und rief: „Eins, Zwei, Drei, Vier Eckstein, alles muss Versteckt sein“ – und alle schwirrten auseinander. Gerne versteckte ich mich hinter der Buchsbaumhecke, die das Rondell umfasste. Sie wurde zwar niedrig gehalten, aber als Kind konnte man sich gut dahinterlegen. Auch in die Keller der drei Hauseingänge, die nie abgeschlossen waren, flüchteten wir. Und da es auch Ausgänge zu den Höfen gab, war es nicht leicht, die Versteckten zu finden.

„Er kommt, er kommt“, rief eines der Kinder. Ein Barkas rollte über das Kopfsteinpflaster und hielt vor einem Haus im Andreassteig. Im Anbau des Hauses befand sich ein Kühlraum, in dem das Eis vom Eisladen in der Bahnhofstrasse gelagert wurde. Wenn die größeren Kinder beim Ausladen der Eisbehälter und der Kartons mit dem Stangeneis halfen, bekamen aber auch die kleinen etwas von diesem leckeren Eis.

Im Herbst, wenn die Kartoffelerntezeit war, hielt vor unserem Haus ein LKW mit länglichen Holzsitzen, angeordnet in drei Reihen, um die Frauen, Männer und Kinder zum Kartoffeln stoppeln abzuholen. Die Kartoffeln wurden in Kippen gesammelt und die starken Männer kippten sie dann auf einen Anhänger. Da meine Mutter der Kinder wegen zu Haus war, bekam sie für mich keinen Kindergartenplatz. Noch heute sehe ich es vor mir, wie wir nach der Absage traurig nach Haus trotteten. Während der Kartoffelerntezeit ging ich dann aber trotzdem in den Kindergarten - in Parkow und Zepelin. Am Nachmittag fuhr der LKW zuerst zum Kindergarten, um uns dort abzuholen, wenn die Frauen und Männer noch nicht fertig waren. Dann bekamen wir auch noch ein Stück von dem herrlichen Streuselkuchen, den es des Öfteren für die Kartoffelsammler/innen zum Kaffee gab.

Wenn Laternenzeit war, trafen sich viele Kinder mit ihren Eltern an der Linde. Wir marschierten dann zur Musik einer Kapelle durch die Straßen und sangen „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne…“


Mein erster Kinobesuch

Es war ein sonniger Sonntagmorgen. Kein Wölkchen am Himmel. Ich war voller Vorfreude, denn meine Brüder nahmen mich mit, in die Stadt. Ins Kino. Was war ich aufgeregt! Ich trug ein geblümtes Seidenkleid mit Petticoat, dazu weiße Söckchen und rote Lackschuhe. Was habe ich dieses Kleid geliebt – und es auch nur am Sonntag getragen. An der Hand meiner Brüder tanzte ich voller Freude den Gummiweg (die heutige Fritz-Reuter-Allee) entlang. Über die Holzbrücke, die über die Warnow führt, ging es immer weiter in Richtung der Stadt. Am Ende des Weges bogen wir dann rechts in die Gartenstraße ein, am ungeliebten Zahnarzt vorbei. Auf der Brücke mit dem schmiedeeisernen Geländer blieben wir kurz stehen und schauten in den Fluss, einen Seitenarm der Warnow. Wie flach es dort war! Man konnte die Bewegungen der Wasserpflanzen in der Strömung beobachten, die Köpfe kleiner Fische tauchten hier und da aus dem Wasser auf. Danach ging es weiter die Straße Am Ausfall entlang – und dann in die Nebengasse, in der sich das Kino befand. Dort führte uns unser Weg an zwei großen Holztoren und dem großen Zufahrtstor zur Fleischerei vorbei. Vor dem Kino hatte sich schon eine längere Schlange von Kindern und Erwachsenen gebildet, wir reihten uns ein. Während wir warteten, betrachtete ich die große Schautafel mit den Glastüren an der Wand neben der Eingangstür. Dort hingen die neuesten Filmplakate.

Eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn wurde die Tür geöffnet. Sofort entstand ein Gedrängel, aber die Kinomitarbeiter sorgten schnell wieder für Ordnung. Wir warteten wieder, dieses Mal im Foyer, vor der Kinokasse. Auch hier hingen Plakate an den Wänden, Bilder von Schauspielern und Filmposter. Und dann hielt ich sie endlich in der Hand – meine Eintrittskarte. Im Vorraum riss eine Frau ein Stück davon ab und wir durften den Kinosaal betreten. Umhüllt von lautem Stimmengewirr und mattem Licht gingen wir den abschüssigen Gang neben den Stühlen hinunter und suchten uns einen Platz.

Welches ist die beste Reihe? Von wo aus kann man am besten sehen? Während ich noch alles staunend betrachtete, waren die guten Plätze gefunden. Kurz darauf wurde das Licht gedämmt, die Stimmen im Saal verstummten. Der Vorhang öffnete sich, die Leinwand wurde hell und der Film begann, begleitet von zwei flackernden Lichtern, die durch kleine Fensteröffnungen zu sehen waren. „Die Prinzessin mit dem goldenen Stern“ wurde gezeigt und alle schauten gespannt dem Geschehen auf der Leinwand zu. So ein schönes Märchen! Als der Film endete und das Licht wieder anging, stand ich noch vollkommen im Bann der Geschichte. Das Geschnatter und Gewusel setzte wieder ein und kurz darauf strömten die Besucher durch die großen Holztore ins Freie, an denen wir vorher vorbei gegangen waren. Geblendet von der Sonne suchte ich meine Brüder. An ihrer Hand begab ich mich auf den Heimweg, im Schatten der Bäume in der Bahnhofsstraße und voll von neuen Eindrücken.


Handballtraining Ende der 1960er Jahre

Unser Handballtraining fand immer in der BHG-Sporthalle statt, zwischen der Wäscherei und der katholischen Kirche. Und die Turniere meist am Sonntag, ebenfalls in der Halle, auch wenn die nicht besonders groß war. Meine Mannschaft ging mal als Verlierer und mal als Sieger hervor. Ich erinnere mich noch gut daran, dass einmal die Kinderfernsehsendung „Mach mit, mach‘s nach, mach‘s besser“ in dieser Halle zu Gast war, mit dem Moderator Adi und einer Aufführung des Güstrower Rollschuhclubs. Die schmalen Zuschauerreihen oben und unten waren voll besetzt und der eine und andere hatte Mühe etwas zu sehen.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Margrid Zikarsky: Mein erster Arbeitsbesuch in der Bützower Wäscherei in den 1980er Jahren

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Lang ist's her. An ein längst vergangenes Ereignis kann ich mich noch gut erinnern. Unter ganz anderen Bedingungen als heute mussten Frauen in Betrieben ihre Arbeit verrichten. Meine Arbeit sah damals vor, Gespräche mit Kollegen in Betrieben zu führen. Dieses Mal sollten es Gespräche mit Frauen in der kleinen Wäscherei in der Bützower Bahnhofstraße sein. Ich liebte meine betriebswirtschaftlichen Analysen und Planungen am Schreibtisch. Doch auf die Gespräche mit Menschen, die meine Arbeit bereichern sollten, musste ich mich erst einstellen. Ich machte mir Gedanken: Was werde ich den Frauen erzählen, womit fange ich an? Was wollen die Frauen hören, was erwarteten sie von mir? Am Ende überließ ich den Verlauf der Gespräche dem Zufall.

Mit gemischten Gefühlen betrat ich zum ersten Mal den Produktionsbetrieb, in dem nur Frauen arbeiteten. Als ich die Tür zur Wäscherei aufmachte, war ich erstaunt. Durch den heißen Wasserdampf, der die gesamte Halle durchzog, konnte ich nur schwach Umrisse von Maschinen und Frauen erkennen. Ich blieb an der Tür stehen – meine Augen begannen zu brennen und ich sah kaum noch etwas. Plötzlich stand eine kleine Frau mit gutmütigen Augen vor mir. Sie fasste mich an die Hand und sagte nur: „Kommen Sie schnell mit in den Aufenthaltsraum, sonst werden Sie noch nass.“ Später stellte sich heraus, dass sie die Leiterin der Wäscherei war. Ich folgte ihr wortlos, vorbei an Maschinen und schwitzenden Frauen. Der kleine Aufenthalts- oder Pausenraum war sehr gemütlich hergerichtet. Als ich gerade nach den Arbeitsplätzen fragen wollte, betraten die anderen Frauen den Raum. Alle waren heiter und lustig. Während sie sich setzten, gingen mir viele Dinge durch den Kopf. Die kleine Rede, die ich eigentlich hatte halten wollen, war plötzlich weg. Was soll ich nur sagen? Ich sah die nassen Haare, die feuchte Kleidung, die Gummistiefel an den Füßen der Frauen, die ebenfalls bis obenhin nass waren. Sollte ich ihnen jetzt noch mit meinen Sprüchen von Leistungssteigerung und Erhöhung der Arbeitsproduktivität kommen? Ich versetzte mich in die Lage dieser Frauen. Das hätte ich jetzt auch nicht hören wollen.

Die kleine liebevolle Frau, die Leiterin der Wäscherei, kam mir schließlich zu Hilfe. Sie begrüßte mich und stellte ihre Kolleginnen vor. Und sprach dann immer weiter, ich kam gar nicht mehr zu Wort. Später habe ich mich oft gefragt, ob sie mir angesehen hat, dass ich unbeholfen und in keiner guten Verfassung war. Ich war damals noch sehr jung: Was sollte ich diesen Frauen erzählen, die älter und erfahrener waren und ihre Arbeit ausgezeichnet verrichteten? Ich hätte ihnen gerne einige Fragen gestellt, stattdessen schaute ich in ihre Gesichter. Freundliche, lachende Frauen saßen mir gegenüber, fassten plötzlich Vertrauen und erzählten mir viele Dinge von ihrer Arbeit, ihren Familien, ihrer Freizeit und ihre Wünsche. Auch ich wurde immer lockerer. Schon bald standen mehrere Kollegen auf und stellten Kaffee und Kuchen auf den Tisch – plötzlich saßen wir in einer gemütlichen Runde. Als die Kaffeetafel beendet war, dachte keiner mehr daran, dass ich ja eigentlich diese Gesprächsrunde leiten sollte. Die Leiterin der Wäscherei brachte mich in die Halle, alle Frauen waren bereits wieder an ihrem Arbeitsplatz. Ich hatte plötzlich keine brennenden Augen mehr, mit jeder Kollegin kam ich ins Gespräch, sah die veralteten Waschmaschinen und Trockner, auch die alte Mangel und die großen Behälter mit der nassen Wäsche. Alle Frauen mussten die schwere Arbeit von Hand erledigen.

Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten: Hier nun müssen die Frauen arbeiten, Tag für Tag. Sie hatten ihre Tagesnorm, das hatten sie mir vorher erzählt. Die Leiterin lief durch die Wäscherei und organisierte durch kleine Anweisungen die Arbeit. Ich bewunderte die Ausdauer, die Freude und den Humor der Kolleginnen in diesem kleinen Betrieb. Als ich mich verabschiedete, sagte ich nur: „Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Und meinte damit die vielen kleinen Änderungswünsche, die sie in den persönlichen Gesprächen an mich herangetragen hatten. Bis heute empfinde ich Respekt und Bewunderung für diese fleißige Arbeit – und auch damals nahm ich ihn mit in mein sauberes Büro, an meinem Schreibtisch voller Akten. Vor wenigen Tagen habe ich erfahren, dass diese fleißige Frau von uns gegangen ist. Ich habe sie oft nach dieser ersten Begegnung noch oft gesehen. Über alte Zeiten haben wir nicht mehr gesprochen, doch ihren Humor und ihre lustige Art hat sie nie verloren. In meinem Herzen wird sie immer weiterleben.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Dirk Paepcke: Mein Bützow - Erinnerungen an Orte meiner Stadt

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Als ich den Aufruf zum Erzählen sah, dachte ich, was für eine schöne Idee! Und mal sehen, ob ich mich in den Geschichten und Erlebnissen wiederfinden kann. Jetzt sitze ich an meinem Fenster und schaue auf die von den Schneeflocken nasse und wegen der Sanierungsarbeiten gesperrte und einsame Straße. Und die Erinnerungen an frühe Kindertage entstehen fast von selbst, mit dem Blick auf den weihnachtlich geschmückten Bahnhof. Warum nicht aufschreiben, denke ich, und muss schmunzeln über mich selbst. Der alte Mann erzählt längst vergangene Geschichten…

Meine ältesten Erinnerungen an unsere Stadt sind mit dem Bahnhof und dem angrenzenden Viertel verbunden. Ich war etwa fünf Jahre alt, Ende der 1960er Jahre. Meine Eltern waren gerade mit mir und meinem Bruder in die Carl-Moltmann-Straße gezogen, in eine sehr schöne, moderne Wohnung für damalige Verhältnisse. Insbesondere im Vergleich zu dem abbruchreifen Haus am Markt, in dem wir vorher wohnten. Jahre später wurde dieses auch tatsächlich abgerissen und die Überreste zur Befestigung des Gummiweges genutzt – sehr nachhaltig, wie ich heute finde. Auf der freigewordenen Fläche wurde ein kleiner Platz gestaltet, mit einem Zeitungskiosk, der unter Bützowern sehr beliebt war. Aber das ist eine andere Geschichte...

Ich erinnere mich daran, dass mein Vater mir damals erzählte, dass das kleine Häuschen im Flur des damaligen Bahnhofsgebäudes vormals ein Schalter war. Hier wurden die Leute kontrolliert, ehe die Bahnsteig betreten durften, um dort Besuch zu empfangen oder zu verreisen – man brauchte dafür mindestens eine Bahnsteigkarte. Das fand ich sehr komisch! Eine Fahrkarte für den Bahnsteig, irgendwie passte das nicht in meine kindlichen Vorstellungen. Später wurde der Bahnhof etwas modernisiert und das Häuschen verschwand. Übrig blieben die Spuren auf den Fliesen am Boden, die ich ausführlich betrachten konnte, wenn die Bahn Verspätung hatte und ich im Winter dort auf den Zug wartete, der mich zur Uni nach Rostock bringen sollte.

Beim Aufschreiben dieser Geschichte sehe ich die damalige Schalterhalle vor mir, als wäre die Zeit stehengeblieben. Ich denke an die Wartezeiten in der Mitropa. An die Tische und den Tresen in der Mitropa, in der mein Großvater sich hin und wieder mit Freunden auf ein Bier oder einen Kaffee mit Zigarre traf. Ich saß dabei und lauschte den Erzählungen der alten Leute, bei einer Brause mit Bockwurst. Oder ich denke an den Intershop, den ich ab und an mit meinem Großonkel besuchen durfte: Gelegenheiten, bei denen er mir kleine Träume erfüllte, etwa ein Matchboxauto oder, später, eine Jeans. Aber vor allem denke ich an die Gepäckaufbewahrung – und das aus gutem Grund! Denn dort erfüllte sich ein großer Kindheitstraum. Hierzu muss man wissen, dass dort damals nicht nur Gepäck zur Aufbewahrung abgegeben werden konnte. Auch Sperrgut und sogar Tiertransporte wurden hier verschickt oder abgeholt, nicht nur für die Betriebe des Ortes, sondern auch für Privatpersonen. Und sogar für einen kleinen Jungen wie mich. Als mein Opa mir eines Tages erzählte, er habe einen Schäferhundwelpen für mich gekauft, waren Vorfreude und Erwartungen riesengroß. Jeden Tag lief ich mehrmals zum Bahnhof – und was für eine Freude, als der Kleine dann endlich eintraf: ein putzmunterer Welpe und viele Jahre ein treuer Freund und Begleiter.

Ein weiteres, sehr beeindruckendes Erlebnis meiner Kindertage waren die damals schon selteneren Durchfahrten und Aufenthalte von Dampflokomotiven. Die Geräusche, der Geruch und die altertümliche Optik, verbunden mit der transparenten Mechanik des Antriebes – all das war so faszinierend und schön. Schon etwas aus der Zeit gefallen, aber eine imposante Erscheinung und Abwechslung vom Alltag. Ich erinnere mich, wie wir Kinder das Befüllen des Wassertankes der Lok an der nahegelegenen Station mit großem Staunen beobachteten, während es für die Bewohner der Blöcke 1 und 2 der AWG wahrscheinlich eher störend war. Aber wenn ich bei meinen Großeltern war, die dort wohnten, rannte ich, sobald ich das Geräusch hörte, zum Fenster im Schlafzimmer, um einen Blick auf die Dampflok zu erhaschen.

Betrete ich in Gedanken den Vorplatz, erinnere mich an den Kreisverkehr, an die Geschichten und Erlebnisse in der Gaststätte dort – ein Gebäude mit wechselvoller Geschichte, das für die Bützower einfach "Hubert" hieß. Meine Gedanken wandern weiter zum Bäcker Streblow, zu der kleinen, sehr beliebten Eisdiele und dem Kaufmannsladen. Und dann immer weiter, die neue Bahnhofstrasse in Richtung Stadt entlang. Ich sehe den kleinen Verkaufsraum von Bäcker Brandt mit den leckeren Brötchen für ein paar Pfennige vor mir, denke an den auf der anderen Straßenseite liegenden Konsum und die dahinter liegenden Gärtnerei. Nicht weit entfernt davon die von mir so geliebte kleine Bibliothek und davor die Fleischerei. Und natürlich denke ich an die Alte Molkerei, in der mein Vater arbeitete, und an meinen Kindergarten. Dann komme ich zur Gaststätte Steusloff. Ich erinnere mich an den Bau des Wehres und denke an so viele kleine Geschichten, die ich aber nicht alle erzählen kann, weil es sicher den Rahmen sprengen würde.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Daniela Müller, Jahrgang 1971, zog 1976 nach Bützow und wohnt bis heute hier

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Geboren wurde ich Kühlungsborn. Mein erstes halbes Schuljahr verbrachte ich noch in Satow, aber in den Winterferien der ersten Klasse zog ich mit meiner Mutter nach Bützow. Meine Mutter hatte einen neuen Lebenspartner gefunden, der von hier stammte. Unsere erste Wohnung befand sich am Pferdemarkt. Hier ging ich dann auch in die Schule, gehörte also zu den Kindern, die man damals die „Stadtscheißer“ nannte. An meine Unterstufenzeit kann ich mich nur noch vage erinnern, aber an die späteren Jahre mit Herrn Schmidtbauer erinnere ich mich gut. Als herzlich aber streng könnte man ihn beschreiben. In den Pausen haben wir uns immer vom Schulhof geschlichen, um heimlich an der Ecke neben Bäcker Frenz zu rauchen. Wenn wir wiederkamen war oft das Schultor zu und wir bekamen Ärger, mit Dr. Schmidtbauer persönlich. Später war das Schultor dann von Beginn an abgeschlossen, da kamen wir gar nicht mehr runter vom Gelände.

Besonders im Gedächtnis noch der Kurs für Zivilverteidigung, den man zu DDR-Zeiten im Unterricht machen musste. Damals mussten wir in der Gruppe, mit allen Mädchen der Klasse, nach unten in den Keller der Schule, um dort schießen zu üben – und auch das Aufsetzen von Gasmasken. Mit den Masken mussten wir dann durch einen Tunnel kriechen, der sich unter dem Schulneubau befand. Der Tunnel endete an einer Luke mitten auf dem Schulhof, da mussten wir dann wieder nach oben klettern. Das fanden wir immer alles ziemlich eklig.

1987 schloss ich die zehnte Klasse ab. Mein Stiefvater fuhr damals Transporte für die DDR-Handelsorganisation HO, oft Marmelade von RoKoMa, der Rostocker Marmeladenfabrik. Durch ihn entstand die Idee, dass ich Verkäuferin werde – und so kam es dann auch. Es gab zwar viele Bewerber, aber durch seine Beziehungen bekam ich die Lehrstelle und war darüber sehr froh. Ich musste mich einmal im HO-Büro vorstellen und dann war die Sache entschieden. Das Unterschreiben des Lehrvertrags war dann schon eine andere Nummer. Das war eine richtig feierliche Veranstaltung in Güstrow, im großen Festsaal der Fachhochschule, mit schicker Kleidung. Dort gab es dann eine sehr festliche Rede und anschließend mussten wir einzeln auf die Bühne, wo man uns unseren Lehrvertrag überreichte. Dort kamen alle Lehrlinge aus dem Kreis zusammen, die damals Verkäuferin werden sollten – aus den Kaufhallen, aber auch aus den anderen Läden. Damals gab es ja in jedem Dorf ein Konsum, also waren das richtig viele.

Mein Ausbildungsbetrieb war der HO-Laden, der später der Burmeister-Spar wurde und heute ein Asialaden ist. Damals war das eine typische DDR-Kaufhalle, mit einem Softeisstand und ein Broilerstand daneben. In Bützow gab es damals insgesamt vier Kaufhallen: in der Kühlungsborner Straße, am Forsthof, oben am Bahnhof und die, in der ich arbeitete. Verwaltet wurden sie alle in der Konsumverwaltung. Ich persönlich hatte mit der Verwaltung nichts zu tun, aber ich erinnere mich, dass der Hauptkassierer unserer Kaufhalle immer abends nach Dienstschluss das Geld dort vorbeibringen musste. Unser Team in der Kaufhalle war damals ziemlich groß – wir waren allein schon vier Lehrlinge und insgesamt mindestens fünfzehn Leute. Montags wurden nur Milch, Butter und Brötchen verkauft, außer Haus, von einem Tisch aus, den wir an die Eingangstür stellen, immer von sieben bis elf Uhr. Der Grund war, dass am Montag alle Waren geliefert wurden und von uns eingeräumt werden mussten. An den anderen Tagen, von Dienstag bis Freitag, öffneten wir um 8 Uhr und schlossen um 18 Uhr. Am Samstag war die Kaufhalle bis mittags um 12 Uhr offen. Ich arbeitete in meiner Lehrzeit in allen Abteilungen nacheinander, am Bäckerstand, am Fleischtresen, beim Gemüse – jeweils ein halbes Jahr. Bei mir lief die Ausbildung dann allerdings etwas anders ab als geplant, weil ich schon am Beginn schwanger war. Das war damals kein Drama und auch nicht unüblich. Ich lernte also von September 1987 bis Februar 1988 und ging dann erstmal in eine Mutterschutzzeit, weil im April unsere Tochter geboren wurde. Und ein Jahr später, im Februar 1989, setzte ich die Ausbildung dann genau an dieser Stelle fort. Das hatte den Vorteil, dass ich nicht mehr im Fischgeschäft arbeiten musste, das auch zur HO gehörte. Davor hatte ich mich am meisten gegruselt. Dort gab es lebende Fische, die vor Ort getötet und dann in Zeitungspapier eingewickelt und mitgegeben wurden. Ich erinnere mich noch gut an die Frau, die dort arbeitete: sie sah selbst ein bisschen aus wie ein Karpfen.

Als ich wieder arbeitete, ging unsere Tochter in die Krippe am Rostocker Tor, ganz in der Nähe unserer Wohnung. Da ich schon morgens um 7 Uhr in der Berufsschule sein musste, brachte mein Mann sie immer in die Krippe, auf dem Weg zum Bahnhof, weil er jeden Morgen mit dem Zug nach Seelow fahren musste. Das funktionierte alles ziemlich gut und wir waren mit der Krippe zufrieden.

Was die gelieferten Waren anging, haben wir beim Auspacken durchaus auch ein bisschen vorsortiert: Jeder Mitarbeiter hatte eine Kiste mit ihrem oder seinem Namen drauf, in der landeten die Sachen, die man eher selten bekam. Was genau, wussten wir selbst immer erst beim Auspacken. Oft standen die Leute da vor der Tür schon an, ohne zu wissen, was genau es geben würde – irgendetwas Besonderes würde schon dabei sein. Besonders beliebt waren beispielsweise die Schaumküsse, die schon damals aus Grabow kamen: Die wurden einzeln verkauft und man bekam höchstens zwölf Stück pro Person, in Tüten, weil wir sie ja in den Großpackungen geliefert bekamen. Bananen und Orangen waren auch sehr beliebt – und dann später der Westjoghurt, der nicht in Flaschen sondern in Plastebechern geliefert wurde. Das muss in der Wendezeit gewesen sein, die Leute haben sich fast gehauen, um davon etwas abzubekommen. Damals war traurig zu sehen, wie die Ostprodukte dann in den Regalen liegenblieben – da musste es dann das gute Zeug aus dem Westen sein.

Die Wende selbst haben wir gar nicht so richtig mitbekommen. Ich war damals gerade mit meiner kleinen kranken Tochter zuhause und verstand erst so richtig, was da geschehen war, als ich am Montag darauf wieder zur Arbeit kam. Sorgen machte ich mir keine: Ich war jung und davon überzeugt, dass sich alles irgendwie finden würde. Und im Grunde war es auch erstmal so. Wir wurden dann von Spar statt von der HO beliefert und Herr Burmeister aus der ehemaligen HO-Verwaltung übernahm die Filiale, die ja privatisiert werden musste, weil es keinen staatlichen Betreiber mehr gab. Er richtete alles neu ein, besorgte ein neues Kassensystem und übernahm alle Mitarbeiter. Und wir blieben alle dort, für mich war das gar keine Frage. Das Ganze funktionierte sehr lange sehr gut. Ein paar Mitarbeiter wechselten Mitte der 1990er zu famila, andere gingen in Rente, aber sonst waren wir ein stabiles Team. Es lief nicht überall so glatt: Die Kaufhalle in der Kühlungsborner Straße wurde nach der Wende geschlossen, weil sich dafür kein Käufer fand, die Kaufhalle von Karl Mottmann schon bald darauf ebenfalls. Der Inhaber übernahm dann den kleinen Laden am Andreassteig. Aus der vierten Kaufhalle wurde dann ein EDEKA.

Ich selbst arbeitete noch bis 2006 in dem SPAR, dann wurde dort mehr und mehr eingespart und ich dann schließlich auch gekündigt. Ich war nicht besonders überrascht – man konnte schon eine ganze Weile spüren, dass es nicht mehr gut lief. Ich musste dann beim Arbeitsamt erstmal einen Computerlehrgang anfangen, fand aber schnell eine neue Arbeitsstelle bei Fleischer Dankert. Das war eine schöne Arbeit. 2016 wechselte ich dann zu Holz, weil der Fleischer in die Insolvenz ging. Ich wollte nicht in so einem großen Supermarkt arbeiten, ich mag es, wenn ein Laden eher familiär ist.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Frank Müller, Jahrgang 1964, Bahnhofskind, lebt bis heute in Bützow

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Meine inzwischen leider schon verstorbenen Eltern, Heinz und Waltraud, waren zu DDR-Zeiten beim Rat des Kreises tätig. Meine Mutter arbeitete in der Organisationsabteilung, später wurde sie Bürgermeisterin von Moisall. Heinz, mein Vater, war in den 1980er Jahren Bürgermeister in Warnow und danach, bis 1990, Bürgermeister von Zernin. Er fuhr dorthin meist mit dem Zug, wir wohnten ja in Bützow. Mein Vater war Sozialist durch und durch, ebenso wie meine Oma, die Staatsbürgerkundelehrerin. Unsinn zu machen, habe ich mich bei beiden nicht getraut. Meine Mutter habe ich oft an ihrem Arbeitsplatz besucht, der sich in einem inzwischen abgerissenen Gebäude befand, dem ehemaligen Frauengefängnis am Schlossplatz.

Meine Schulzeit verbrachte ich in der Kopernikusschule, die heute nicht mehr steht. Rechts im Schulgebäude befand sich die Unterstufe, links die Oberstufe - aber auch eine Zahnarztpraxis. Als die Schule später geschlossen wurde, habe ich zusammen mit anderen Mitgliedern des damaligen Heimatvereins die Sonnenuhr abgeholt, die sich am Schulgebäude befand. Die haben wir dann auf dem heutigen Schlossplatz wieder aufgebaut, mit dem Sockel und der Gravur M&M (der Abkürzung von Müller & Menter).

Nach der Schule haben wir immer auf dem Bolzplatz bei der AWG gespielt, da wo jetzt die Garagen stehen, in der Carl-Moltmann-Straße. Wir durften nicht in die Stadt gehen, zu den „Stadtscheißern“. Manchmal waren wir auch beim Bootsverleih und ruderten auf dem Bützower See. Oder wir haben Wertstoffe gesammelt und zur Sammelstelle gebracht – das Geld habe ich dann gespart.

Ich kann mich noch gut an die Gefangenen erinnern, die am Bahnhof große Kabelrollen verladen haben. Sie trugen braune Kleidung mit einem gelben Streifen. Ich konnte das aus meinem Kinderzimmer im ersten Stock der Bahnhofstraße 42 beobachten.

Nach meiner Schulzeit machte ich eine Ausbildung zum Landwirt – erst in Schwaan, später dann in Moisall. Aber an den Wochenenden kam ich immer nach Bützow: Freitagabend nahm ich den Bus dorthin, am Sonntagabend dann den Bus zurück nach Moisall zurück. Da hatte ich immer ein paar Lebensmittel im Gepäck, aber den Rest habe ich Moisaller Konsum gekauft. Es gab ja damals überall einen Konsum, auch in den kleinen Dörfern.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Jörg Quandt, Jahrgang 1961, lebt seit 1962 und bis heute in Bützow, war lange Jahre der Inhaber der „Penne“ und Bützower Stadtvertreter

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich bin geborener Güstrower, aber meine Eltern zogen schon am Ende meines ersten Lebensjahres nach Bützow, weil mein Vater aus Kurzen Trechow stammt und es ihn zurück in seine Heimat zog. Wir wohnten dann in der 4. Wallstraße. Mein Vater arbeitete als Dachdecker und meine Mutter war Leiterin der Kaufhalle. Und ich hatte noch einen drei Jahre jüngeren Bruder.

Ich erinnere mich noch, dass ich an einem Sommermorgen mit meinem damals dreijährigen Bruder und einem Nachbarsjungen zum Ströpern zum Hopfenwall ging. Dort gab es ein Loch in einem Gartenzaun. Wir machten es größer und schlüpften hindurch, in den dahinterliegenden Garten. Dort spielten wir den ganzen Tag und vergaßen vollständig die Zeit – bis es am Ende zehn Uhr abends war. Inzwischen suchte man uns schon überall, glaubte wir seien entführt worden. Als wir uns dann auf den Heimweg machten, weil es allmählich dunkel wurde, entdeckte uns ein Nachbar und lieferte uns zuhause ab. Das gab dann richtig Ärger – meine Eltern hatten schon tausend Ängste ausgestanden.

Aber grundsätzlich war es normal, dass wir nachmittags allein unterwegs waren. 18 Uhr mussten wir zuhause sein, sonst gab es Ärger. Meistens erinnerte uns der Pfiff meines Vaters daran, dass es jetzt Zeit war. Den hörte man bis hinten auf dem Sportplatz, wo wir oft spielten.

Pfaffenstraße, 4. Wallstraße, 5. Wallstraße und Kirchenstraße – die Kinder dort kannten sich und hielten zusammen. Viele davon kenne ich bis heute. Wir waren Jungs-Cliquen und haben uns auch gegenseitig gejagt, aber meistens haben wir gegen die Westenberger Gang gekämpft, die Kinder die in der 2. und 3. Wallstraße wohnten. Ich erinnere ich an einen Tag, als wir mit unserer Clique auf dem Wall waren und ein Klassenkamerad von mir vorbeikam, der zu der anderen Gang gehörte. Wir versteckten uns im Gebüsch, stürzten dann hervor, schnappten ihn und setzten ihn in einen Ameisenhaufen. Als ich am nächsten Morgen zur Schule kam, hatte ich natürlich ziemliche Bedenken, dass er sich rächen würde. Aber glücklicherweise blieb alles ruhig.

Wir waren auch immer mal in den Baracken in der Nähe des früheren Jugendclubs und des Schrottplatzes. Eines Tages kam ein Mädchen aus der 3. Wallstraße vorbei und wollte bei uns mitmachen. Das ging nur mit einer Mutprobe – mit einem von uns. Und der war ich. Diese Mutprobe bedeutete: alle Taschen mit Steinen füllen und alle Scheiben der Baracken einwerfen, in denen damals eine Versicherung saß. Und das morgens um zehn – während die Leute dort bei der Arbeit saßen. Die haben uns natürlich gejagt. Das Mädchen wurde erwischt, ich nicht. Ich rettete mich durch den Sumpf und kam dann entsprechend nass nach Hause, wo schon ein Freund auf mich wartete. Als ich ihm davon erzählte, machte er mir richtig Angst: Die Polizei würde mich finden, meine Eltern kämen dann ins Gefängnis. Also zog ich mir saubere Sachen an und ging zu den Baracken, wo inzwischen alle wieder ruhig bei der Arbeit saßen. Ich klopfte, ging hinein – und brach dann sofort in Tränen aus und beichtete meine Tat. Man hörte mich in Ruhe an und gab mir am Ende einen Zettel für meine Eltern mit, den ich auf dem Heimweg heimlich vergrub. Meine Eltern erfuhren nie etwas von der Sache, es gab auch keine weiteren Konsequenzen. Das Mädchen dagegen musste eine Strafe zahlen, die aber von der Versicherung übernommen wurde.

Mit den Mutproben haben wir trotzdem nicht aufgehört. Unser Revier waren die Altstadt und der Wall. Über den Wallgraben springen gehörte auch dazu: das klappte manchmal – und manchmal nicht. In der Nähe unseres Wohnhauses war damals eine Holzbrücke. Dort kam ich eines Abends vorbei und entdeckte drei Jungs, die gerade versuchten, die Brücke anzusägen. Die nahmen mich gleich in die Mangel: Wenn ich etwas erzählen würde, wäre ich dran. Also schwieg ich. Als am nächsten Tag einige unserer Lehrer die Brücke überquerten, vermutlich weil sie zur Schulspeisung in der Pfaffenstraße wollten, brach diese auseinander und fiel um. Natürlich suchte man die Täter – aber ich habe nichts verraten.

Und wir waren viel in den alten, verfalleneren Häusern in der Wallstraße unterwegs, in denen niemand mehr wohnte. Waren dort die Fenster zugenagelt, dauerte es nicht lange, bis wir die Bretter gelockert hatten und uns das Haus von innen anschauten. Das war immer spannend.

Als ältere Schüler haben wir dann oft heimlich geraucht. Einmal erwischte uns Dr. Schmidtbauer, unser damaliger Direktor. Da steckten die Raucher ihre Zigaretten schnell in die Jackentaschen – aus denen es dann qualmte. Nach der Schule war unser Treff eigentlich immer die Alte Badeanstalt. Dort spielten wir 17/4 und Knack, teilweise auch richtig um Geld – oder Tischtennis. Wir verbrachten viele Nachmittage dort, wenn wir nicht mit den Mopeds oder Fahrrädern durch die Gegend fuhren. Unsere Clique war immerhin so berüchtigt, dass einmal in der Stadtvertretung vor uns gewarnt wurde. Wir wären eine kriminelle Gruppe hieß es dort. Erstmal waren wir darüber ziemlich empört, aber andererseits war es auch ein bisschen schmeichelhaft. Denn wir haben ja tatsächlich auch viel Action gemacht in der Stadt.

An den Wochenenden unternahmen wir viel gemeinsam: Wir fuhren mit den Fahrrädern ins Warnowtal, mit über dreißig Leuten. Einmal machten wir dirt alle zusammen eine FKK-Wanderung, sogar nackt Volleyball haben wir gespielt. Das brachte uns prompt eine Anzeige ein, die aber im Sande verlief, weil man uns nichts beweisen konnte. Und auch sonst haben wir die Gegend gut erkundet.

Wenn an den Wochenenden mal ein Konzert in der Nähe stattfand, was ja nicht so oft der Fall war, waren wir natürlich auch dabei. Und wir waren ab und an im Kulturhaus Steinhagen, denn dort war alle vierzehn Tage Tanz. Also gingen wir dort zu Fuß hin und liefen anschließend auch zu Fuß wieder zurück. Der Rückweg kam mir immer wahnsinnig kurz vor – beflügelt vom Alkohol und mit reichlich Erzählstoff, nach dem erlebnisreichen Abend. Außerdem waren wir immer mal in Sternberg in der Disco. Einmal haben wir die Frau, die dort an der Bar arbeitete, tagsüber in Bützow getroffen. Auf Nachfrage erklärte sie uns, das sei hier die einzige Stadt, in der man vernünftig einkaufen könne – sogar besser als in Rostock. Das lag wohl auch daran, dass es hier so viel Einzelhandel gab. Der Inhaber des Kaufhauses fuhr damals immer persönlich nach Thüringen, um direkt vor Ort, in der Produktionsstätte, einzukaufen. Deshalb gab es bei ihm immer so viele Dinge, die man woanders nicht bekam.

Die Wendezeit in Bützow war unglaublich spannend. Es gab plötzlich keine Regeln mehr, wir konnten machen, was wir wollten. Ich war damals 28 Jahre alt und fing an Livemusik zu machen und Konzerte zu organisieren. Wir haben Bands aus Berlin nach Bützow geholt, die nach den Konzerten was Verrücktes erleben wollte. Mit denen sind wir teilweise auf dem Autodach sitzend durch die Gegend gefahren. Ich habe dann immer Blut und Wasser geschwitzt, denn in einer Kleinstadt wie Bützow fällt sowas auf und am nächsten Tag reden alle darüber. Aber insgesamt hat das viel Spaß gemacht. Die Veranstaltungen, der Kontakt zu den vielen Künstlern – das hat mich wirklich glücklich gemacht.

Als nach der Wende die SED-Kreisleitung aufgelöst wurde und deren Gebäude mit dem großen Saal leer wurde (heute ist dort der Polizeiparkplatz), ging ich zunächst zur PDS und dann zur Treuhand, um mich zu erkundigen, ob ich es mieten konnte. Und wir machten dann gleich einen Mietvertrag, auch wenn niemand von uns davon Ahnung hatte – die von der Treuhand nicht und ich auch nicht. 770 Mark Miete wollten sie damals dafür. Das war natürlich ein Witz, aber damals erschien mir das unglaublich viel. Nach zwei Jahren wurde der Treuhand klar, dass das viel zu wenig Geld war, für diesen riesigen Saal. Aber ich hatte einen zehnjährigen Mietvertrag, da konnten sie wenig machen. In den Räumen betrieb ich dann „Zur Penne“. Den Namen habe ich gewählt, weil ja gegenüber das Gymnasium war. In der „Penne“ konnte ich dann meinem Hobby frönen: Ich holte mir die Livemusiker, denen ich sonst hinterhergefahren war, einfach in meine Heimatstadt. Viele Bands schliefen dann auch bei mir zuhause, weil ich keine Hotels buchen wollte, um die Kosten zu sparen . Das waren ja unsichere Zeiten damals. Dadurch entstanden viele persönliche Beziehungen. Wir feierten nach den Konzerten meist noch in meiner Wohnung in der Bahnhofstraße. Das hatte sich nachher in Berlin schon rumgesprochen. Und so kamen dann Bands wie Cäsar und Renft nach Bützow. Gerhard Gundermann kam sogar drei Mal – total fetziger Typ, nur seine Band war ein bisschen anstrengend. Auch Damien Ball, der ehemalige Gitarreningenieur der Rolling Stones, war in Bützow und trat bei mir in der „Penne“ auf. Er fand Bützow so schön, dass er noch eine Woche blieb, zum Urlaubmachen.

Sogar Punkkonzerte hatten wir in der Zeit hier, mit 850 Leuten. Bei einem dieser Konzerte kreuzten einige Bützower Nazis vor dem Eingang auf und wollten Stunk machen. Daraufhin gingen dann einige der Punks vor die Tür, um zu zeigen, wie viele sie waren. Am Ende gab es dann eine richtige Straßenschlacht, bei der sich die Gegner mit Straßenpflaster bewarfen. Ich hatte das völlig falsch eingeschätzt, weil ich nicht mit dieser Gewaltbereitschaft gerechnet hatte. Das war doch eigentlich nur Punkmusik und meine private Veranstaltung. Ich bekam dann eine Abmahnung von der Stadtverwaltung, weil ich ja damals über eine ABM im Hauptamt für Kultur arbeitete, insgesamt vier Jahre lang. Außerdem bekam ich mehrmals nächtliche Anrufe mit Morddrohungen – man würde mich abstechen, wenn man mich in der Stadt sehen würde, und dergleichen mehr. Alles immer anonym. Daraufhin ging ich dann extra jeden Abend in die Kneipe. Wenn dort irgendwo Nazis am Tisch saßen, ging ich gezielt dort hin und sprach sie an: „Guten Abend, die Herren.“ Die wagten dann oft nicht mal, mich noch einmal anzusprechen. Ich kannte ja oft sogar ihre Eltern. Dass ich mit denen reden würde – davor hatten sie tatsächlich am meisten Angst. Dass man sich in einer Kleinstadt wie Bützow immer auch auf verschiedenen Ebenen wiederbegegnet, ist ja eigentlich etwas Gutes: Man kann Sachen regeln, weil man auch die Gemeinsamkeiten sieht, die einen trotz unterschiedlicher Meinungen verbinden.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Bernd Wagemeyer ,wurde 1959 in Rostock geboren, verbrachte aber seine ersten Lebensjahre in Bützow, der Heimat seiner Mutter, in der auch seine Großeltern lebten

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

In Bützow hatte meine Familie wichtige Wurzeln: Meine Großeltern lebten dort und meine Mutter ist dort aufgewachsen. Erst als erwachsene Frau zog sie nach Rostock, um dort als Hebamme zu arbeiten. Da sie sich, alleinerziehend im Schichtdienst, nicht wirklich gut um mich kümmern konnte, verbrachte ich meine ersten Lebensjahre bei unseren Verwandten, Achim und Else Giese, im Vierburgweg. Die anderen Kinder dachten natürlich, dass die Gieses meine Eltern sind und so wurde ich hier immer Bernd Giese gerufen. Und auch ich selbst habe zu den Gieses Mutti und Vati gesagt – ich hatte nun halt zwei Muttis. Meine Kinder nennen sie heute auch noch Öming und Öping. Mutti Giese konnte keine Kinder bekommen, sie waren froh, dass sie mich hatten.

Als dann meine Einschulung anstand, zog ich zurück zu meiner Mutter nach Rostock, verbrachte aber fast jedes Wochenende und meine Ferien in Bützow: ich wurde in den Bus gesetzt (ein AH-3 manchmal mit Hänger) und fuhr nach Bützow. Dann hieß es immer „Bützow Bahnhof, Endstation“. Später bin ich mit dem D-Zug gefahren und Schwaan umgestiegen – oder nahm den Bummelzug direkt nach Bützow. Wenn ich dort ankam, bekam ich erstmal etwas zu essen. Danach stiefelte ich zum Fritz-Reuter-Platz, dort war unser Treffpunkt. Wir spielten zusammen, ich vor allem mit meinem Freund Dieter Prief. Bei Regen spielten wir drinnen – aber daran kann ich mich kaum erinnern. Ich habe nur Erinnerungen an das gute Wetter. Und an das Zuckerbrot, dass es bei Janni Hennigs Mama gab.

Die Eltern von den Gieses wohnten neben Bäcker Strebelow. Der alte Herr Giese hatte bis in die 1970er Jahr einen Friseursalon – und fuhr außerdem noch mit dem Fahrrad ins Bützower Krankenhaus, um dort den Patienten die Haare zu schneiden. Er erzählte uns manchmal vom Afrikakorps, in dem sein Großonkel gewesen war. Das war was – richtig abenteuerlich. Aber natürlich hat er nur die Heldengeschichten erzählt

Auch bei Strebelows war ich öfter zu Gast, habe dort mit den beiden Jungs und dem Strebelow-Mädchen gespielt. Nur manchmal mussten wir leise sein, denn hieß es: “Der Bäckermeister schläft.“ Ich weiß noch, dass das Schlafzimmer hinten im Haus lag. Die Backstube war übern Hof, da haben wir immer mal zugeschaut, die die Gesellen diese vielen Brote auf den großen Brettern mit einer Hand nach vorne in den Laden trugen. Dort gab es an der Ladentür eine Glocke, die machte immer „bing bong“. Das war wir im Film. Und dort stand auch ein runder Marmortisch mit Metallfuß. Manchmal aß ich dort einen von diesen rot-weißen Kuchen, Amerikaner nannte man die. Im Laden arbeiteten Oma Engelhardt, Frau Strebelow, und die Hannelore, die Tochter der Familie.

Mein richtiger Opa, Alfred Knüddel, wohnte in der Gödenstraße 11. Er arbeitete als Maler bei Malermeister Jochens. Den haben sie immer geholt, wenn die Sprossenfenster im Rathaus gestrichen werden mussten. Dann hieß es: Hol mal den alten Knüddel – der hatte die Geduld. Er erzählte damals viel aus dem 1. Weltkrieg. Einmal wurden sie sprichwörtlich von der Front überrollt. Sie fanden einen Weinkeller und haben sie da unten betrunken. Als sie morgens aufwachte, sahen sie, dass in der Nacht die Gegner über das Land gezogen waren. Sie selbst waren unentdeckt und unversehrt geblieben. Dazu sagte er dann immer, natürlich auf platt. „Der Alkohol de hett mi mal dat Leven gerettet.“ Das war so abenteuerlich.

Es gab damals Bahnhofskinder und Stadtkinder - die Grenze war die Bahnhofsbrücke. Wir gingen im Sommer oft an die Badestelle an der Warnowbrücke, hinter dem Andreassteig. Da gab es eine Mutprobe: Man musste im Fluss untertauchen und in den Schlamm greifen. Später, als das Wasser abgelassen wurde, bei der Erneuerung der Schleuse, fand man dort Pistolen im Schlamm.

Albert Giese war der Schleusenwärter, deshalb durften wir immer an der Schleuse angeln. Die Schleuse wurde 1970/71 instandgesetzt. Damals wurde das Wasser abgelassen und wir konnten auf dem Grund langgehen. Dort fanden wir eine Kiste mit versiegelten Weinbrandflaschen – und auch Bajonette. Die Flaschen haben wir geköpft, um zu schauen was da drin war. Als wir rochen, dass das Weinbrand war, haben wir sie weggeworfen. Heute wäre das ein Vermögen wert. Außerdem war ich damals viel im Heimatmuseum im Schloss, bei Dr. Vorbeck. Und wir stöberten viel auf den Schrottplätzen herum. Und wenn wir dort alte Sachen fanden, gaben wir sie im Museum ab. Einmal haben wir sogar Münzprägestöcke gefunden, aber oft auch alte Dokumente und anderen alten Kram. Als Dank für unsere gesammelten Sachen durften wir im Museum alle Schubladen aufmachen, in dem Kabuff unten – und alles Schöne angucken. Der Schrottplatz war am Ende des Andreassteigs, bei der Kopernikus-Schule. Und im Heimatmuseum oben haben damals auch noch Leute gewohnt, obwohl das Gebäude schon ziemlich marode war.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als der Schacht der Ofenfabrik brannte. Es war ein sonniger Tag. Neben der Fabrik lag ja nur noch Tischler Höppner. Wie das gequalmt und gebrannt hat!

Uns als Kinder hat im Grunde immer alles interessiert, wo man rumgucken und rumstrobern konnte. Es tauchten dann weiße Porzellankugeln auf, mit denen wir auf der Straße spielten. Wie kleine Golfbälle sahen die aus. Wir durften uns halt nur nicht erwischen lassen. Wir haben auch Luftschutzkram gefunden, aber der wurde vom ABV Domke einkassiert. Und dann sind wir immer „Gefangene gucken gegangen“ am Bahnhof. An bestimmte Züge waren spezielle Wagen angehängt, mit denen die Gefangenen transportiert wurden. Sie trugen dunkle Gefangenenuniformen mit gelben Strichen und wurden von Hunden bewacht. Wir dachten natürlich, das wären alles Schwerverbrecher. Wir sind dann dicht an den Bahnhof gezogen, das war ja abenteuerlich und spannend. Einmal sahen wir die Insassen, die mit der Grünen Minna nach Dreibergen gefahren wurden. Der Bahnhof war auch sonst immer spannend, da war ich unheimlich gerne.

Als kleiner Butscher von vier oder fünf Jahren bin ich mal stiften gegangen. Ich stellte mich mit der Schiebkarre ans Tor und kletterte drüber, um mir die Dampfloks am Bahngleis anschauen. Wenn die ihren Dampf ausstieß, während wir dort spielten, haben wir uns immer vorgestellt, das wäre unsere Wolke. Da haben wir dann Flugzeug gespielt und sind durch die Wolken geflogen.

Das Sägewerk gehörte damals den Grimmes. Achim Giese, mein „Vati“, arbeitete dort als Heizer. Im Werk gab es riesige Dampfmaschinen, die hießen Lokomobile. Sie hatten ein riesengroßes Schwungrad und einen Transmissionsriemen, das war der Antrieb des Gatters. Ich habe damals, 1966, einen Schulaufsatz über Lurche und Frösche geschrieben, die im Winter in der Wasserlache unter der Dampfmaschine überwinterten. „Was ist das für ein Quatsch“, sagte die Lehrerin. Aber das war kein Quatsch, es gab sie wirklich.

Aus dem Sauerstoffwerk bekamen wir mal Trockeneis, ich weiß gar nicht, wer das besorgte hatte. Das füllten wir in Plaste-Essigflaschen. Die haben wir dann in die Warnow geschmissen – und irgendwann explodierten sie. Da kam dann die Wasserschutzpolizei, die damals hier noch mit dem Motorboot Streife fuhr. Die Polizisten dachten, das wäre Karbit, da im Wasser, auch weil es so an der Hand klebte, wenn man es anfasste. Da gab es tüchtig Ärger – und wir wurden natürlich aufgeschrieben.

Im Oberbauwerk wurden damals Langschienen produziert. Dort arbeiteten auch russische Soldaten, ich erinnere mich noch daran, dass die immer so viele Abzeichen hatten. Einmal verletzte sich einer der Soldaten, der suchte dann ein Krankenhaus und wir haben es ihnen gezeigt. Am nächsten Tag waren wir auf dem Hinterhof und aus den beiden Küchenfenstern, die zum Hof gingen, riefen Oma Prief und meine Mutti Giese: „Die Jungs haven nen Ivan gehulfen“ – auf Platt natürlich.

Die Soldaten wollten immer Hefte mit nackten Frauchen. Die haben wir besorgt und dann gegen Abzeichen eingetauscht. Wir waren auch manchmal in der Unterkunft. Da mussten wir uns mal unterm Bett verstecken, weil die Offiziere kamen. Die Heftchen haben wir von älteren Geschwistern stiebitzt. Manchmal konnte man die auch so kaufen – oder wir sammelten sie aus dem Altstoff.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Dr. Schmidtbauer, wurde 1928 in Berlin geboren und lebt seit 1954 in Bützow, lange Jahre Rektor des Bützower Gymnasiums

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Meine Großmutter und ich wurden 1943 aus Berlin, meiner Geburtsstadt, evakuiert. Nach dem Feuersturm auf Hamburg, der große Teile der Stadt vernichtete und 30.000 Todesopfer forderte, befürchtete man Ähnliches für Berlin. Meine Eltern mussten in Berlin bleiben, weil sie arbeitsfähige Personen waren. Meine Großmutter und ich gelangten über die Uckermark und Südmecklenburg schrittweise in den Norden. Damals sah ich, auf der Durchreise, zum ersten Mal den Bützower Bahnhof. Ein zweites Mal sah ich ihn dann 1947 auf der Fahrt von Wesenberg nach Schwerin, wo ich den Landesvorstand der FDJ aufsuchen wollte. Das war damals eine abenteuerliche Reise über Neustrelitz, Neubrandenburg, Güstrow und Laage. Dort stieg man dann in einen Zug um, der über Bützow nach Schwerin fuhr. Bei diesem zweiten Aufenthalt sah ich erneut diesen tollen, großen Bahnhof und war mir sicher: Bützow muss eine wunderschöne, interessante Stadt sein. Anfang der 1950er Jahre war ich mit dem Paddelboot die Warnow abwärts unterwegs – und sah Bützow ein drittes Mal, nun vom Wasser aus. Dieses Mal dachte ich: Was für eine tolle Kirche! Was für eine eindrucksvolle Schleuse! Ich sah die großen Speicher, die Mühle, die damals noch in Betrieb war. Ich sah das Eckhaus zwischen der Ersten Wallstraße und der Langen Straße, ebenfalls ein tolles Gebäude. Aber dann ging es auch schon weiter, Richtung Schwaan und Rostock.

Näher kennengelernt habe ich den Ort dann aber erst, als ich 1954 dort eine Stelle als Lehrer bekam. Ich war nach dem Krieg zunächst Neulehrer in Parchim gewesen und hatte dann an der Pädagogischen Hochschule Potsdam ein Pädagogikstudium absolviert. Nun stand meine erste Anstellung an. Ich konnte zwischen Güstrow und Bützow wählen – und entschied mich für Bützow, weil es klein und gemütlich wirkte. Ich kam auf dem Bahnhof an. Und nahm natürlich an, nun direkt in der Stadt zu sein, bis mir eine mitleidige Seele erklärte, dass noch ein längerer Weg vor mir lag, bis in die Innenstadt. Ich lief über die Brücke aus Holz, einen langen, staubigen, nicht gepflasterten Weg entlang, den Gummiweg. Schließlich landete ich in ein kleines, geducktes Städtchen. Meine neue Arbeitsstelle befand sich in einer der vier Baracken am Wall, in der Nähe des Sportplatzes. Dort war damals der Rat des Kreises untergebracht. Das war dann schon ein kleiner Kulturschock. Ich meldete mich bei der Verwaltung an und ging dann zur Kaderabteilung, weil ich ja eine Unterkunft brauchte. „Tja“, lautete die Antwort: „damit sieht es eher schlecht aus. Wir sind ja gerade erst ein neuer Kreis geworden. Wohnungen haben wir derzeit nicht. Sie müssen also erstmal im Hotel wohnen, die Kosten dafür übernehmen wir.“

Also bezog ich ein Zimmerchen im Hotel Schmidt, das heute „Stadt Bützow“ heißt. Dort wurde ich gleich erstmal krank, ein richtig schöner grippaler Infekt - das war kein wirklich toller Start. Nach einer Weile wurde mir dann ein Zimmer in der Kirchenstraße 6 zugewiesen, bei einer Frau Kenk. Ihre Wohnung bestand aus einem Vorderzimmer, dass sie selbst bewohnte, und meiner Kammer auf der Hofseite, mit einem Fenster in die Küche hinein, ohne Licht und ohne Luft. Die Küche durfte ich mitbenutzen, ebenso wie das Plumpsklo auf dem Hof. So spärlich es war, war es aber ja nun immerhin meins – dachte ich. Bis mir Frau Kenk mitteilte, dass ich am Samstag und Sonntag nicht dort sein dürfe, weil sie dann Gäste bekam. So stand ich, ein inzwischen 26jähriger Mann, an den Wochenenden ohne Bleibe da. Ich stellte schnell fest, dass es in Bützow mehrere Menschen gab, die mein Schicksal teilten – und so entstand sehr bald ein großer, runder Tisch im „Hotel Schmidt“. Dort verbrachten wir dann, in meinen ersten Monaten in Bützow, gemeinsam unsere Wochenenden.

Mit der Bützower Bevölkerung hatte ich damals wenig zu tun. Daran änderte auch mein Beruf nichts, denn ich wurde gleich als Kreisreferent für Lehrerbildung eingesetzt. Hier kam ich dann fast ausschließlich mit den Lehrerinnen und Lehrern des Kreises und den Mitarbeitern der Kreisverwaltung in Kontakt. Damals war es üblich, dass man mit diesem Amt auch die Verantwortung für eine LPG übernehmen musste, egal wie weit das vom eigenen Fachgebiet entfernt war. „Du kommst vom Land, Du wirst doch wohl Ahnung von Landwirtschaft haben“, hieß es dann einfach. Und schon war ich in Wokrent mit der Überwachung der Frühjahrsbestellung betraut. Damals war dort ein alter Bauer LPG-Vorsitzender, bei dem meldete ich mich. Er zeigte mir die Maschinen, mit denen dort gearbeitet wurde – kleine Mäher und dergleichen. Er war erst ziemlich skeptisch. Aber als er feststellte, dass ich von diesen Maschinen durchaus ein bisschen Ahnung hatte, veränderte sich die Situation. Schon bald fuhr ich mit aufs Feld und half bei den Arbeiten.

Die Besetzung der neuen Schulkreisverwaltung lief damals noch sehr „auf Zuruf“: Man brauchte einen Schulrat und wählte einen der Lehrer dafür aus, einen zweiten als seinen Stellvertreter. Beide warfen schon nach einem Jahr die Flinte ins Korn – die Arbeit war ihnen zu schwer, sie wollten lieber wieder selbst unterrichten. Als eines Tages das Ministerium für Volksbildung aus Berlin anrief, sprach es mit der damaligen Sekretärin des Schulamtes, der sehr kompetenten Frau Eichhorn, auch Eichhörnchen genannt. Man verlangte, den Schulrat zu sprechen. Frau Eichhorn antwortete, dass es derzeit keinen gäbe. Daraufhin wollte man den stellvertretenden Schulrat sprechen – aber auch den gab es nicht. Schließlich verlangte man den Schulinspektor, nun hieß es: „Der ist im Kreis unterwegs.“ Das machte natürlich die Runde, alle lachten darüber, aber es musste natürlich eine Lösung gefunden werden. Bald darauf gab es einen neuen Schulrat, bei dem ich mich dann, gerade in Bützow angekommen, vorstellte. Er teilte mir mit, dass heute sein letzter Tag vor dem Urlaub sei und es nun meine Aufgabe sei, die Lehrerkonferenz zum Schuljahresbeginn vorzubereiten. Das schloss auch ein Referat mit ein, das eigentlich der Schulinspektor planen sollte. Aber auch der war schon im Urlaub und würde erst zwei Tage vor der Konferenz zurückkommen Da saß ich also, 26 Jahre jung, ohne jede Kenntnis über den Kreis, vor 40 Schulleitern und eröffnete mit ihnen das Schuljahr. Wie das gelang, ist mir bis heute unklar – aber am Ende haben wir es irgendwie hinbekommen.

Es war also keine leichte Anfangszeit. Damals träumte ich noch davon, an die Uni zu gehen. Aber je mehr ich mit meinem Amt vertraut wurde, je mehr ich auch die Vorzüge und Freiheiten meiner Stelle erlebte (der Schulrat ließ uns wirklich an der langen Leine, unterstützte die meisten Vorschläge und ließ uns machen), desto mehr wusste ich meine Arbeit zu schätzen.

Als ich als 26jähriger nach Bützow kam, dachte ich allmählich auch daran, eine eigene Familie zu gründen. Ich war dann tatsächlich auch kurze Zeit mit einer Bützowerin verlobt, aber die Beziehung zerbrach daran, dass sie überzeugte Christin war und ich mit Religion eher fremdelte. Meine spätere Frau lernte ich dann während eines Urlaubs in Zingst kennen. Wir heirateten bald darauf und sie zog mit mir nach Bützow.

Politisch engagiert habe ich mich zu DDR-Zeiten nur eine Legislaturperiode lang. Es war mir dann einfach zu langweilig, man konnte ja nichts gestalten, sondern nur Dinge zur Kenntnis nehmen. Die Haushaltsplanung für die Stadt war bereits fertig vorgegeben, die der Schule ebenso. Mit den bereitstehenden Budgets, abgesehen von den Gehältern, konnte die Schule selbst wirtschaften, da redete einem keiner rein. Aber nach der Wende, 1990, kandidierte ich dann für die Stadtvertretung.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Peter Müller, Jahrgang 1943, lebt bis heute in Bützow

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich wurde 1943 in Botin geboren. Nach einer Hausgeburt, die drei Tage dauerte, kam ich als 10-Pfund-Kind zur Welt. Nach meiner Schulzeit, 1958, wollte ich bei Herrn Stahlfast eine Ausbildung beginnen. Leider hatte er eine Stunde bevor wir dort anfragten, schon einen Lehrling eingestellt. Also begann ich dann in Löbsin eine Lehre als Landmaschinen-Traktoren-Schlosser. In diesem Beruf war ich viele Jahre tätig, beim Betrieb für Landtechnik in Steinhagen. Außerdem habe ich, zusammen mit Kollegen, als Feierabendbrigade viele Dinge in Bützow mitgebaut. Dazu gehörte unter anderem die Bushaltestelle am Pferdemarkt, der damals Otto-Grotewohl-Platz hieß. Ich wurde damals von Stadtrat Krüger gefragt, ob wir dort eine Bushaltestelle bauen könnten, als Feierabendarbeit. Wir kamen dann mit großem Gerät und bauten dann mit viel Aufwand, Stahl und Alublech eine große Bushaltestelle – an zwei Abenden. Das missfiel aber der Kreisleitung der SED, die dann unseren Direktor dafür rügte, das wir solche Arbeiten nach Feierabend übernehmen, wenn wir doch gleichzeitig Planschulden haben. Also musste ich zu unserem Direktor, dem ich versicherte, dass das eine gute Tat für die Stadt Bützow gewesen war. Trotzdem versprach ich ihm, dass wir die Planschulden aufholen würden – das solle er so an die Kreisleitung melden, was er dann auch tat. Mit Stadtrat Krüger dagegen tranken wir nach getaner Arbeit einen Wodka, als Belohnung für unsere Hilfe.

Neben der Sparkasse in Bützow (sie befand sich dort, wo heute der Parkplatz ist) haben wir mit unserer Feierabendbrigade einen Bratwurststand aufgebaut, an dem dann Bockwurst und Bratwurst verkauft wurden. Am Kaufhaus Hollien und oben an der Tankstelle (dort wo jetzt die Bäckerei ist), errichteten wir damals mit unserer Feierabendbrigade zwei Ampeln. Eine davon, die am Kaufhaus Hollien, gibt es heute nicht mehr. Die andere steht bis heute. Und wir haben damals auch viel am Kulturhaus in Steinhagen gearbeitet – immer von fünf bis sieben Uhr morgens, also vor unserer regulären Arbeit.

1982 wurde ich dann Chef der Berufsausbildung. Wir bildeten Wirtschaftskaufleute aus, aber auch Maschinen-Traktorenschlosser. Insgesamt gab es bei uns 64 Lehrlinge. Mehr als die Hälfte kam aus den LPGs der Region. In der Zeit war ich auch dafür zuständig, den Gabelstapler der Möbelwerke am Laufen zu halten. Dazu musste ich einen guten Kontakt zum Gabelstaplerbetrieb in Leipzig pflegen. Rief ich dort an, weil ich ein Ersatzteil brauchte, ließ mich der Kollege dort schon am Telefon wissen, was ich mitbringen müsste, damit er mich beliefert. Hasenpfeffer, also Wildfleisch, war damals eine beliebte Währung.

Als die Wende kam, waren die Eltern unserer Lehrlinge alle hochbesorgt, wie es weitergehen würde. Aber wir bildeten weiter aus, jetzt auch Maurer, Tischler, Gas-Wasser-Installateure und Maler. Dazu bauten wir die ehemaligen Garagen der Kampfgruppen zum Ausbildungsort um. Außerdem hatten wir ja noch die Werkstätten in Steinhagen. Wir beantragten 1,2 Millionen Fördergelder, weil uns der damalige Innenminister diese vollmundig versprochen hatte. Er traute uns die Beantragung nicht zu, das sagte er sogar öffentlich, aber wir schafften das und bekamen dann das Geld - allerdings vom Wirtschaftsministerium. Da war es unser Glück, dass Karin Reimers uns mit den Geldern half. Wir wären sonst mit der Verwaltung vollkommen überfordert gewesen und hätten alles wieder zurückzahlen müssen. Sie fand ein ziemliches Chaos vor, arbeitete aber alles ein Jahr rückwirkend auf. Aber am Ende war alles ordnungsgemäß abgerechnet.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Karin Reimers, Jahrgang 1941, geboren Wichmann, ist in Bützow geboren und hat immer hier gelebt

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich kam in Bützow, im Ziegelhofweg 13, auf die Welt, in dem Haus, das von meinem Großvater gebaut wurde und bis heute meiner Familie gehört. Inzwischen wohnt meine Nichte dort. Meine Mutter ist Bützowerin, mein Vater kam aus Szczecin.

Meine Lehre machte ich bei den Bützower Möbelwerken, in denen damals die Anbauwände der „Bützow“-Serien gebaut wurden. Es war damals, Ende der 1950er Jahre, gar nicht so leicht, eine Lehrstelle zu finden. Da half es, dass meine Mutter dort in der Produktion arbeitete und ich eben ein Arbeiterkind war. Ich wurde dort dann drei Jahre lang zum Industriekaufmann ausgebildet, als einziger Lehrling in einem Büro mit acht Mitarbeitern. Zum Berechnen der Löhne fuhren wir immer nach Güstrow in die Pädagogische Hochschule, dort stand eine große Rechenmaschine. Hatten wir die Berechnungen von dort erhalten, setzten wir uns damit in den Möbelwerken oben an den großen runden Tisch, um das Geld in die Lohntüten zu füllen. Einer zählte, ein zweiter zählte nach, bis der Gesamtbetrag dann verteilt war, ohne dass etwas fehlte oder übrigblieb. Das Geld holte ich vorher in einem Geldbeutel von der Bank ab. Einmal ging ich auf dem Rückweg noch kurz in den Schuhladen von Frau Paul, um mir ein paar neue Schuhe auszusuchen. Dort vergaß ich dann den Beutel mit dem Geld unter dem Anprobestuhl. Als ich das bemerkte, erschrak ich mich wirklich sehr. Aber ich hatte Glück – der Beutel stand da noch, als ich zurückkam.

Damals gab es von Bützow aus einen Bus, der nach Rostock zum Theater fuhr. Ich als Lehrling war dafür zuständig, die dreißig Theaterkarten zu verteilen – so viele Plätze hatte der Bus und er war immer voll. Das hat mir immer viel Spaß gemacht und brachte Abwechslung.

Zu den Möbelwerken gehörten damals auch das Sägewerk am Stadtrand und die Innenkunst in der Innenstadt. Bei Innenkunst wurden Einzelanfertigungen entgegengenommen, für die Rostocker Professoren. Zwei Frauen nahmen die Wünsche der Kunden auf, ein technischer Zeichner machte dann die Zeichnungen, auf deren Grundlage gebaut wurde. Anfangs wurden dort sogar noch Polstermöbel hergestellt, in der Polsterei unter dem Dach, die man über eine Hühnerleiter erreichen konnte. Die Sachen, die bei Innenkunst entstanden sind, waren schon damals teuer und werden bis heute zu hohen Preisen gehandelt. Bevor die Innenkunst von der DDR betrieben wurde, hieß das Geschäft Kröplin.

Als ich meinen Abschluss bei den Möbelwerken gemacht hatte, konnte ich dort nicht bleiben, aber damals bekam man ja dann trotzdem sicher eine Stelle. Ich arbeitete dann bei der Konsumverwaltung – mein Vater war damals in der Kaderabteilung beim Konsum und vermittelte mir den Job. Dort saß ich mit vier Leuten im Vorzimmer und war für Planung und Statistik zuständig, verwaltete also die Umsätze der Verkaufsstellen. Außerdem musste ich in die Verkaufsstellen in den Dörfern fahren, um dort Kontrollen durchzuführen, „auf Bruch und Schwund“ wie es damals hieß. Ich prüfte also, welche Waren kaputtgegangen oder verdorben waren. Und all das mit dem Bus. Deshalb saß ich dann oft lange an irgendwelchen Dorfbushaltestellen und wartete auf den nächsten Bus, der zurück nach Bützow fuhr.

Die Verteilung der Lebensmittel lief über Anträge der einzelnen Verkaufsstellen: Die Verkaufsstellenleiter schätzten ab, was gebraucht wurde, auf der Basis ihrer Erfahrungen. Anschreiben lassen durfte man damals noch, bis zum Ende der Woche, wenn die nächste Lohntüte kam. Da war genug Vertrauen da.

Später wechselte ich vom Konsum ins Gesundheitswesen. Nun arbeitete ich in der Baracke vor dem Krankenhaus. Da war ich viele Jahre, die Arbeit machte mir Spaß. Aber irgendwann dachte ich: Das kann es noch nicht gewesen sein. Ich bewarb mich in Potsdam zum Ökonomiestudium. Nun musste ich an zwei Tagen pro Woche nach Potsdam fahren, also sehr früh aufstehen, weil ich mit dem Zug anreisen und schon um 9 Uhr dort sein musste. Am zweiten Tag ging es dann abends zurück, da war ich dann nachts um zwei zuhause. Einmal kam ich deshalb zu spät zur Arbeit, weil ich verschlafen hatte. Aber mein Chef nahm mich in Schutz, er verstand, was das für eine Kraftanstrengung war. Trotzdem hat mir das Studium sehr gefallen – und Potsdam auch, eine wirklich schöne Stadt.

Ziel des Studiums war auch, eine Planstelle zu bekommen, die mit einem höheren Gehalt verbunden war. Hundert Mark mehr waren zu DDR-Zeiten eine Menge Geld. Also wechselte ich Anfang der 1980er Jahre, nach dem Ende des Studiums, zurück zu den Möbelwerken. Und obwohl ich Jahre weg gewesen da, erkannten mich viele Mitarbeiter wieder. Ich arbeitete dort wieder in der Planung. Das war und blieb einfach mein Metier – mit Zahlen habe ich mich immer wohlgefühlt. Ich war jetzt für die Überwachung der Produktionspläne zuständig. Dass ich später sogar Direktorin für Ökonomie werden würde, war damals noch nicht absehbar. Werksleiter gab es damals ja drei: Je einen für die Serienproduktion, die Innenkunst und das Sägewerk. Als der alte Werkleiter für die Serienproduktion ging, übernahm ich die Steller erstmal provisorisch – und später dann dauerhaft.

Damals arbeiteten mehr als 400 Leute in den Möbelwerken. Und es gab einen regelrechten Wettbewerb der Schichten untereinander. Jede Schicht wollte die bessere sein. In den Werken wurden mehrere Modelle hergestellt: Fünf verschiedene Modelle der Linie Bützow gab es im Laufe der Zeit. Die wurden alle von der Innenkunst Bützow entworfen. Die Herstellung war teilweise wirklich harte Arbeit, vor allem das Hantieren mit den großen Platten. Das wurde deshalb auch am besten bezahlt. Die Möbel wurden aus mit Furnier beklebten Platten hergestellt – dafür gab es eine riesige Furnierpresse, eine Leimauftragsmaschine. Die Platten bestanden aus einer Art Pressholz. Sie wurden aus Ribnitz angeliefert. Ein Teil der Produktion ging dann auch ins sogenannte nichtsozialistische Ausland, dafür bekam der Betrieb dann Bonuszahlungen, weil er zur Devisenbeschaffung beitrug. In manchen Jahren produzierten wir nur für den Westen. Als Ostdeutscher brauchte man gute Beziehungen, um von den Bützower Möbeln etwas abzubekommen – am besten einen guten Draht zur Betriebsleitung oder zur Kreisleitung.

Ich fuhr auch mehrfach zur Leipziger Messe, wo wir unsere aktuelle Produktion am Stand „VEB Möbelwerke Ernst Mundt“ vorstellten. Dort trafen wir auch auf Menschen aus den nichtsozialistischen Ländern (NSW). Für diese Begegnungen waren wir extra geschult worden. Wir waren da durchaus selbstbewusst, stolz auf das, was wir geschaffen hatten. Es lief gut, wir hatten keinerlei Absatzprobleme. Auf der Messe nahmen wir die Vertragswünsche auf und gaben das dann an übergeordnete Abteilungen weiter.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Karl-Heinz Stahlfast, wurde 1933 in Bützow geboren und lebt bis heute dort

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Mein Vater ist ja Bützower, aber meine Mutter kam 1914 aus dem Lippeschen, der Gegend um den Teutoburger Wald, nach Mecklenburg. Die Familie suchte nach eigenem Grund und Boden – und den gab es hier. Also zog sie mit insgesamt sechs Kindern nach Rühn, wo sie ein Gehöft übernehmen konnten. 1918 verkaufte die Familie die Bauernstelle aber wieder und zog nach Bützow, in die Bahnhofsstraße, in das Gebäude neben dem Berliner Haus. Und in Bützow lernte meine Mutter dann meinen Vater kennen. Sie war damals noch Lehrling für Buchhaltung im Holzverarbeitungsbetrieb Hofmann. Der Inhaber verließ jedoch schon kurz nach dem 1. Weltkrieg die Stadt. Also wechselte sie in das von der Familie Grimme betriebene Sägewerk und arbeitete dort im Büro. Herr Grimme, der Inhaber, war recht umtriebig, kümmerte sich viel und machte auch vieles selbst. Einmal kam Herr Teckel zu ihm, der Bützower Pferdeschlächter aus der ersten Wallstraße, um Sägemehl zum Räuchern zu holen. Er nahm nur einen kleineren Beutel voll mit, aber trotzdem wollte Herr Grimme fünfzig Pfennige dafür haben. „Sack ist Sack“, lautete die Begründung, egal ob dieser groß oder klein sei. Also kam Herr Teckel beim nächsten Mal mit einem so großen Sack, dass ihn drei Leute aufladen mussten. Und bestand darauf, dass auch der nur 50 Pfennige kosten dürfe. Das fand Herr Grimme gar nicht lustig und regte sich bei meiner Mutter sehr darüber auf. Ab sofort verkaufte er das Sägemehl nur noch nach Gewicht.

Ich selbst wurde 1933 in der Villa geboren, in der auch der Fabrikant Grimme wohnte, per Hausgeburt, wie später auch meine Geschwister. Da meine Mutter schon kurz darauf wieder arbeiten ging, kümmerte sich ihre jüngste Schwester um mich. In den Jahren 1936, 1939 und 1941 wurden dann meine Geschwister geboren.

Mein Vater machte sich zum 1.1.1935 mit einer Maschinenreparaturwerkstadt selbständig, zusammen mit einem Kompagnon. Grübbel und Stahlfast hieß die Firma zu dieser Zeit. Dann musste er in den Krieg, kam aber 1940 zurück, weil man ihn für kriegsuntauglich erklärt hatte. Er einigte sich dann mit Herrn Grübbel und führte die Firma alleine weiter: Das war die Geburtsstunde der Eisen- und Stahlschmiede zu Bützow, geführt von der Familie Stahlfast.

Bei uns im Betrieb gab es auch französische Kriegsgefangene. Von 1916 bis 1920 war mein Vater in französischer Gefangenschaft, deshalb sprach er Französisch. Die Kriegsgefangenen, es waren insgesamt fünf, wohnten gegenüber vom Bahnübergang, auf der linken Seite. Als sich 1945 die Niederlage der Nazis abzeichnete, wollten sie in mit nach Frankreich nehmen, um ihn so in Sicherheit zu bringen. Aber mein Vater weigerte sich. Er gab ihnen noch einen großen Ziehwagen und Marschverpflegung mit. Wir hatten eigentlich alles schon gepackt, um vor den Russen zu fliehen, die damals schon bei Anklam standen. Aber mein Vater sagte, er habe keine Veranlassung wegzugehen. Er sei in keiner Partei gewesen und werde als Handwerker immer gebraucht.

Zum Kriegsende war der Bützower Bahnhof voll mit Menschen, die aus dem Osten gekommen waren – und nun nicht weiterkonnte. Das lag auch daran, dass die sich zurückziehenden deutschen Truppen auch die Eisenbahnbrücke gesprengt hatten. Außerdem hatten sie Teile der Zugstrecke demontiert.

1953 mussten wir aus der Villa der Familie Grimme ausziehen und zogen in das Haus der Familie Schacht, das früher der Familie Josephy gehört hatte. Dort lebten allerdings nur noch Mutter und Tochter Schacht, denn der Vater wurde 1945 erschossen, als er seine Tochter vor den Russen beschützen wollte. Die Frau führte den Betrieb alleine weiter, eine couragierte und verständnisvolle Frau.

Ich war bei unserem Einzug in das Haus schon fast zwanzig Jahre alt. Im Vorgarten des Hauses stand ein kleiner Verschlag. In dem saß die Vermieterin und beobachtete ganz genau, wer am Bahnhof nach Bützow hereinkam. In der Villa der Familie Schacht gab es in den Nachkriegsjahren längere Zeit eine Zwangsvermietung: Oben im Dachgeschoss wohnten zwei Flüchtlingsfamilien und auf der mittleren Etage eine dritte, Familie Sawlowski. Die Wohnung von Frau Schacht war für damalige Verhältnisse sehr schick eingerichtet. Die Wände waren „gefilzt“, also mit einem mit Filz bespannten Reibbrett geglättet – dadurch waren sie ganz besonders glatt.

Als mein Vater das Werk aufgeben wollte, weil er in Rente ging, war klar, dass ich die Nachfolge antreten würde. Ich hatte 1947 die Schule verlassen, um das Arbeiten im Unternehmen von der Pieke auf zu lernen. Vorher war ich in die Ferdinand-Freiligrath-Schule gegangen. Dort blieb man dann bis zum Mittag, dann fuhren wir mit unseren Rädern nach Hause, zum Mittagessen bei meiner Mutter.

1986 heiratete ich meine Frau, Erika. Sie brachte zwei Kinder mit in die Familie, aus ihrer ersten Ehe mit einem Lehrer, wegen dem sie eigentlich mal nach Bützow gezogen. Wir hatten vorher schon eine ganze Weile in wilder Ehe gewohnt, nach der Hochzeit adoptierte ich die beiden Kinder dann. Die Hochzeit fand in Güstrow statt, im ganz kleinen Kreis, nur die engste Familie.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Ilse Mildner, Jahrgang 1933, wurde in Zernin geboren und war ihr ganzes Berufsleben lang im Bützower Einzelhandel tätig

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

1948 ging ich, als damals Vierzehnjährige, im Kaufhaus Ramelow in die Lehre. Das Kaufhaus war nach seinem damaligen Inhaber benannt, Gustav Ramelow. Kennengelernt habe ich allerdings nur seine Frau, die uns während meiner Lehrzeit einmal im Kaufhaus besuchte. Die Familie hatte ja mehrere Filialen und lebte also selbst nicht in Bützow. Der Chef des Bützower Kaufhauses war Herr Lange. Sie kam also zu uns, ganz schicke Dame, toll gekleidet. Ich wischte gerade Staub und wurde ihr nur kurz als „das ist unser jüngster Stift“ vorgestellt. Sie grüßte mich nicht mal, sondern ging einfach weiter. Das hat mich schon gekränkt, weil ich es als herablassend empfand.

Aber grundsätzlich war ich sehr froh über diese Lehrstelle, weil es damals wirklich schwierig war, eine zu bekommen. Diese hier hatte mir das Arbeitsamt vermittelt. Ich hätte auch bei Hollien arbeiten können, aber da war es mir zu duster. Im ersten Lehrjahr bekam ich fünf Mark pro Monat, immer am Monatsende bar ausgezahlt.

Das Kaufhaus sah natürlich damals noch ganz anders aus – der Laden ging nur bis hinter die Treppe im Erdgeschoss und war dort durch einen schweren Vorhang vom Rest des Gebäudes abgetrennt. Rechts neben dem Eingang befand sich die Kurzwarenabteilung, da bekam man also Knöpfe, Schnallen, Nähgarn, Portemonnaies, Schnittmuster und dergleichen mehr. Damals war das eine wichtige Abteilung, weil alle Leute noch viel selbst nähten. Für die Verkäuferinnen war vor allem der Verkauf von Knöpfen eine echte Herausforderung, weil deren Preise immer im Dutzend angegeben waren. Kam dann die Schneiderin und brauchte acht Knöpfe, musste man das genau ausrechnen und dann erst in die Kasse eintragen. Alles was wir ausrechneten wurde von Fräulein Gläser nochmal nachgerechnet. Dieses Nachrechnen war eine ihrer Aufgaben im Kaufhaus. Wenn man sich verrechnet hatte, war das immer ziemlich furchtbar und gab echt Ärger. Auf der anderen Seite des Kaufhauses gab es das, was man sonst noch so hatte - 1948 war das ja nicht viel.

Als das Kaufhaus nach der Verstaatlichung vergrößert wurde, verschwand der Vorhang und ein großer Verkaufsraum mit Abteilungen entstand. Gleich wenn man durch die große Tür kam, war rechts die Kurzwarenabteilung, die Wichtigste. In Bützow gab es viele Schneider und Schneiderinnen und Schneiderkurse. Es wurde sehr viel genäht und zwar sehr gut, möchte ich betonen, weil es damals einen anderen Ärmelschnitt gab, die Kleidung saß besser. Und war natürlich teurer, denn die Anfertigung dauerte länger. Außerdem gab es im Kaufhaus nun noch folgende Abteilungen:

1. Die Abteilung „Meterware“, in der Stoffe jeglicher Art verkauft wurden: Anzug-, Mantel- und Kleiderstoffe, aufgerollt auf dicke Papierrollen. Dort arbeitete Herr Düwe, der Herr der Stoffe. Beim Verkauf gab man sich viel Mühe. Bei Unentschlossenen wurde der Ballen gekonnt abgerollt und dem Kunden über die Schulter gelegt, damit er den Stoff im Spiegel sehen konnte.

2. Die Gardinenabteilung: Damals war sie ganz wichtig – ein schöner Blickfang von innen und außen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, diese Wichtigkeit!

In der 1. Wallstraße wohnte damals Frau Wolff. Sie war Bestatterin oder eher Leicheneinkleiderin. Sie wurde ganz diskret bedient. Sie brauchte auch Bezüge für Kopfkissen aus festem Papier, außerdem ein Hemd mit Ärmeln und Kragen und eine Decke. Kopfkissen und Decke waren kunstvoll mit weißem Seidengarn bestickt. So konnten die Verstorbenen würdig verabschiedet werden.

Eine Treppe höher lag links die Wohnung der Familie des Chefs. In der Mitte war ein Lichthof mit einem Geländer davor. An der Fensterseite saßen Näherinnen, sogar eine Schneidermeisterin war dabei. Ganz oben war eine Federreinigung. Federvieh gab es reichlich auf den Dörfern. Alte Federn wurden gereinigt und neue kamen dazu. Oder es gab ein neues Inlett, dann war alles neu. Einmal gab es ganz große Aufregung: Herr Wiechmann, Herr der Federn, hatte vergessen eine Klappe zu schließen – und die Stadt war befedert. Da gab’s auf verschiedenen Ebenen Ärger.

Als Anfang der 1950er Jahre das erste Weltjugendtreffen in Berlin stattfand, gab es im Kaufhaus die erste FDJ-Kleidung. Die war für das Weltjugendtreffen gedacht. Ich bekam Lust, bei dem Treffen dabei zu sein. Das Kaufhaus erlaubte es und ich wurde bei den Kindergärtnerinnen eingeteilt. Die haben dann ein Auge auf mich gehabt, ich war die Jüngste in der Gruppe.

Da Kaufhaus hieß nun Mecklenburgisches Kaufhaus. Da kam dann eines Tages ein junger Mann, der mit „dem Lehrling“ sprechen wollte, also mit mir. Er wollte dann wissen, welche Arbeiten mir übertragen wurden – und das waren auch tatsächlich eine ganze Menge, aber eben kein Verkauf. Im ersten Jahr habe ich nur saubergemacht, Ware sortiert und mit im Keller gelagerten Paraffin Lichter gegossen. Dazu musste ich mit einem heißen Topf auf dem Ofen das Paraffin schmelzen und umfüllen, das spritzte jedes Mal und verdarb meine Kleider. Meine Mutter war darüber schon echt sauer. Aber wir brauchten diese Lichter, weil es so oft Stromsperren gab - aber keine Kerzen zu kaufen. Glücklicherweise wussten wir ja immer, wann der Strom abgeschaltet wurde – das war jeden Tag zu einer bestimmten Zeit, in ganz Mecklenburg. Der junge Mann hörte sich meine Schilderungen an und versprach, dass sich die Situation nun ändern würde: Der Lehrling musste mit in die normale Arbeit eingebunden werden und nicht nur Hilfsarbeiten machen. Und so kam es dann auch. Damals sind aber alle so mit den Lehrlingen umgegangen, vor allem im ersten Lehrjahr. Und ein Abbruch der Lehre war damals undenkbar. Allein eine Lehrstelle zu haben, war ja schon ein großes Glück. Dann bekam man auch Gehalt.

Während der Ausbildung musste ich ja auch regelmäßig zur Kaufmannsschule. Die befand sich in der ersten Zeit in Kronskamp bei Brühl, mitten im Wald. Wir hatten dort sechs Wochen am Stück Schule und durften in dieser Zeit auch nicht nach Hause fahren. Später besuchte ich dann die Kaufmannsschule in Güstrow. An den Schulen lernten wir alles, was man zum Verkaufen brauchte: Buchführung, Abrechnung, aber auch Verkaufsgespräche. Meinen Abschluss habe ich dann mit der Note 2 gemacht. Die praktische Prüfung, die ich dafür ablegen musste, musste ich nicht an meinem Lehrort, sondern im Kaufhaus in Güstrow ablegen.

Als das Kaufhaus nach der Verstaatlichung vergrößert wurde, der Vorhang im hinteren Bereich verschwand, kamen neue Produkte hinzu – unter anderem ein Gardinenlager. Ich selbst arbeitete dann in der Kinderabteilung. Am Beiseitelegen von Waren für bestimmte Kunden beteiligte ich mich nicht – mit einer Ausnahme: die Kinderkleidung für Kinder, die Übergrößen brauchten. Die war so schwer zu bekommen, dass ich eine Liste jener Kunden anlegte, denen ich dann Sachen reservierte. Damit bin ich aber auch ganz offen umgegangen, trotzdem bekam ich immer mal Ärger.

Am Mittwoch standen die Leute immer bei uns an, weil sie wussten, dass an diesem Tag die Westware kam. Davon gab es aber immer nur wenig, diese Zuteilungen waren sehr knapp. Aber da bekam dann immer der etwas, der in der Schlange vorne stand.

Kleine Sonderregelungen gab es etwa in Bezug auf die Jugendweihe: Da bekamen wir besondere, festliche Jugendweihekleidung und verkauften die auch nur an jene Familien, in denen ein Kind Jugendweihe hatte. Das haben wir aber auch so gesagt und erklärt.

Als wir dann in den Textilfabriken Kleidung kaufen konnten, gab es aber grundsätzlich schon genug davon. Damals entstand die Idee, die Kollektionen in Modenschauen zu präsentieren. Eine fand immer bei Landers statt, vor den älteren Herrschaften, die anderen auf den Dörfern. Beispielsweise beim Bäcker in Bernitt, der uns nach der Modenschau immer zu Kuchen und Kaffee einlud. Die Vorbereitung – also die Zusammenstellung der Sachen – übernahm die Konfektionsabteilung unseres Kaufhauses. Wie die Leute von unseren Auftritten erfuhren, weiß ich gar nicht mehr genau, aber die Veranstaltungen waren immer gut besucht. Es war ja nicht so viel los auf den Dörfern, da war das schon etwas Besonderes, wenn „das Kaufhaus kam“.

Mein Mann und ich lernten uns in meiner Ausbildungszeit kennen – beim Handballspiel. Meine Handballgruppe trainierte damals auf dem Sportplatz am Wall. Dort fand dann auch ein Wettkampf im Rahmen eines Sportfestes statt, bei dem wir gegen mehrere Mannschaften antraten. Mein späterer Mann sah sich das Spiel an – und hatte wohl da schon ein Auge auf mich geworfen. Am Abend nach dem Sportfest war dann ganz großer Tanz bei Landers. Dafür machte man sich richtig schick. Mein Kleid stammte von einer Schneiderin aus Zernin, einer älteren Dame, die hier Handwerk noch richtig gut verstand – und das war trotzdem bezahlbar. Man ging mit dem Stoff zu ihr und dann nähte sie. Bei diesem Tanzabend forderte mein späterer Mann mich dann zum ersten Mal auf. Und er war ein guter Tänzer, das gefiel mir. Also hoffte ich, ihn am nächsten Tag wiederzusehen. Und tatsächlich kam er dann öfter, zum Tanzen nach dem Sportlerball. Gewohnt habe ich ja damals noch in Zernin, ich fuhr jeden Tag mit dem Zug nach Bützow. Aber nach dem Tanz konnte ich immer bei meiner Tante hier in Bützow übernachten, also durfte es auch mal später werden.

Zum Tanz bei Landner war ich damals oft. Er begann immer um 20 Uhr, nicht so spät wie das heute üblich ist. Am Eingang des Veranstaltungsortes saß immer ein Mann, der im Krieg ein Bein verloren hatte. Er verkaufte dort die Karten und sorgte für Ordnung. Auf dem Ball spielte dann eine Kapelle, deren Mitglieder alle zur Familie Kranz gehörten. Ich ging immer mit meinen Freundinnen hin. Wir saßen dann immer alle zusammen und beobachteten genau, wo jemand aufstand, um eine Frau aufzufordern. Damals durfte man als Frau ja nicht tanzen, ohne von einem Mann aufgefordert zu werden. Bei Landers haben sich viele spätere Paare kennengelernt.

Die Eltern meines Mannes waren, wie meine auch, aus dem Sudetenland geflohen und dann nach Bützow gekommen. Mein Mann, 1926 geboren, musste in der Hitlerzeit an die Front. Nach dem Krieg war er dann drei Jahre in Gefangenschaft – mit Arbeit im Bergwerk und einer Typhuserkrankung. Das war eine schlimme Zeit, er hatte großes Glück, dass er sie überlebte. Als er ins Sudentenland zurückkehrte, fand er seine Eltern natürlich nicht mehr vor. Die Eltern hatten sich mit einer Suchanzeige für ihren Sohn beim Roten Kreuz gemeldet, das half am Ende, dass die Familie sich wiederfand. Vor seiner Armeezeit hatte er gerade seine Bäckerlehre abgeschlossen und wollte nun in Bützow auch wieder in seinem Beruf arbeiten. Aber zunächst war er bei der Forst beschäftigt, bis er dann eine Stelle bei der HO-Bäckerei in der Hauptstraße fand. Das hieß natürlich immer „mitten in der Nacht“ aufstehen. Sonntags, auch nachdem wir tanzen gegangen waren, musste er immer um zehn Uhr in die Bäckerei, um den Sauerteig anzusetzen, damit zum Montag Brot gebacken werden konnte. Weihnachten buk er dann immer Stollen für die ganze Familie. Und die war groß. Also lagen dann schon im späten Herbst riesige Mengen von Stollen bei uns oben auf dem Schrank. Auch Torten konnte er wunderbar backen – die Schwanentorte, die so aufwändig war, gab es immer, wenn unsere Kinder Geburtstag hatten.

Später arbeitete ich in der Drogerie in der Hauptstraße 40, als Schwangerschaftsvertretung für die Inhaberin. Sie hatte mich angesprochen, weil ich im gleichen Haus wohnte und ja vom Fach war. Ich hatte damals selbst schon zwei Kinder, also musste ich meine Tante Minna bitten, mir bei der Betreuung zu helfen. Leider war die Inhaberin aufgrund einer schweren Schwangerschaftsvergiftung nach der Geburt ihres Kindes nicht wieder arbeitsfähig und ich blieb länger als geplant in dem Laden.

Mein Mann hat immer wirklich wenig verdient. Als unser drittes Kind geboren wurde, konnte ich erstmal nicht mehr arbeiten gehen. Da kamen wir mit dem Geld nicht mehr aus. Ich hätte gern wieder gearbeitet, aber Tante Minna konnte ich nicht fragen – die war der Meinung, dass man Kinder, die man in die Welt gesetzt hatte, auch selber aufziehen sollte. Da habe ich mich nicht getraut zu widersprechen. Aber eigentlich kamen wir gut miteinander aus, Minna und ich. Wir haben nachher sogar zusammen mit ihr unser Haus gekauft. Am Ende war es dann auch gut und richtig so, dass ich mit den Kindern zuhause war. Sie waren zwar nicht in der Krippe oder Kita, aber ja trotzdem unter Kindern, denn es gab genug Kinder auf der Straße – und genug Auslauf in Richtung Wall, da brauchte man damals keine Angst haben. Falls doch mal ein Auto kam, ging man eben zur Seite, aber das passierte damals nicht allzu oft.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Erinnerungen von Herrn Stryi, Jahrgang 1934 zog 1948/49 nach Bützow

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

1948/49 - Die Einschulung in die 9. Klasse . Betrachtet man die äußeren Bedingungen für einen Oberschulstart 1948 und das Ziel, ein Abitur zu machen, nach einem längeren zeitlichen Abstand, so muss man feststellen, dass die Auswirkungen des Krieges noch deutlich vorhanden waren: Der Altersunterschied innerhalb meiner Klasse betrug fünf Jahre. Die Hälfte der Lehrer hatte das Rentenalter überschritten. Das Angebot an Fremdsprachen wechselte in jedem Schuljahr (Latein, Englisch, Russisch). Die Verfügbarkeit von Lehrmitteln (Bücher, Schulhefte, Schreib- und Zeichenmaterial) war miserabel.

Mit den neuen Schulbedingungen, den anderen Lehrern und einer Anzahl neuer Klassenkameraden musste man sich erst einmal vertraut machen. Die große Pause wurde zur Ausgabe eines kleinen trockenen Brötchens und einer kleinen Tasse kalter Milch durch die Hausmeisterin Frau Helms genutzt. Am 29.3.1949 trat ein neuer Direktor sein Amt an, Clemens Maria Rump, ein Fachlehrer für Biologie und Erdkunde aus der Oberschule Rostock.

Am 30.4.1949 erfolgte, unter Teilnahme von Vertretern der Partei, der FDJ und wichtigen Betrieben, die feierliche Namensgebung zur „Geschwister Scholl Oberschule“ vor dem Schulgebäude. In diesem und dem folgenden Schuljahr wurde jeder Schüler zum Sammeln einer bestimmten Menge an Heilkräutern verpflichtet, beispielsweise Taubnesselblüten und Brombeerblätter. Die gewünschten Kräuter waren gelistet, die Mengen unterschiedlich hoch. Abgegeben und getrocknet wurde im Dachgeschoß des Rathauses. Der beauftragte Mann – wir nannten ihn „Kalmusdirektor“ – wog, registrierte und gab, als Belohnung und Anreiz für weitere Aktivitäten, die damals begehrten Süßstofftabletten aus. Den Spitznamen hatte er bekommen, nachdem wir unter seiner Führung zum Kalmuswurzelstechen an umliegende Bach- und Flussufer gezogen waren.

1951/52 – Die Abiturzeit . Durch steigende Schülerzahlen war es notwendig geworden, nach zusätzlichen Räumlichkeiten Ausschau zu halten. Diese boten sich in der Berufsschule für Sonderberufe (das waren z.B. Schornsteinfeger) im Nachbargebäude an.

Auf Anweisung des Schulministeriums war für den Abiturjahrgang 1952 festgelegt worden, dass es fünf schriftliche (Deutsch, Mathematik, eine Fremdsprache und zwei aus den Fächern Biologie, Chemie, Physik, Erdkunde in freier Wahl) Prüfungen geben würde, die Ende April stattfanden. Dann folgten vier mündliche Prüfungen im Mai (Geschichte und Gegenwartskunde für jeden Schüler), dazu zwei weitere Fächer durch Festlegungen aus der Schulkonferenz mit Vertretern der Landesschulbehörde. Erst am jeweiligen Prüfungstag wurde den Schülern mitgeteilt, in welchen zwei Fächern sie mündlich geprüft werden. Der Jahrgang 1952 ist ein guter gewesen, 20 von 37 beendeten das Abi mit gut. Alle Abiturienten begannen im September ein Studium oder eine berufliche Ausbildung.

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06. Dec 2024
Bützow > Geschichten

Nicole, ihr fünfjähriger Sohn Maik besucht die Kita „Kleines ganz gross“ in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Wir wohnen in Lichtenhagen, aber Maik besucht seit einem Jahr die Kita in Groß Klein. Also kommen wir jeden Tag mit dem Roller über die große Brücke, denn der Weg ist für jemanden in seinem Alter doch ganz schön weit. Aber so funktioniert es ganz gut. Ich mag Groß Klein sehr, es ist grün und fast ein bisschen ländlich – mit viel weniger Verkehr als in der Innenstadt. Und ich mag es, dass wir so dicht am Wasser wohnen.


Unsere Ärzte sind auch alle in Groß Klein. Zurzeit erkunden wir die Spielplätze im Stadtteil. Mein großer Sohn hat hier Freunde, aber das wird sich sicher eher wieder nach Lichtenhagen verschieben, weil er im Herbst dort zur Schule kommt. Zurzeit wohnen wir dort noch in einem Wohnprojekt, aber im nächsten Jahr suchen wir eine 5-Raum-Wohnung, damit unsere drei Kinder auch eigene Zimmer haben. Ich hoffe, dass das dann in Lichtenhagen klappt, denn da fühlen wir uns auch sehr wohl. Das hat mich überrascht, weil ich zuerst Sorge hatte, dass Rostock zu groß für mich ist. Ich komme eigentlich aus Waren/Müritz, habe dann drei Jahre in Kröpelin gelebt und bin dann vor drei Jahren hierhergezogen. Nach Groß Klein wäre ich auch sehr gern gezogen, ich mag den Stadtteil sehr.

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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Margret Garlipp, ist gern in Groß Klein zu Besuch

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Als Groß Klein damals gebaut wurde, war das so ein Stadtteil, von dem ich gesagt habe: Da ziehst Du nie hin. Die großen Ringe und das ganze Drum und Dran, davor hatte ich eine Scheu. Aber Groß Klein hat sich in den Jahren so verändert, ich komme gern hierher, vor allem ins Börgerhus. Es ist irgendwie richtig schön geworden und hat einen ganz anderen Ruf bekommen. Aber mich ärgert immer diese Sendung von RTL2 (Anm.: „Hartz aber herzlich“ mit Beiträgen über den Blockmacherrring in Rostock Groß Klein“). In der hört es sich immer so an, als ob nur solche Leute hier wohnen. Das ist so peinlich. Da werden Rostock und dieser Stadtteil sehr negativ dargestellt.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Anne Friesecke, wohnt seit 2022 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich stamme eigentlich aus Alt Dierkow, dort bin ich großgeworden. 2004 bin ich dann nach Lichtenhagen gezogen und jetzt, vor zwei Jahren, nach Groß Klein. Einige Ecken, darunter auch das Klenow Tor und das Börgerhus, kannte ich schon aus meiner Zeit in Lichtenhagen. Hier in Groß Klein wohnt man sehr entspannt, es fühlt sich ein bisschen wie auf dem Dorf an hier. Von meiner Wohnung aus kann ich direkt auf den Spielplatz gucken, auf dem wir viel Zeit verbringen. Aber genauso gern sind wir auf dem Spielplatz in Groß Klein Dorf. Auf dem war ich als Kind auch schon, mit meinen Großeltern, die dort wohnten. Dort fühle ich mich bis heute sehr wohl – und für meinen Sohn ist es dort auch schön. Da kann er frei herumlaufen, ohne dass man ständig auf Autos achten muss. Dort gehen wir auch gern spazieren. Die Leute in meinem Haus kenne inzwischen auch schon etwas besser: Wir unterhalten uns immer mal, das ist insgesamt sehr angenehm. Im „Börgerhus“ war ich in der Anfangszeit mal, weil ich mich dort ehrenamtlich engagieren wollte, aber als alleinerziehende Mutter habe ich jetzt nicht mehr so viel Zeit.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Lamis Alobaid, wohnt 2015 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich komme ursprünglich aus Syrien und wohne seit neun Jahren in Groß Klein, mit meinem sechsjährigen Sohn. Mir gefällt es hier sehr gut. Ich wohne am Klenow Tor und da ist man schnell an der S-Bahn-Station, die Supermärkte sind ganz in der Nähe. Auf dem Spielplatz am Klenow Tor sind wir besonders oft. Dort wäre es schön, wenn es eine öffentliche Toilette gäbe – derzeit gehen viele Menschen einfach in die angrenzenden Gebüsche, wenn sie mal müssen. Ich gehe mit meinem Sohn auch zum Sport für Kinder im Börgerhus und wir leihen Bücher in der Bibliothek aus. Aber wir suchen gerade eine Wohnung in Warnemünde, weil mein Mann dort arbeitet und die Wohnungen dort komfortabler sind. Was mir hier sehr fehlt, ist ein Drogeriemarkt. In Lichtenhagen gibt es einen, aber der ist sehr klein.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Kurt Schnabel, wohnt seit 2008 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich komme eigentlich aus Berlin. Meine Frau ist eine echte Berlinerin und mein Sohn hat Seefahrt studiert, dafür zog er an die Küste. Nachdem meine Mutter verstorben war, hat unser Sohn uns überredet, in den Norden zu ziehen. Erst zogen wir nach Graal Müritz, haben dort aber sehr schlechte Erfahrungen mit dem Vermieter gemacht. Also suchten wir erneut – und fanden 2008 unsere jetzige Wohnung, im Baggermeisterring hier in Groß Klein. Damals stand in den großen Häusern viel leer, das hat uns gewundert. Wir haben den Hausmeister darauf angesprochen, der war sehr nett. Er erzählte uns, dass nach der Wende alle Häuser bauen wollten und aus Groß Klein wegzogen. Und zeigte uns dann eine wirklich schöne Wohnung, die unseren Wünschen entsprach: in einer der untersten Etagen – man wird ja älter – und mit kurzen Versorgungswegen. Die Wohnungen waren in ordentlichem Zustand, da kann man nicht meckern. Und der Netto nur 150 Meter weit weg, das Klenow Tor mit Ärzten, Geschäften und Apotheke nicht weit entfernt. Wir haben dann noch ein bisschen rumgeschnuppert und festgestellt, dass S-Bahn und Bus vor der Tür abfuhren, Schulen gab es auch, alles da. Mit ein paar Schritten ist man im Grünen, hinten raus in den Gartenanlagen, man kann entspannen und alles. Wunderbar, hier ziehen wir her. Hier können wir alt werden. Das war die Bedingung, wir wollten das letzte Mal für uns umziehen. Leider ist meine Frau inzwischen verstorben. Aber ich habe einen Vertrag mit meiner Hausärztin, dass ich hundert Jahre alt werde. Da muss ich natürlich mitspielen, hat sie gesagt. Ich bin mit der ärztlichen Betreuung hier sehr zufrieden, was hier im Klenow Tor an Fachärzten ist, das hat so manche Großstadt nicht. Im zunehmenden Alter braucht man auch seine Ruhe und ich will nicht, dass alle zehn Minuten eine S-Bahn an mir vorbeifährt, da fand ich das hier sehr schön.


Als meine Frau gestorben war, musste ich ja zur Genossenschaft. Die haben mir gesagt – und da ziehe ich vor denen mächtig den Hut –, dass ich nicht ausziehen muss: „Wenn Sie aber möchten, unterstützen wir Sie und wir machen auch den Umzug für Sie.“ Aber ich wollte bleiben. Auch viele Leute im Haus haben mich nach dem Tod meiner Frau unterstützt. Bei uns im Aufgang kennt man sich, jeder spricht mit jedem. Und im übrigen Block kennt man zwar nicht jeden, aber schon noch ein paar Nachbarn. Ich bin ja nun Rentner und wohne Parterre, da kriege ich immer für das ganze Haus die Pakete. Das macht mir gar nichts aus, alle wissen, dass ich die Hauptpost bei uns im Haus bin, wenn die jüngeren Leute arbeiten gehen. Ich habe im Haus auch bei jemanden meinen Schlüssel hinterlegt, das weiß die Genossenschaft auch. Also wenn mal was ist, wenn ich nicht da bin, da muss nichts aufgebrochen werden. Da bin ich sehr zufrieden. Was mir auch positiv auffällt, es sagt öfter mal jemand: Mensch, ich habe dich lange nicht gesehen. Wo warst du denn? Das finde ich gut. Ich bin keiner von hier, aber ich komme gut mit den Leuten klar. Ich fühle mich richtig wohl.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Rosi Dexheimer, lebt seit 2007 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Seit meiner Kindheit ist die Ostsee das Ziel meiner Träume. Die Zeit, die ich als Kind im Ferienlager in Glowe verbringen durfte, war damals die schönste Zeit für mich. Als mein Mann 2007 starb, war ein Zeitpunkt gekommen, mein weiteres Leben zu überdenken. Warum nicht den Traum meines Lebens in Erfüllung gehen lassen? Im Internet fand ich unter den Rostocker Wohnungsangeboten der WIRO eine passende Wohnung in Groß Klein. Gesagt, getan! Eine Besichtigung erfüllte meine Erwartungen und machte mir die Entscheidung leicht. Die Bedenken meiner Familie und meiner Freunde in Bezug auf meinen Aufbruch in ein Abenteuer mit unbekanntem Ausgang beirrten mich nicht.


Ich kam mit dem 2005 eröffneten „Börgerhus“ in Kontakt, als ich Leserin der gut sortierten und durch Neuvorstellungen und Lesungen auffallenden Bibliothek wurde. Ich bot mich bei der Hausleitung an, mich in meiner Freizeit ehrenamtlich zu engagieren. Freudiges Erstaunen! So kam ich zum Arbeitskreis „Senioren“.


Ein Erfolgserlebnis war für mich, dass die von mir mitorganisierte Bürgerinitiative für einen Fuß- und Radweg Groß Klein - Warnemünde beim Bau des Nordkreuzes vom damaligen Senator Holger Matthäus umgesetzt werden konnte. Das war für mich als passionierte Radlerin eine große Freude!


Groß - klein - ein Wortspiel! Wie passt Groß und Klein zusammen? Für meine alten Freunde ein Kuriosum! Beim Suchen in der Geschichte wurde ich fündig: 1355 wurde erstmalig das von Slawen und Wenden besiedelte und von Ahornbäumen bedeckte Gebiet als „Wendischer Ahornort“ erwähnt. Ahorn bedeutet auf Slawisch „klene“. Aus „klene“ wurde „Klein“.


Ich bin angekommen, in einem liebens- und lebenswerten Stadtteil von Rostock, jener Stadt, die zu einer der beliebtesten Städte in Europa gekürt wurde. Die Ostseenähe, ein Strandkorb und ein Küstenradweg für die E-Bikerin. Was will man mehr!


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Anja Stegmann, wohnte in den 1980er Jahren mal ein wenig in Groß Klein und leitet seit April 2006 die Stadtteilbibliothek im Börgerhus

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich kenne Groß Klein schon aus meiner Jugend ein wenig, denn ich habe als Jugendliche einige Zeit hier gelebt. Damals zog meine Familie aus Halle nach Rostock, weil mein Vater die Leitung des Düngemittelwerkes in Peez übernahm. Ich war allerdings nicht allzu oft hier, weil ich schon kurz darauf meine duale Ausbildung zum Bibliotheksfacharbeiter begann. Also verbrachte ich immer vier Wochen am Stück in Sondershausen, in der zentralen Berufsschule. Und dazwischen jeweils vier Wochen in Groß Klein, weil ich in der damaligen Willi-Bredel-Bibliothek, der heutigen Stadtbibliothek, arbeite. Erst später schloss ich noch ein Studium zur Bibliothekarin an. Damals entstand der Stadtteil Groß Klein gerade erst. Es war überall noch matschig, weil die Plattenwege fehlten. Am S-Bahnhof Lichtenhagen konnte man am Zustand der Schuhe erkennen, ob jemand aus Lichtenhagen oder Groß Klein kam: die Groß Kleiner waren die mit den schlammigen Schuhen. Es war ja in der DDR üblich, dass erst die Wohnungen fertiggestellt werden und die Infrastruktur dann danach.


Als ich dann 2006 zurückkam, war ich positiv überrascht, wie gut sich der Stadtteil entwickelte hatte. Ich begann damals nämlich, hier in der Stadtteilbibliothek zu arbeiten, die sich seit Dezember 2005 im „Börgerhus“ befindet. Als sie eröffnete, war ich noch in Dierkow in der Stadtteilbibliothek, wo ich über viele Jahre hinweg Jugendprojekte betreute. Dann stellte sich heraus, dass die Groß Kleiner Bibliothek in dieser Anfangszeit nicht gut lief. Viele Menschen hatten noch gar nicht mitbekommen, dass die Bibliothek aus dem Klenow Tor ins „Börgerhus“ umgezogen war. Deshalb gingen die Ausleihzahlen dramatisch nach unten. Also bat mich mein damaliger Chef, mich der Situation anzunehmen und ich wechselte innerhalb einer Woche meinen Arbeitsort. Ich begann dann sofort, die ersten Veranstaltungen zu organisieren. Dabei zeigte sich schnell, dass die Behauptung meiner Vorgängerin, die Schulen hätten kein Interesse an der Bibliothek, überhaupt nicht stimmte. Ich stellte mich auf verschiedenen Elternabenden an Schulen vor – und hatte innerhalb eines Monats mehr als sechzig Neuanmeldungen von Kindern. Das Interesse war also wirklich groß.


Auch das „Börgerhus“ selbst war damals noch nicht so gut besucht. Sogar das Mittagessen, das es hier von Anfang an gab, wurde noch wenig genutzt. Durch den Besuch der Bibliothek bekamen allmählich mehr und mehr Leute mit, was hier noch so angeboten wurde. Und umgekehrt kamen Leute zum Mittag her und bemerkten dabei die Bibliothek. Und allmählich fanden im „Börgerhus“ dann auch mehr und mehr Kurse statt – Sport, Malen und dergleichen. Viele der Teilnehmer sind auch Leser bei mir. Ich fühle mich hier wirklich sehr wohl und arbeite sehr gern hier. Sonst wäre ich wohl nicht so lange geblieben.


Heute kann ich sagen, dass alle Kinder, die seit 2006 in Groß Klein in die Kita oder zur Schule gegangen sind, irgendwann einmal hier in der Bibliothek waren. Und vielen von ihnen konnte ich tatsächlich beim Großwerden zusehen. An ein Mädchen erinnere ich mich besonders: Sie kam fast jeden Tag und brachte sogar ihre Hausschuhe mit, um es sich hier so richtig gemütlich zu machen. Später bewarb sie sich dann für ein Schülerpraktikum bei uns, weil sie sich hier von klein an so wohlgefühlt hatte. Ich denke wirklich, dass diese Bibliothek für Kinder und Jugendliche ein wichtiger Ort hier in Groß Klein ist. Vor allem die Hortkinder kamen und kommen so zahlreich, dass der Hort sie nur noch „gestaffelt“ zu uns schicken konnte. Jedes Kind bekommt eine Medaille, auf der ihre oder seine Bibliotheksbesuchszeit steht. Und die meisten dieser Kinder interessieren sich nicht nur für Computerspiele, sondern leihen dann auch Bücher aus.


Mit den Schulkindern machen wir in der ersten oder zweiten Klasse immer eine Einführung in die Bibliothek und helfen ihnen auch bei der Anmeldung. Aber wir machen auch thematische Veranstaltungen. Zu bestimmten Feiertagen oder Themen, die die Schulen sich wünschen. In den Ferien kommen Hortgruppen zu uns, auch aus den umliegenden Stadtteilen. Sehr beliebt bei den Erwachsenen, mehrheitlich den älteren unter ihnen, ist auch das Lesecafé, das ich 2006 ins Leben gerufen habe. Da kommen jedes Mal 30 bis 35 Leute. Anfangs habe ich da immer allein neue Bücher vorgestellt, die ich zum Lesen empfehle – inzwischen tun das auch andere Leute, die an der Veranstaltung teilnehmen. Es hat lange gedauert, bis sich die erste traute, inzwischen sind weitere hinzugekommen. Das ist eine Bereicherung, weil ja verschiedene Menschen immer auch unterschiedliche Bücher auswählen und auf ganz eigene Art vorstellen. Inzwischen hat das Lesecafé einen festen Kreis von Teilnehmern, die sich auch untereinander gut kennen.


Donnerstags kommen vor allem die Familien, die dann Bücher und Spiele fürs Wochenende ausleihen wollen. Die kommen manchmal mit großen Tüten – und die sind dann voll, wenn sie wieder gehen. An diesem Tag erreichen wir auch mal die 30jährigen oder 40jährigen, die in der Regel keine Zeit haben, unsere Veranstaltungen zu besuchen.


2012 ist mein Vater aus seinem Dorf nach Groß Klein zurückgezogen, weil er für das Landleben nicht mehr mobil genug ist. Hier im Stadtteil kommt er mit seinem Rollator noch fast überall hin. Wenn ich hier bin, sind wir oft im IGA-Park, auch zu den Veranstaltungen im Sommer.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Frühling, Sommer, Herbst und Winter in der Alten Warnemünder Chaussee in Groß Klein – Von Kerstin Schnegula

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

2002 war mein persönliches Glücksjahr. Ich hatte die Chance, in ein Mietshaus in Groß Klein zu ziehen, das für meine Familie das Zuhause für 14 Jahre sein sollte. Dieses neue Domizil hatte der größte Vermieter der Hansestadt großfamiliengerecht umgebaut. Drei Monate vor dem Umzug wussten wir, dass wir endlich den Zuschlag bekommen hatten. Damals war ich kurz vor der Niederkunft und freute mich sehr, dass sich die Lebensqualität für uns schlagartig verbessern würde. Am besten war, dass ich mich nun nicht mehr ständig dafür rechtfertigen musste, dass viele Menschen mehr Geräusche verursachen. Kinder haben einen ausgeprägten Bewegungsdrang. Sie müssen die Welt entdecken.


In dem Haus, das in den 1930er Jahren errichtet wurde, gab es auch einen kleinen Hohlraum, der früher wahrscheinlich für die Lagerung von Lebensmitteln nützlich war. Mein Sohn Wolfgang bezeichnete diesen Vorratsspeicher spaßeshalber oft als „Kammer des Schreckens“, denn dort sammelten sich etliche Spinnen. Er musste immer mit einem Glas die Mauerspinnen einfangen, damit sich seine Schwestern nicht gruselten. Allein bewohnten wir das Haus nicht. Im Dachgeschoss hatte sich ein Marder ein Quartier gesucht. Ab und zu konnten wir ihn sehen. Von einem Baum sprang er auf das Vorderdach an der Eingangstür. Im Garten des Hauses befanden sich zwei wunderschöne Tannen, die auch den Vögeln ein Domizil boten. Umgeben war das Haus von einer herrlichen Buchenhecke. Dieser Naturzaun dämpfte den Straßenlärm etwas ab. Auch die Feinstaubbelastung verringerte sich ein wenig. Vor allem aber hatten die Vögel Nistmöglichkeiten.


Die Umgebung des Hauses gefiel mir auch. Man war schnell im IGA-Park, so dass ich mit meinem Nachwuchs regelmäßige Bewegungsmöglichkeiten an der frischen Luft absolvieren konnte. Die „Troika“ mit zehn Bungalows in der Nähe bot den Gästen damals noch ein Urlaubsquartier. 2011 endete die Beherbergungsgeschichte, denn nach Überschwemmungen gab der Betreiber auf. Auch das „Getränkeland“, das sich neben unserem Haus befand, wurde inzwischen abgerissen. In den ehemaligen Supermarkt auf der anderen Straßenseite ist ein Markt für Tierfutter eingezogen.


Zeiten ändern sich. Auch unser Mietshaus hatte eine wechselvolle Geschichte. Am Anfang war es noch das Domizil für einen Bauern und seine Familie. Später befand sich sogar ein FDJ-Jugendklub dort. Unsere Vermieterin war die WIRO, die 2002 in neue Geschäftsräume umzog. Vor meinem längeren Aufenthalt in dem Haus in der Alten Warnemünder Chaussee hatte ich verschiedene Häuser in Teterow Richtenberg, Velgast und Tribsees besichtigt. Meine ältesten Söhne hatten mich dabei begleitet. Als geborene Stadtkinder hatten sie die Vorzüge von Rostock natürlich verinnerlicht und wollten nicht auf’s Land ziehen. Ohne ihre Zustimmung wollte ich aber keinen Umzug wagen, denn war nützt einem das schönste Haus, wenn der eigene Nachwuchs dort unglücklich ist? Für meinen geselligen Zweitgeborenen war der Umzug in seiner kurzen Lebenszeit ein Segen, denn er konnte dort seine Freunde empfangen.

Ich hatte bereits in acht Mietquartieren in Rostock gelebt. Die Zeit in Groß Klein war mit Abstand die schönste, denn die Lebensqualität für meine Familie hatte sich schlagartig um 180 Grad verbessert.

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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Gabriele Zyrus, Leitung der Montagsmaler, Mitglied des Arbeitskreises Senioren und Mitorganisatorin von Veranstaltungen, wohnt seit 1997 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich komme ursprünglich aus Meiningen. Ich bin ja gelernte Zeichnerin und habe in Meiningen meinen Abschluss als Konstrukteurin gemacht. 1969 wurde ich dann zum Architekturstudium nach Heiligendamm delegiert. Nach dem Abschluss des Studiums ging ich zunächst nach Meinigen zurück, in meinen alten Betrieb. Dieser delegierte mich schon bald darauf für ein Jahr nach Rostock, wo ich eine Zweigstelle mit aufbauen sollte. Während dieser beiden Aufenthalte im Norden ist mir Rostock sehr ans Herz gewachsen, also beschloss ich hierzubleiben. Zunächst wohnte ich direkt auf dem Gelände meines neuen Betriebs, in der Innenstadt, in einem einzelnen Zimmer. 1979 besorgte mir mein damaliger Chef dann eine kleine 1-Zimmer-Wohnung mit Alkoven und Küche in der August-Bebel-Straße. Die Toilette lag im Keller, hatte kein Licht und wurde von allen Mietern gemeinsam benutzt. Ich habe dann über meine Betriebszugehörigkeit versucht, immerhin eine ordentliche Flur- und Toilettenbeleuchtung zu organisieren. 1979 zog ich dann nach Schmarl, in eine 1-Raum-Wohnung der AWG – und erst 1997 nach Groß Klein, in den Gerüstbauerring. Allerdings lag meine Arbeitsstelle damals im Land Brandenburg. Das hieß für mich: Montag früh um fünf auf die Autobahn, Freitagabend gegen halb sechs wieder zuhause ankommen. So ging das bis 2001, dann war mein Arbeitgeber hoch verschuldet und musste 130 Angestellte entlassen. Ich bekam für ein halbes Jahr eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM).


2003 meldete ich mich im Stadtteilbüro, um zu erfahren, ob ich mich irgendwie in die Stadtteilarbeit einbringen könnte. Das Büro befand sich damals noch in dem Hochhaus, in dem jetzt „Trockendock“ untergebracht ist. Ich traf mich mit Frau Prill, der ersten Stadtteilmanagerin von Groß Klein. Sie nahm mein Angebot erfreut an. Eines Tages erzählte sie mir, dass im Dezember das „Börgerhus“ eröffnet würde. Ich ging zur Eröffnungsfeier im Dezember 2005. Dort traf ich auf den damaligen Leiter, Lars Müller, der mich sofort einlud, in der Küche zu arbeiten. Das tat ich dann mehr als sechs Jahre lang, einmal pro Woche, für drei Euro pro Stunde. Außerdem kümmerte ich mich gleich in diesen ersten Tagen des „Börgerhuses“ darum, dass es dort schön aussah: besorgte Tannengrün und gestaltete Weihnachtsgestecke. Schnell stellte sich heraus, dass es niemanden gab, der sich um den Einkauf kümmerte. Also übernahm ich das – und fuhr dafür mit meinem eigenen Auto einmal pro Woche in den Ostseepark in Sievershagen, um Lebensmittel zu besorgen. Große Mengen, einmal waren es allein 28 Kilo Fleisch.


In dieser Zeit begann im „Börgerhus“ der Zeichenzirkel von Frau Domhat. Sie lud mich dazu ein, aber er fand immer dienstags statt – und da war ich zum Einkaufen unterwegs oder mit Brötchenschmieren beschäftigt. Da gab es damals auch viel Bedarf: Wir versorgten die Bauarbeiter, die noch im Haus arbeiteten. Und auch die Schule, wenn dort Lehrer Geburtstag hatten – im Bistro, das damals noch bis 17 Uhr geöffnet war. Aber irgendwann kam ein Zeichenzirkel hinzu, der montags stattfand und von Frau Breddin angeboten wurde. Da konnte ich dann dabei sein. Am Anfang waren wir in diesem Kurs, der sich „Die Montagsmaler“ nannte, sieben Leute. Später kamen noch Leute aus Lichtenhagen und Lütten Klein hinzu. 2007 haben wir begonnen, Ende 2008 unsere erste Ausstellung im Börgerhus gemacht. Ich hatte damals ein schönes Blumenbild gemalt und wollte es Weihnachten eigentlich meiner Schwägerin schenken. Aber eines Tages, als ich gerade in der Küche arbeitete, fiel mir eine Frau mit einem großen Beutel auf, die mich so seltsam anlächelte. Erst mal dachte ich mir nicht viel dabei – aber als ich zum Feierabend alles aufräumte, war mein Blumenbild verschwunden. Und weder das Bild noch diese Dame sind je wieder aufgetaucht. Das war leider kein Einzelfall: Insgesamt vier Bilder der Montagsmaler haben offenbar so große Liebhaber gefunden, dass sie ungefragt mitgenommen wurden. Trotzdem machen wir seit 2008 jedes Jahr eine Ausstellung, mit einer richtigen Eröffnung mit Musikprogramm, zu der wir auch immer den Dienstags-Malkurs einladen, zu dem wir Kontakt halten und den wir sehr mögen. Beim letzten Mal hatten wir sogar einen Musiker vom Theater, weil wir unser 15jähriges Jubiläum feierten. Irgendwann habe ich dann mit Maren Müller von der AWO verabredet, dass wir in deren Betriebsgebäude zusätzliche Ausstellungen machen. Das tun wir bis heute, mit einer kurzen Unterbrechung. 2010 hörte Frau Breddin dann auf. Das wäre eigentlich das Ende des Zeichenzirkels gewesen, also erklärte ich mich bereit, von nun an die Organisation zu übernehmen. Seitdem treffen wir uns weiterhin wöchentlich.


2011 endete meine Arbeit in der Küche. Seitdem bin ich ehrenamtlich im Arbeitskreis Senioren aktiv. Wir organisieren dort wirklich viele Dinge – vom Bastelangebot für Senioren bis zu Adventsbasteleien für Kinder. Durch meine Arbeit als Innenarchitektin kenne ich mich mit Dekorieren aus und hatte auch noch viele dafür geeignete Dinge zuhause, die wir dort verwenden konnten. Wir organisieren regelmäßig Kulturabende und auch Informationsveranstaltungen, zu Themen wie Kontensicherheit oder Pflegedienste. In den letzten Jahren gab es hier dann auch immer wieder Kabarettveranstaltungen, da habe ich dann immer den Kartenverkauf am Abend übernommen. Wir haben auch mal Musiknachmittage im Seniorenheim organisiert.


Irgendwann kam mir dann die Idee, Beiträge für die Stadtteilzeitung zu schreiben. Inzwischen sind dort schon etliche Gedichte von mir erschienen. Hinzu kam noch meine Hilfe beim Stadtteilfrühstück – da bin ich bis heute dabei, kümmere mich um die Einkäufe, bereite das Essen mit vor und decke die Tafel mit ein.


In meiner Zeit hier konnte ich erleben, wie der Stadtteil nach und nach immer schöner wurde. Es wurden Dinge gestaltet und Häuser saniert. Als ich in den Gerüstbauerring zog, gehörte das Haus noch der WG Union, wurde aber dann schon bald an FIDES verkauft, ein bayerisches Unternehmen. 2008 zog ich dann in die Willi-Döbler-Straße, in ein Haus mit Aufzug. Da wohne ich in der obersten Etage und kann auf den Hafen und das Traditionsschiff gucken, das ist einfach toll.


Das Klenow Tor war für mich ein sehr wichtiger Ort, weil man dort nicht nur Lebensmittel kaufen konnte, sondern es auch einige Textilgeschäfte gab. Einmal haben wir da sogar eine Modenschau organisiert, an einem Nachmittag. Das war sehr schön. Die vielen Ärzte, die dort einzogen, die Apotheke, bei der ich Stammkundin bin, das fand ich alles toll. Umso enttäuschter bin ich darüber, wie es im Laufe der Jahre heruntergewirtschaftet wird. Es gibt keine Auftritte von Chören mehr, keine Oster- oder Weihnachtsdekoration. Früher sah es ordentlich und gepflegt aus, heute sind die Türen defekt, sogar der Haupteingang ist gesperrt. Der schöne Bäcker ist verschwunden und damit auch das gemütliche Café. Ich kenne sehr viele Menschen, die früher oft im Klenow Tor Kaffee getrunken haben und das jetzt sehr vermissen. Nun will auch noch die AWO ausziehen, weil das Haus immer mehr verfällt.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Madlen Conrad, Jahrgang 1987, Pädagogin aus Groß Klein, wohnt seit 1993 im Stadtteil und arbeitet auch hier

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Meine Eltern sind 1993 nach Groß Klein gezogen, ich war damals sechs Jahre alt. Vorher wohnten wir in Warnemünde, bis unser Haus in Wohneigentum umgewandelt wurde. Wir wollten in der Nähe der Ostsee bleiben, da war Groß Klein ideal – einmal Ostseekind, immer Ostseekind, das galt schon damals für mich und so ist es bis heute. Die erste Zeit an unserem neuen Wohnort war sehr schön. Ich weiß noch, dass ich damals total begeistert davon war, wie lebendig sich hier alles anfühlte. Es gab viele Kitas, Schulen und viele Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche – teilweise sogar kostenlos. Ich erinnere mich an mehrere Grundschulen, Realschulen und Gesamtschulen. Sogar ein Gymnasium hatten wir damals, am Dänenberg. Dann wurde das Klenow Tor eröffnet. Auch das war damals ein Highlight – ein Ort mit vielen verschiedenen Geschäften, einer Post und vielem mehr. Ich kannte hier damals eine ganze Menge von Orten, an denen wir uns trafen und wohlfühlten. Als Kind war ich besonders gern auf einigen der Spielplätze, aber auch in Groß Klein Dorf. Als Jugendliche mochte ich dann das Fun im Lütten Klein, aber auch den Jugendclub in der Nähe vom Netto, den Bolzer und einige andere Orte. Ich erinnere mich auch noch gern an den Pavillon – dort konnten wir zusammensitzen, manchmal sogar grillen. Oder wir haben unten in unserer Waschküche gesessen. Dort haben wir ein paar Möbel reingestellt und es uns gemütlich gemacht. Das war eine tolle, freie Zeit: Freunde rausklingeln und gemeinsam losziehen. Wir konnten unbeschwert jung sein, auch weil wir erwünscht waren, nicht störten. Heute sind die Kinder und Jugendlichen ja schnell allen zu laut, sie werden überall weggescheucht.


Meine Kindheit hier im Stadtteil war eine echt tolle Zeit. Ich bin sehr froh, dass ich das alles noch erleben durfte, auch weil jetzt alles so anders geworden ist. Die Kinder sind viel mehr auf sich allein gestellt. Hier im Stadtteil gibt es kaum noch Freizeitangebote. Möchte man heute beispielsweise Fußball oder Basketball spielen, muss man in andere Stadtteile fahren – und auch das nötige Kleingeld haben. Früher waren wir hier in den Kursen alle zusammen. Und gingen ja auch alle in die gleiche Schule, zuerst in die Grundschule, danach sind wir alle gemeinsam in die Realschule gewechselt. Außer drei Mädels, die aus Schmarl kamen, wohnten alle aus meiner Klasse hier im Stadtteil, wir waren also auch am Nachmittag zusammen. Jetzt werden die Kinder auf andere Schulen geschickt, wenn die Eltern das möglich machen können. Da trennen sich die Wege – und das macht ja auch was mit den Freundschaften.


Und auch sonst hat sich die Situation im Stadtteil nicht zum Guten entwickelt. Irgendwann so um 2010 herum hat das begonnen, als hier die Kitas und Schulen abgerissen wurden, weil die Kinder fehlten. Dann kamen viel Familien aus anderen Ländern und die Zahl der Kinder stieg wieder. Inzwischen ist der Stadtteil sehr multikulturell, das finde ich wirklich schön. Was aber auch gesunken ist und immer noch geringer wird, ist das Sicherheitsgefühl, vor allem abends und nachts. Früher bin ich hier bis spät in die Nacht sorglos unterwegs gewesen, hatte das Gefühl, bei jedem klingeln zu können, wenn mal etwas ist. Das ist heute nicht mehr so, die Leute leben mehr für sich, sind weniger im Austausch miteinander, das Sozialverhalten lässt absolut nach. Früher war das hier ein Geben und Nehmen, jeder passte auf den anderen auf. Man kannte sich im Haus, die Nachbarn haben sich gegenseitig besucht - die Eltern haben was zusammen getrunken, die Kinder haben gespielt. Heute fühlt sich das Ganze mehr wie eine Ellenbogengesellschaft an, in der andere Menschen eher stören. Wenn man sich nicht mehr so gut kennt, ist der andere eben schneller ein Ärgernis.


Trotzdem wollte ich nicht weg hier, auch als Erwachsene war klar, dass ich hier wohnen bleiben möchte. Ich habe hier immer hier gearbeitet, meine Kinder sind hier zur Schule gegangen. Zwischendurch war ich mal ein Jahr in Brandenburg, aber das fühlte sich einfach nicht richtig an – zuhause ist zuhause und das ist für mich Groß Klein. Viele Menschen, mit denen ich großgeworden bin, wohnen bis heute hier.


Als Familie sind wir jetzt viel im IGA-Park, auf den Spielplätzen weniger, weil die einfach nicht so schön sind. Auf den Bolzplatz gehen eher die Jugendlichen, da trauen sich die Kleinen dann nicht hin. Für die Jugendlichen gibt es einen Jugendclub, das 224, aber der spricht eben nicht die Masse an – da trifft sich nur ein kleiner Teil. Und auch für Erwachsene fehlt es an Orten, wo man mal gemütlich sitzen und schnattern kann.


Früher war ja auch das Klenow Tor eine wichtige Anlaufstelle für den ganzen Stadtteil. Mit richtig vielen Einkaufsmöglichkeiten und Ärzten, einer Eisdiele. Ein echter Wohlfühlort. – da waren wir sogar Ostern dort, zum Feiern. Heute ist es dort trostlos und schäbig. Ich gehe nur noch hin, wenn wir mal einen Döner essen wollen, etwas zum Basteln brauchen oder einen Kinderarzttermin haben. Die meisten Menschen gehen nur noch durch. Ich würde mir wünschen, dass sich das wieder ändert. Aber am meisten wünsche ich mir, dass endlich mal was für die Kinder getan wird. Wenn man es anders kennt, fällt einem das besonders auf. Die Kinder und Jugendlichen in Groß Klein sind sich selbst überlassen. Und was macht man, wenn man nichts mit sich anzufangen weiß? - Unsinn. Und dann ist das Geschrei groß. Wir haben nicht so viel Mist gebaut, als ich in dem Alter war, weil wir andere Möglichkeiten hatten. Ich wünsche mir so, dass endlich wieder mehr Lebensfreude hierher kommt. Als Erwachsene findet man sich ab, sucht sich Alternativen. Aber welche Alternative haben denn die Kinder? Wo können sie hin, wo werden sie akzeptiert, wo lernen sie Neues kennen und erleben ein positives Miteinander? Jetzt zünden sie die Autos an, randalieren – weil sie keine Perspektive haben. Selbst die Spielplätze sind nur für Kinder im Grundschulalter. Wohin gehen die Kleineren und Größeren? Wo können die sich entfalten, ihre Motorik stärken? Wo die Mütter Kaffee trinken, wenn sie mit den Kindern draußen sind? Dass sich das wieder ändert, ist wirklich mein größter Wunsch…


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

A. Engelmann, wohnt seit 1984 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ehe wir nach Groß Klein zogen, haben wir von unserer Lichtenhäger Wohnung aus beobachtet, wie hier gebaut wurde. Hier war ja alles Moor, ganz schlechter Baugrund. Deshalb mussten sie Kies einsprengen. Bei der allerersten Sprengung haben sie die Menge falsch berechnet - die Schallwelle ging bis nach Lichtenhagen rüber. Ich war da zufällig zu Hause. Da sind die Leute mit Kinderwagen raus gerannt und haben gedacht, jetzt fängt wieder der Weltkrieg an. Alles hat gewackelt und vibriert, bei uns gab es sogar einen Rohrbruch. Am nächsten Tag meldete dann die „Ferienwelle“, der DDR-Radiosender hier im Norden, dass es in Rostock Sprengungen gäbe und mahnte alle zur Vorsicht. Die nächsten Sprengungen haben sie dann sehr vorsichtig gemacht, das ging noch tagelang.


Eigentlich sollte das Haus, in das wir einzogen, schon im Februar fertig sein. Das wurde nichts, denn die Abnahme wurde abgelehnt. Aber es gab ja Druck, durch die Planziele der DDR, also haben sie irgendwann dieses Haus mit Gewalt mit Note 3 bewertet und dann konnten wir rein. Zu DDR-Zeiten wurden die Häuser ja benotet. Wenn sie Note 4 oder 5 bekamen, durften sie nicht bezogen werden ehe nicht alles nachgebessert war. Erst ab Note 3 konnten die Leute einziehen. Damals war es ja auch so, dass die Leute noch viel selbst machten. Sie wollten ja, dass alles schnell fertig wird und sie einziehen konnten. Gezwungen wurde man dazu nicht, aber man durfte. Unsere Hausgemeinschaft hat auch viel selbst gemacht, beispielsweise die Schächte gesäubert. Das schweißte uns zu einer echten Gemeinschaft zusammen.


Damals gab es ja noch die Nationale Front[1] mit ihren Wohngebietsausschüssen. Ich war damals Mitglied. Hier im Haus war ich als Vertrauensmann von der Gewerkschaft eingesetzt. Ich bin dann als Lehrer quasi gezwungen worden – ich war gar nicht dabei, als ich gewählt worden bin – hier die Arbeit zu organisieren. Also legte ich fest, was wo zu machen ist: da muss gebohrt werden, da ist sauber zu machen usw. Und ich kriegte von der Wohnungsgenossenschaft alles, was wir an Material brauchten – und war dann auch die Ausgabestelle für Ersatzteile, neue Glühbirnen auf dem Flur und ähnliches. Das hat gut funktioniert. Das ist aber in vielen Häusern so gewesen. So eine Hausgemeinschaft hat gelebt. Wir haben zusammen gefeiert, mit den Kindern Herbst- und Frühjahrsputz gemacht. Da wurden alle Kinder rangeholt, die mussten ihren Müll wegmachen und bekamen dann hinterher einen Eisbecher zur Belohnung. Es gab in unserem Haus einen extra Raum, da konnte man auch mal so gemütlich eine Feier machen. Da sind wir zu Sitzungen zusammengekommen. Das war ein Fahrradraum, der wurde dafür ausgestaltet. Unsere Hausordnung mussten wir uns selber geben. Wir haben auch selber Winterdienst gemacht. Es gab damals einen Schneemann aus Holz, der wurde an den jeweils nächsten weitergereicht, wenn eine Familie mit dem Dienst fertig war. Wir bekamen pro Person und Jahr im Haus immer 10 Mark, das war in unserem Fall immer 500 Mark, da konnte ich schön was mit machen, etwas für die Kinder oder eines unserer Hausfeste. So lief das alles bis 1990.


Auch in unserer Wohnung haben wir Arbeitseinsätze gemacht. Einmal haben wir z.B. Brötchen gebacken, zum Verkauf bei einer der Solidaritätsaktionen in den Schulen. Das war für die Schüler sehr lehrreich. Wir haben eingekauft, im Prinzip war das ja nur Mehl, Hefe und Salz. Morgens um vier haben wir dann einen Hefeteig angesetzt, halb sechs kamen die Schüler dann hierher. Dann haben wir Brötchen gebacken, die wir dann ab halb acht verkaufen konnten. Ein Brötchen kostete 5 Pfennig. Dann haben wir festgestellt: Auch wenn wir alle verkaufen, kriegen wir nicht mal das Geld rein, was wir für die Zutaten ausgeben haben. Da ist mir das erste Mal richtig wirklich bewusst geworden, wie billig die Brötchen zu DDR-Zeiten waren. 20 Mark habe ich dann noch spendiert, damit wir doch noch was spenden konnten. Das haben wir dann auch ausgewertet und öffentlich gemacht.


Und ich habe hier unten bei uns im Haus Sero[2] gemacht: In dem kleinen Vorbau unseres Hauses gab es einen Raum – in dem habe ich zweimal in der Woche abends von 18 bis 20 Uhr Flaschen angenommen. Da kamen vor allem Kinder. Die haben sich das aufgeteilt, was sie mitbrachten, damit sie mehrmals kommen konnten. Des es gab bei mir nicht nur Geld für die Flaschen, sondern auch jedes Mal Bonbons.


Die Brücke über die S-Bahn wurde damals als Notbrücke gebaut. Eigentlich sollte nach der Fertigstellung des Neubaugebietes eine riesengroße „richtige“ Brücke folgen und die Freifläche im Areal Taklerring/Werftallee sollte eine Zufahrt von der Warnowwerft werden: Für Autos als Anbindung an die Stadtautobahn, für Fußgänger als Zugang zur S-Bahn und in den anderen Stadtteilen. Das wurde nie umgesetzt. Die Freifläche gibt es immer noch. Der Ortsbeirat hat beantragt, dass da Wohnungen hinkommen. Aber das ist ein langer Prozess.


Der Verkehrsplan war ja so gedacht, dass die Busse der Zubringer für die S-Bahn sind. Das war schon in der DDR so, das ist nichts Neues. Alle Verkehrssachen, die in Rostock gebaut werden, haben ihren Planungshintergrund in DDR-Zeiten. Das wurde damals immer sehr gut gemacht. In der DDR lief das erst so: Walter Ulbricht kam zu Besuch, dann haben sie ihn an Stellen geführt, die total hässlich waren. Dann hat er sich beschwert, wie das sein kann usw. Dann haben sie die Pläne herausgeholt und gesagt: „Wenn du uns Geld gibst, machen wir das sofort.“ So lief das damals. Auf diese Art und Weise sind viele Sachen in Rostock entstanden.


Unsere Tochter hätte zur Schule gehen können, ohne die Straße überqueren zu müssen. Hat sie nicht gemacht, weil sie immer ihre Freundin abgeholt hat. Die Spielplätze lagen im Innenhof, das war wirklich gut gemacht. Dadurch hat man nach der Wende auch wieder viele Leute mit Kindern für den Zuzug gewonnen, weil es hier ja überall Spielplätze gibt. Und die sind alle anders, die sehen nie gleich aus.


Den Namen unseres Stadttteilzentrums – „Börgerhus“ – habe haben meine Frau und ich uns ausgedacht. Das ist eine lange Geschichte. Wir haben den Namen damals als anonymen Vorschlag eingereicht. Nun war ich auch noch im Aufsichtsrat der RGS[3], die KOE gab es so noch nicht. Ich hatte vorher schon zu meiner Frau gesagt: Schreib deinen Namen auf Deinen Vorschlag. Aber sie wollte nicht. Und jetzt kam doch irgendwie raus, dass mein Vorschlag gewonnen hatte. Als Mitglied im Aufsichtsrat! Da musste man den Leuten ja irgendwie erklären, dass das nicht geschoben war. Aber die, die das ausgewählt hatten, wussten gar nicht, von wem der Vorschlag kam.


Wo jetzt das Börgerhus ist, das war meine Schule – ich war dort Lehrer, bis sie aufgelöst wurde. Zu DDR-Zeiten war das eine POS. Nach der Wende haben wir dann beschlossen, an dieser Stelle ein Stadtteil- und Begegnungszentrum (SBZ) zu bauen. Da gab es dann erstmal Streit in der Bürgerschaft – und die Rückmeldung: Wir bauen ein SBZ, wenn ein Konzept steht. Ich war damals beim Jugendclub 224 für die Finanzen zuständig und habe dann mit dem Jugendamtsleiter vereinbart, dass wir trotzdem schon anfangen. Und so stand das SBZ dann schon, als schließlich die Fördermittel kamen. Das war gut, sonst hätten wir nie eins gekriegt. In Zusammenhang mit dem Bau des SBZ ist der Jugendclub 224 dann von der AWO übernommen worden. Vorher war er noch ein „Erbe“ aus DDR-Zeiten gewesen. Jugendclubs wurden zu DDR-Zeiten viele gebaut. Nach der Wende wurde das ein Verein und da wurde ich gefragt, ob ich nicht richtig einsteigen will. Und das habe ich dann auch gemacht. In diesen Jugendclub kamen damals sehr viele Gestrauchelte, also Schulschwänzer usw. Und wir wussten ganz genau: Wenn die in der zweiten Stunde schwänzen, sind sie meistens dort zu finden. Sie saßen dann bei uns – und wir haben sie dort gelassen. Hauptsache, sie waren aufbewahrt.


Wir haben ja auch zu DDR-Zeiten immer Stadtteilfeste gemacht – die waren hier etwas ganz Besonderes, ein bisschen so wie die Ostseewoche. Zum Beispiel bekamen wir von Betrieben in Thüringen immer Weihnachtskugeln. Die Feste waren im Juli und wir hatten einen Stand mit Weihnachtsbaumkugeln. Das war Goldstaub. Die kosteten ja nicht viel, aber es gab sie eben auch nicht immer. Das Fest fand auf der Wiese beim Altersheim statt, dort wo jetzt der Kindergarten ist – oder wir haben es auch auf der Freifläche am Jugendclub gemacht.


Zur Wende, im Jahr 1990, war ich verantwortlich für den Wohnbezirksausschuss und für unser Haus als Hausvertrauensmann. Ich habe mir gesagt: Das muss weiter gehen. Wir können nicht einfach alles liegen lassen, was doch eigentlich immer gut war. Wir sind auch an die Kirche herangetreten und an die Leute, die auf die Straße gegangen sind. Einige kannte man ja hinterher. Gemeinsam gründeten wir dann einen Bürgerrat, mit ungefähr 15 Personen, darunter ehemalige Genossen, aber auch viele aus der CDU und SPD. Der Rat war offen für alle, die mitmachen wollten. Das besondere dieses Bürgerrates war, dass Firmen zu uns kamen und bei uns ihre Pläne vorstellten, ohne dass sie jemand dazu gezwungen hätte. Später entstanden in Rostock weitere Bürgerräte, da waren wir hier Vorreiter. Aus der Zeit kenne ich auch Pastor Schnauer. Der hat mir auch bei Aktionen für das Groß Kleiner Dorf geholfen. Die Leute dort wollten die erst nicht. Da hat er von der Kanzel gepredigt und zwei Wochen später haben alle unterschrieben. Insofern war ich wohl eine wichtige Person hier in Groß Klein, obwohl ich kein Amt innehatte – ich war nicht Vorsitzender des Bürgerrates. Ich wollte uns als Genossen nicht in den Vordergrund stellen. Das war ja eine Zeit, wo jeder wollte. Das war so richtig demokratisch. Später bin ich dann in die Bürgerschaft gewählt worden – die ersten vier Jahre waren besonders spannend und echt etwas Neues. Aus den Bürgerräten sind dann die Ortsbeiräte entstanden. Eigentlich sollten sie Bürgerräte heißen, aber damit konnten wir uns nicht durchsetzen. Gut, dann eben Ortsbeirat.


Seit 1985 haben wir versucht, einen Sportplatz zu bekommen. Zunächst hieß es: Nein, der kommt nach Toitenwinkel, da sind mehr Kinder. Das haben wir auch eingesehen. Später haben wir versucht, das über den Ortsbeirat zu organisieren, das hat geklappt, auch wenn es mehr als zehn Jahre gedauert hat. Eigentlich sollte der Sportplatz dort sein, wo jetzt das Biotop ist. Das ging dann nach der Wende natürlich nicht mehr, also planten wir ihn auf dem Grundstück daneben. Das Grundstück gehörte der Stadt und zum Teil einer Erbengemeinschaft, der wir das abkaufen wollten. Die haben aber gebockt. Deswegen ist der etwas zu klein geworden. Aber ich bin froh, dass der da ist.


Als das dann in Lichtenhagen 1992 die Pogrome stattfanden – das war ja schlimm. Da habe ich hier im Jugendclub ein Erlebnis gehabt: Da kam das ZDF und wollte Jugendliche animieren, Hitlergrüße zu machen. 50 Mark sollte jeder dafür bekommen. Da habe ich gestaunt, dass das keiner gemacht hat. Wir haben das ZDF dann rausschmeißen müssen. Das fand ich wirklich gut von den Kindern.


Einer der Jugendclubs hier im Stadtteil, der lag da wo jetzt der Netto steht, war damals total rechts unterwandert. Der wurde eingestampft, das hätten wir anders nicht in den Griff zu bekommen. Wir haben versucht, genug Anlaufstellen für Jugendliche in Groß Klein zu schaffen, aber hier gab es keine Alternative. Damit wären wir nicht klargekommen.


Früher war da, wo jetzt die IGA ist, ein wilder Park. Dort hat man den ganzen Bauschrott von Schmarl und zum Teil auch von Groß Klein einfach reingeschüttet und verwildern lassen. Dann hat man da hinten das Traditions-Schiff hingestellt und drumherum wucherten Bäume, Büsche, das wuchs wirklich gut. Der Zustand des Geländes war der Grund für die Entscheidung, dass dort die IGA hinkam. Das Traditionsschiff war zu DDR-Zeiten immer voll, im Winter war da z.B. eine Sporthalle drin. Das ging, ohne dass dort ein Bus hinfuhr.



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[1] Die Nationale Front der Deutschen Demokratischen Republik (bis 1973 Nationale Front des demokratischen Deutschlands) war ein Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der DDR. Durch die Nationale Front sollten dem offiziellen Anspruch nach alle gesellschaftlichen Gruppen Einfluss auf gesellschaftspolitische Prozesse nehmen können. (Quelle: Wikipedia)


[2] Sero: Abkürzung für Sekundärrohstoff. Hier: Annahmestelle für (Alt-)-Glas


[3] Rostocker Gesellschaft für Stadtentwicklung, Bauherrin und zunächst Eigentümerin.




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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

M. Engelmann, zog 1984 nach Groß Klein und lebt bis heute hier

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Als wir zwei Kinder hatten im Schulalter hatten und eine größere Wohnung brauchten, war uns schon klar, dass wir dafür nach Groß Klein umziehen würden. Unser Sohn war damals schon in der sechsten Klasse, unsere Tochter in der zweiten, da brauchten sie eigene Zimmer. Wir waren schon ins Wohnzimmer umgezogen, um ihnen die beiden anderen Zimmer zu geben, aber das war natürlich keine Dauerlösung. Und 1984 zogen wir dann auch tatsächlich hierher. Vorher konnten wir von unserem Küchenfenster in Lichtenhagen verfolgen, wie hier alles aufgebaut wurde, Etage für Etage. Die Sprengungen, mit denen sie das Baugelände vorbereitet haben, könnte man sogar noch in Lütten Klein spüren, wo ich damals arbeitete.


Wir hatten hier in Groß Klein ganz viele Spielplätze. Gleich hier unten rechts vor dem Haus war ein kleiner Spielplatz, den gibt es inzwischen nicht mehr. Den haben wir vom Haus aus immer in Ordnung gehalten, die Männer haben alles gestrichen, die Kinder haben mitgemacht und geholfen, danach haben wir ein bisschen gefeiert, die Kinder kriegten auch was ab. Wir haben diese Aufräumaktionen immer mit was Schönem verbunden. Unsere Kinder hatten hier eine schöne Kindheit.


Wir haben ja im Dorf Groß Klein vieles auf Plattdeutsch, z.B. die Straßennamen „Nigen Enn“ und „Groten Enn“. Insofern passt der Name des Stadtteilzentrums, „Börgerhus“ - das Haus steht ja ganz dicht bei dem Dorf. Und viele Ältere reden ja auch noch plattdeutsch. Und „Bürgerhaus“ klingt irgendwie zu hart und abweisend. „Börgerhus“ klingt angenehm, freundlich, da fühlt man sich willkommen. Deshalb haben wir ihn damals vorgeschlagen. Zur Eröffnung waren wir eingeladen, der Name war noch verhüllt, und dann stand er oben groß dran. Das war schön. Es soll ja auch das Haus für die Bürger sein, die fühlen sich da ja wohl. Es wird viel, viel gemacht, viele Leute kommen, es gibt viele verschiedene Veranstaltungen. Das lohnt sich. Die Leute, die da arbeiten, geben sich ganz viel Mühe.


Aus Groß Klein wegzuziehen, war eigentlich nie eine Option. Wir hatten uns hier eingelebt. Am Anfang zahlten eine Warmmiete von 150 DDR-Mark. Besser konnte man ja gar nicht wohnen. Dann wurden viele Blöcke privatisiert, die Mieten stiegen – das war ein Hauptgrund, weswegen viele wegzogen. Viele haben auch die Chance genutzt, eine eigene Wohnung zu kriegen. Das war eine Fluktuation, die gar nicht so sehr eine Flucht aus Groß Klein war, weil man hier nicht leben konnte. Man fand anderswo eine eigene Wohnung oder musste „auswandern“, weil man woanders Arbeit bekam. Das kam alles zusammen. Auch dass die Verkehrsanbindung schlechter wurde, spielte sicher eine Rolle: Früher fuhr hier unten vor dem Haus ein Bus, der die Leute morgens zur Arbeit nach Poppendorf in das Düngemittelwerk und nachmittags wieder zurückbrachte. Das war nach der Wende vorbei, also haben sich viele dort in der Umgebung ein Häuschen gesucht. In unserem Haus sind einige weggestorben, einige weggezogen, aber die kannten wir nicht ganz so gut. Wir treffen uns auch unter Nachbarn, helfen uns gegenseitig, das hat sich schon erhalten. Sonst ist das in solchen Hochhäusern ja oft anonym, aber wir kennen uns, da kann man auch vieles gemeinsam regeln.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Andrea Köster, Jahrgang 1984, wohnte von 1987 bis 2004 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")


Wir sind nach Groß Klein gezogen als ich drei Jahre alt war. Mein Vater war Polizist und wurde damals von Grimmen nach Rostock versetzt. Offenbar wohnten in unserem Block damals viele Polizisten, deshalb nannte mein Vater das unter uns immer den „Bullenblock“. Wir mussten nicht lange auf die Wohnung warten, das war damals total unüblich, deshalb nehme ich an, dass wir privilegiert waren. Und wir bekamen dann diese moderne Wohnung, meine Eltern waren damit sehr zufrieden. Ich habe erst später verstanden, dass Groß Klein zu dieser Zeit ein richtig begehrtes Viertel war.


Wir wohnten damals im Schiffbauerring und ich ging in die Kita im Gerüstbauerring 40. Später ging ich in die Grundschule am Taklerring, danach dann auf das Heinrich-von-Thünen-Gymnasium, das es heute nicht mehr gibt.


Meine Erinnerungen an die ersten Jahre hier bestehen eher aus einzelnen Bildern: das von meiner Erzieherin mit ihrer Minipli-Frisur, das vom Spielen auf dem Hof hinter unserem Haus. Dort stand damals so ein alter Baum, der in der Mitte aufgespalten war. An dem habe ich immer Zahnärztin gespielt, der Baum bekam dann Füllungen aus Sandmatsch. Außerdem erinnere ich mich an aufgeschürfte Knie und kleine Streits. Und wie riesig mir der Hof vorkam, mit all den Büschen. Als ich als Erwachsene wieder dort war, fand ich es erschreckend, wie klein er sich jetzt anfühlt. Als Kind spielte ich den ganzen Tag auf dem Hinterhof, bis meine Mutter vom Balkon zum Mittagessen rief – das hat sich wunderbar beschützt angefühlt und zählt definitiv zu meinen schönen Kindheitserinnerungen.


Vor unserem Wohnblock gab es damals eine große Wiese, auf der wir ganze Nachmittage saßen und spielten, mit den Nachbarskinder, die immer mal auch ihr Kaninchen mitbrachten. Diese Wiese wurde dann irgendwann ein großer Parkplatz. Und auch da, wo jetzt das Klenow Tor steht, gab es damals eine große Wiese. Der Spatenstich für den Bau des Gebäudes war damals für viele ein Fest, für mich aber ein trauriger Tag, weil damit der Ort verschwand, an dem wir immer Drachen steigen lassen konnten.


Wenn man links aus meinem Kinderzimmerfenster schaute, sah man nur ungefähr hundert Meter entfernt einen dieser typischen Plattenbauwürfelblöcke. Es hat dort immer wieder gebrannt, was als Kind natürlich total spannend war, wenn man der Feuerwehr bei den Löscharbeiten zuschauen konnte. Mein Papa meinte dann mal, dass dort in dem Würfelblock Leute Wohnungen bekämen, die im Gefängnis gesessen hatten und es deshalb dort ständig Ärger gibt. Ich konnte das als Kind nur schwer einordnen, dass in unserer Gegend einerseits so viele Polizisten lebten, aber gleichzeitig auch Leute aus dem Knast - und dass die so nah beieinander wohnen. Ich weiß nicht ob es stimmt, dass diese Wohnungen speziell für ehemalige Gefängnisinsassen waren oder ob das eher eine zu starke Pauschalisierung war. Aber bis heute denke ich beim Anblick solcher Würfelbauten immer noch ungewollt automatisch: "Ob da wohl Ex-Knastis drin wohnen?"


In meiner Grundschulzeit, in den 1990er Jahren, veränderte sich die Atmosphäre im Stadtteil. Es wurde irgendwie beklemmender. Wir bekamen es immer mal wieder mit Jugendlichen zu tun, die unser Taschengeld abziehen wollten oder uns auf andere Weise schikanierten. Mein Bruder und ich waren damals sehr eng miteinander. Ich habe ihn ab und an beschützt, weil er damals viel gemobbt wurde – das hat mich geprägt und dadurch fühlt sich diese Zeit in der Erinnerung stressig an. Durch diese Erfahrungen zerplatzte schon in meiner Grundschulzeit irgendwie die Kindheitsblase, in der man sich sicher und beschützt fühlt. In der Grundschule selbst habe ich mich aber wohlgefühlt, es war eher der offene Raum im Stadtteil, der deutlich unbehaglicher wurde.


Als die Pogrome in Lichtenhagen passierten war ich sieben Jahre alt. Ich kann mich an diese Nächte erinnern, auch wenn ich damals noch nicht wirklich verstand, was passiert war. Mein Vater hatte damals schon seine frühere hohe Position als Oberstleutnant eingebüßt, war aber noch bei der Polizei. Mit Lichtenhagen hatte er beruflich nichts zu tun, aber meine Eltern sprachen viel über das, was da im Stadtteil nebenan passierte. Ich habe mitbekommen, dass Schulkameraden meiner Schwester dabei waren, aber insgesamt blieb es eher ein diffuses Gefühl, dass da etwas geschah, das nicht in Ordnung war.


Mein Vater hat dann aufgehört, bei der Polizei zu arbeiten, im Kapitalismus fühle sich das nicht mehr richtig an, sagte er damals. Er machte eine Wachschutzfirma auf. Das Ganze wurde dann eine typische Wendeverlierergeschichte, denn es war tatsächlich jemand aus dem Westen, der ihn übers Ohr gehauen hat und mit der Kohle abgehauen ist. Dieser Bruch und die langen Zeiten der Arbeitslosigkeit und sinnlosen Jobs prägen ihn bis heute. Man könnte schon sagen, dass er sich davon nie wirklich erholt hat.


Wichtig blieb mir Groß Klein eigentlich nur bis zur Frühpubertät. Damals sind wir hier sehr viel rumgeströbert, mit meinen Freunden, die verteilt über den ganzen Stadtteil wohnten. Ich erinnere mich an die Orte, wo es Eis gab, an das Herumliegen auf warmen Gehwegplatten, an viel Unterwegssein und den Abenteuerspielplatz in der Nähe der Warnowallee. Wir haben rumgehangen und sind viel rumgeklettert.


Mit 13 oder 14 habe ich mich mehr aus dem Stadtteil zurückgezogen – war viel zuhause oder traf mich mit Freunden eher in der Innenstadt. Damals begann meine harte Punkzeit, was man dann eben auch sah. Damit fühlte ich mich in Groß Klein nicht mehr so sicher. Ich hatte Glück, mir ist eigentlich nie was passiert, aber es war klar, dass ich hier vorsichtig sein muss. Damit begann meine Distanzierung vom Stadtteil. Wenn ich abends von irgendwelchen Treffen mit Freunden nach Groß Klein zurückkam, war das für mich eher immer eine angespannte Situation, eine Stimmung, die ich bis heute ab und an wachrufen kann.


Das Klenow Tor sehe ich seit Jahren einmal im Jahr, zum jährlichen Zahnarzttermin – eine gute Möglichkeit, die schrittweise Veränderung des Stadtteils wahrzunehmen. Als damals beispielsweise Blöcke zurückgebaut wurden, machte mich das ein wenig traurig, weil da Wohnungen verschwanden, in denen Freunde von mir gewohnt hatten. Ich beobachtete auch den Bau des REWE als überregionales Vorzeigeprojekt für ökologisches Bauen. Im Klenow Tor fiel mir irgendwann auf, dass die Geschäfte immer häufiger wechselten. Und irgendwann, so ab 2015 oder 2016 kam dann der erste der Leerstand, die 1-Euro-Läden nahmen zu. Aber ich bin nur noch Beobachterin, ich kenne hier inzwischen niemanden mehr. Die Leute, die in meine Schulklasse gegangen sind, sind inzwischen alle weggezogen. Und wenn man nun an einem verregneten Oktobertag zur Zahnärztin läuft, kommt einem vieles hier vielleicht trister vor, als es tatsächlich ist.


Inzwischen ist meine Zahnärztin in Rente gegangen, aber ich habe mir vorgenommen, trotzdem ab und an mal hier vorbeizuschauen. Vielleicht auch zusammen mit meiner besten Freundin, die das alles gar nicht kennt, weil sie im Saarland aufgewachsen ist. Weil trotzdem diese Sehnsucht da ist, ab und an in diese Erinnerungen einzutauchen.

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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

A.M., Jahrgang 1965, arbeitete in den 1980er Jahren in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich kam 1984, nach dem Abitur, aus dem Internat zurück nach Hause - ohne Plan, was ich machen wollte. Also bestimmte meine Mutter: „Du gehst erstmal in den Kindergarten.“ Obwohl ich nie was mit Kindern am Hut gehabt hatte. Dann war ich in Groß Klein in der „Kombination 3“ als Erziehungshelferin. Das war total witzig. Das war ein ganz junger Haufen, viele junge Erzieherinnen, viele, viele Kinder. Und es gab auch drumherum ganz viele Kindergärten. Viele Straßen waren noch nicht fertig, das war Mitte der 1980er noch alles im Aufbau. Wir haben mit den Kindern noch im Modder gespielt. Das war so richtig der klassische Sozialismus. Wir haben uns alle amüsiert. Die Kinder mussten z.B. schon in der Krippe „Staatsratsvorsitzender Erich Honecker“ lernen. Wir – alle Anfang 20, ich noch nicht mal – haben uns kaputtgelacht. Wir haben das einfach nicht ernst genommen.


Die Kinder kamen alle aus Groß Klein, auch alles gemischt. Wir hatten Kinder von Ärzten, das Kind von einem bekannten Handballer, aber auch Kinder von Verkäuferinnen und Putzfrauen – die Kinder waren alle gleich. Und es gab ein gutes Miteinander mit den Eltern, das war ein schönes Arbeiten. Du hattest vielleicht in jeder Gruppe so ein oder zwei Kinder, von denen man heute sagen würde, dass sie aus sozial schwierigen Verhältnissen kommen. Die wurden so mitgezogen.


Dann gab es einen Studentenclub, der hieß Sumpf. Oder Texas. Wenn du mit der S-Bahn von Groß Klein nach Warnemünde fährst, am Ortsausgang Groß Klein, sind da noch ein paar Baracken. Das war ein Club, da haben wir uns getroffen. Nach der Wende ist das alles eingeschlafen. Zum Feiern haben wir uns auch zu Hause getroffen. Wir wohnten ja alle noch bei den Eltern. Fanden wir alle überhaupt nicht schlimm.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Manfred B., wohnte seit 1980 in Groß Klein und war dort seit 1990 als Sozialarbeiter tätig

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich bin 1980 nach Groß Klein gezogen. In unserem Haus haben oft zusammen gefeiert, jedes Jahr Silvester und große Geburtstage, unten auf dem Flur. Wir hatten noch so einen kleinen Gemeinschaftsraum, ging ab wie Schmidts Katze. Wir waren elf Familien im Haus, acht oder neun waren mindestens dabei, alle so im gleichen Alter, alle ein paar Kinder, das passte.


Ich habe bis 1990 – als eine Art Zwischenjob – in der Gaststätte zur Kombüse gearbeitet, als Gaststättenleiter. In allen Wohngebieten gab es Schülerspeisungen. In Groß Klein war das ein Riesen-Apparat mit zwei großen Sälen, wo am Tage die Schüler ihr Mittag gegessen haben. An vier Abenden – von Donnerstag bis Sonntag – wurden dort Tanzveranstaltungen gemacht. Das war meine Geschichte, ich war der Gaststättenleiter für diese Tanzveranstaltungen und das danebenliegende Restaurant. Es war aber damals absehbar, dass die HO-Gaststätten nicht mehr lange bestehen werden, also habe ich mich zum 31. Dezember kündigen lassen. Die Gaststätte gab es noch ein Jahr nach meiner Kündigung, dann wurde das geschlossen.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Ursula Birkner, Jahrgang 51, stammt aus Rostock, zog in ihrem Leben drei Mal nach Groß Klein und wohnt heute noch dort

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Mein Leben gehört dem Rostocker Nordwesten. Unsere erste eigene Wohnung bekamen wir 1976 in Lichtenhagen. Dort lebten wir zwölf Jahre sehr glücklich, ohne Auto und mit Garten in Warnemünde.


Ein angeordneter Umzug brachte unsere Familie in den Nordosten der Stadt, nach Dierkow. Ich habe von Beginn an versucht, diese Wohnung zu tauschen, weil der Weg vom Nordosten in den Nordwesten damals noch eine kleine Weltreise war. Da sich in Lichtenhagen keine freie Wohnung fand, zog unsere Familie dann 1989 in die Alte Warnemünder Chaussee. Das war ein Glücksfall, denn unsere Wohnungstauschpartner wollten in den Nordosten, weil ihr Garten in Rövershagen war. Auf unsere neue Wohnung am Dänenberg waren wir sehr stolz, auch wegen der berühmten kleinen Kaufhalle gleich nebenan. Die hatte nämlich den Ruf, besonders gut beliefert zu sein. Außerdem gab es dort die „Troika“, ein wunderschönes Restaurant.


Die „Troika“ soll in den 1970ern auch das Stammlokal der französischen Arbeiter gewesen sein, die damals das Düngemittelwerk in Poppendorf aufbauten. Ich verband mit der „Troika“ vor allem Pelmeni-Essen. Noch in den 1990ern bin ich im Sommer gern dort gewesen, abends nach der Arbeit. Ich setzte mich, allein oder mit meinem Mann, in den Biergarten und bestellte mir eine Schale Pelmeni und Bier. Der Biergarten war immer gut besucht, ohne überfüllt zu sein. Das waren sehr schöne Sommerabende, im Grünen. Das Wichtigste in dieser Zeit war, dass ich betonte: „Ich wohne am Dänenberg, nicht in Groß Klein.“


1997 zog ich aus Groß Klein weg, in eine Doppelhaushälfte aufs Land. Meine Tochter blieb in Groß Klein, im Gerüstbauerring. 2000 kam ich dann zurück in den Stadtteil, ich wollte wieder hierher. Ich zog in eine 1-Raum-Wohnung im Haus meiner Tochter. Allerdings scheiterte schon kurz darauf meine Selbständigkeit und ich musste wieder umziehen. Das war ein schlimmer Abschied, mit vielen Tränen. Es folgten fünf Jahre in Sachsen, in denen habe mich aber immer nach der Küste gesehnt. 2006 zog ich zurück in Richtung Ostsee. Leider reichte das Geld nur bis Mandelshagen.


Im Jahr 2009 fand ich wieder Arbeit in Rostock und damit konnte ich dann endlich wieder nach Groß Klein ziehen. Eigentlich wollte ich zurück in den Gerüstbauerring 20. Aber als ich meine jetzige Wohnung besichtigte, wusste ich, dass ich hier nie wieder wegziehen wollte: die oberste Etage mit Fahrstuhl erreichbar und 43 Quadratmeter, groß genug für einen Single-Haushalt.


 Als mein Arbeitsleben 2015 endete, wollte ich auf keinen Fall zu Hause herumsitzen. Ich nahm Kontakt mit dem Börgerhus auf und mein Unterstützungsangebot wurde mit Freuden angenommen. Seitdem bin ich hier engagiert und in verschiedenen Projekten tätig. Zwischen den Jahren 2000 und 2009 hatte sich in Groß Klein viel getan, ich war überrascht, wie schön die sanierten Häuser aussahen und wie schön grün die Innenhöfe geworden waren. Der IGA-Park ist ein herrlicher Ort zum Entspannen. Mir ist Groß Klein mit seinem „Börgerhus“ sehr ans Herz gewachsen und ich werde hier bleiben so lange es geht.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Manfred, wohnte von 1985 bis 1996 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Von unserer Wohnung aus war es immer ein Stückchen hin zur nächsten Kaufhalle, wir haben ja am Außenring gewohnt, gegenüber vom heutigen Fritz-Meyer-Scharffenberg-Weg. Die Würfelhäuser dort waren schon damals für altersgerechtes Wohnen vorgesehen.


Wir konnten immer auf den Überseehafen gucken. Mein Neffe fuhr damals zur See. Wenn der kam, wussten wir immer, jetzt läuft das Schiff ein und wir konnten ihn dann abholen.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Wigmar Strey, Jahrgang xxxx, wohnte von 1985 bis 1996 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Wir wohnten genau gegenüber vom Überseehafen. Und das war in der Zeit, als der Außenhandel der DDR florierte. Da lagen auf Außenreede immer noch zwanzig Schiffe, an der Außenkante zu dritt nebeneinander. Es war immer sehr viel los.


Ich erinnere mich noch gut an mein Kinderzimmer – das war mit acht Quadratmetern nicht allzu groß. Die Bausubstanz war nicht so schön wie in unserer vorherigen Wohnung in Lütten Klein. Die Elektroleitungen lagen auf dem Putz. Und als wir im Flur die Tapete abrissen haben, kam der Putz mit. Deswegen hatten wir dann immer so Beulen in der Wand.


In den 1990ern hat dann jeder, der halbwegs Kohle hatte, zugesehen, in irgendeinem Speckgürtelreihenhaus unterzukommen. Im Osten war es ja allgemein so, dass die Wohngebiete durchmischt waren. Einkommensmäßig gab es ja sowieso keine großen Unterschiede, aber auch die Berufe waren nicht so wichtig. In unserem Haus wohnten zum Beispiel ein Apotheker, eine Ärztin und noch ein paar andere. Das änderte sich dann langsam. Irgendwann war in einer Wohnung im Erdgeschoss der Mieter rausgeworfen worden, der war ziemlich assig. Das war übel, weil die Bude dann mehr oder weniger unbewohnt war. Die Scheiben waren irgendwann eingeschlagen und die Tür eingetreten. Wer damals genug Geld hatte, zog aus der Gegend weg – und so blieben die, die arbeitslos waren und die, die dann langsam abrutschten. Trotzdem wurden die Wohnungen immer teurer, obwohl sie nicht saniert wurden. Wir hatten nicht mal die Chance, die Heizungen ordentlich einzustellen. Als einziges wurden irgendwelche Wärmemengenzähler an die Heizungen gepappt. Zu DDR-Zeiten hast du die Heizung ja nur reguliert durch Klappe auf oder zu bzw. Fenster auf oder zu. Das ging ja nachher nicht mehr. Die Heizkörper wurden verändert, aber die Leitungen nicht, deshalb klopfte es immer. Das war, als ob einer mit dem Hammer gegen ein Heizungsrohr haut. Wenn du schlafen wolltest, musstest du die Heizung deshalb immer voll aufdrehen. Fenster, Fassade und Dach waren nicht gemacht. Und dafür dann soviel Geld zahlen. So teuer war damals teilweise nicht mal eine durchsanierte Bude im Bahnhofsviertel.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Hendrik Strey, wohnte von 1985 bis 1996 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche") .

Ich bin immer gern durch Groß Klein Dorf gestromert, das war auch schön. Dann konnte man auch direkt an der Warnow entlang laufen. Spielplätze gab es auf dem Hinterhof, aber das Stromern habe ich am liebsten gemacht. Und ich fand es immer schön, auf den Überseehafen zu gucken und die großen Schiffe zu sehen. Wenn ein Schiff kam, hat immer einer laut gerufen: Schiff kommt!


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Sonja Strey, wohnte von 1985 bis 1996 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Wir bekamen unsere Wohnung in Groß Klein im Jahr 1985. Kurz zuvor hatte unser jüngerer Sohn einen Unfall und brauchte deshalb nun viel Hilfe – deshalb bekamen wir eine größere Wohnung. Das lief damals alles über den Betrieb, in dem ich arbeitete. Die Wohnung wurde frei, nachdem ein Kollege, der im Ausland gearbeitet hatte, plötzlich verstarb. Seine Frau mit den beiden Töchtern blieb zunächst in der Wohnung, aber man drängte sie dann zum Auszug. Das fand ich damals nicht richtig. Aber letztendlich ist sie dann in unsere 2 ½-Zimmer-Wohnung in Lütten Klein gezogen. Und wir waren dann trotzdem überglücklich über diese Wohnung. 72 Quadratmeter, ein langer Flur in L-Form, zwei Kinderzimmer, ein großes Wohnzimmer und einige riesige Wohnküche, die hatte fast 20 Quadratmeter. In unser Bad passte nun sogar die Waschmaschine, das ging vorher nicht. Wir hatten ein eigenes Schlafzimmer, nicht groß, aber wir mussten nun keine Betten mehr bauen, wie vorher in Lütten Klein. Dort hatten wir auf einer Schlafcouch geschlafen, damit die Kinder ein bisschen mehr Platz haben.


Der Betrieb, in dem ich in den 1980er Jahren arbeitete, lag damals nicht weit weg, in Schmarl. Dorthin gab es eine Art Wanderweg, den auch viele Radfahrer nutzten, das war eine gute Abkürzung, um zur Arbeit zu kommen. Ich arbeitete damals sechs Stunden am Tag. Wenn ich vom Betrieb nach Hause kam, kam meistens auch schon der Schulbus mit unserem Sohn. Dann sind wir oft erstmal eine Runde durch das Dorf gegangen, da kamst du runter, das fand ich gut. Damals wurde dort Erde aufgeschüttet, wo jetzt der Sportplatz am Außenring ist. Da hat mein Mann mit unserem Sohn Klettern geübt, das konnte er ja nicht. Im Winter wurde da auch gerodelt. Hinten war noch eine Gartenanlage, ich weiß nicht, ob die noch existiert. Durch die konnte man, durchs Schilf, bis zum Dorf laufen. Dort gab es eine Keramikwerkstatt, die hatte unwahrscheinlich schöne Sachen. Im Dorf am Groten Enn gab es auch einen kleinen Konsum, der hatte alles. Unsere Kaufhalle war da, wo jetzt Rewe ist.


Zu DDR-Zeiten haben wir für unsere Wohnung 120 Mark bezahlt. Aber gleich 1992 stieg die Miete auf über 500 Mark. Kurz bevor wir auszogen, haben wir 988 D-Mark bezahlt. Dann sind auch viele Ausländer eingezogen. Viele Vietnamesen oder später Russen, die zu den Streitkräften gehört hatten und hiergeblieben sind. Da war oft Lärm im Haus. Die WIRO hat das nicht geregelt gekriegt. Schlimm war vor allem diese Wohnung im Erdgeschoss, die mittlerweile völlig runtergekommen war. Da stiegen auch immer mal welche über den Balkon ein und aus. Unser Sohn war damals ja auch noch nicht so groß. Wenn der aus der Schule kam, da hatte man ja Schiss, dass der da vorbeigehen musste, bis in unsere Wohnung im fünften Stock.


1996 haben wir uns entschlossen, aus Groß Klein wegzuziehen. Unser älterer Sohn hat da Druck gemacht und sich gekümmert. Mein Mann war damals arbeitslos geworden und wir wollten uns ja wegen der Miete nicht unnötig verschulden. Das war eine blöde Zeit.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

N.N., wohnt seit den 1980er Jahren in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich wohne inzwischen schon fast 40 Jahre in diesem Stadtteil. Wir bekamen damals über die AWG eine Wohnung hier und musste dafür Aufbaustunden leisten. Ich war damals gerade schwanger, aber ich hab trotzdem mitgemacht. Als wir einzogen standen hier gerade mal die ersten Hochhäuser, drumherum war nur Sumpf. Aber sehr schnell entstand dann um uns herum der damals modernste Stadtteil in Rostock. Für mich ist er bis heute der schönste von allen. Hier hat man den Wald drumherum, hier können die Kinder ströpern gehen. Der IGA-Park und Groß Klein Dorf sind toll und auch sonst hat sich hier viel getan. Als der IGA-Park kam, wurde auch der Stadtteil aufgewertet, lange hat sich alles sehr gut entwickelt. Aber jetzt habe ich das Gefühl, dass hier alles den Bach runtergeht. Irgendwie kümmert sich niemand, es kommt mir vor, als ob wir der Politik egal sind. Das sieht man ja schon am Klenow Tor, aber auch im Real. Und alles wird immer teurer, das kann sich doch kein Mensch leisten.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Uschi Markus, Jahrgang 1934, lebt seit 1984 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Anfang der 1980er Jahren zogen mein Mann und ich von Schwerin nach Rostock, zunächst nach Lütten Klein. Im Januar 1984 sollten wir dann, unsere Tochter war inzwischen sechs Jahre alt, eine größere Wohnung in Groß Klein bekommen. Im November 1983 verließ mein Mann morgens das Haus, um zur Arbeit zu gehen, sagte meiner Tochter und mir noch, dass er uns sehr lieb hat – und fiel zwei Stunden später tot um, auf dem Schiff, auf dem er 25 Jahre lang gearbeitet hatte. Urplötzlich war ich alleine mit meiner Tochter. Und nur zu zweit sollten wir diese größere Wohnung nun auch nicht mehr haben, obwohl mein Mann doch schon Aufbaustunden geleistet und Genossenschaftsanteile eingezahlt hatte. Ich habe der Wohnungsgenossenschaft dann eine Bedenkzeit von einer Woche gegeben – würden sie ihre Entscheidung nicht überdenken, würde ich mit unserer Geschichte an die Öffentlichkeit gehen. In der ganzen DDR würde man dann erfahren, wie sie mit mir umgingen. Drei Tage später bekam ich den Bescheid, dass wir einziehen konnten.


Die Handwerker kamen und hatten nur diese Einheitstapete dabei – also gab ich ihnen meine eigene, damit sie die Zimmer so tapezierten, wie ich das gern wollte. Die Einschulung meiner Tochter hatten wir extra ein Jahr zurückgestellt, weil sie nicht in Lütten Klein eingeschult werden sollte, um dann nach der ersten Klasse gleich wieder zu wechseln. So kam sie dann mit sieben Jahren hier in Groß Klein in die Schule gleich gegenüber – da hätte sie im Nachthemd rübergehen können.


Ich habe dann hier im Stadtteil im Feierabendheim als Pflegekraft gearbeitet. Später war ich Mitglied im Gerechtigkeitsausschuss, im Elternbeirat war ich von der Grundschule bis zum Abitur. Und ich war im Kirchengemeinderat und habe dort alle vier Wochen den Kirchenkaffee mit den Rentnern aus dem Stadtteil veranstaltet. Ich habe Kuchen gebacken, die Rentner bedient und alles. Das war auch noch vor der Wende. In den Gottesdiensten habe ich auch geholfen, Texte vorlesen usw. Ich bin dann nachher aber ausgetreten, weil ich nicht damit einverstanden war, was die Pastoren hier zum Teil gemacht haben.


Nach Beginn meiner Rente war ich noch drei Jahre Gemeindeschwester auf der Station im Scharffenberg-Weg. Ich gehörte zu den wenigen dort mit einem Führerschein und haben deshalb die Außenbezirke betreut. Am Ende ging ich mit zweihundert Überstunden – für ein Dankeschön. Das hat dann auch gereicht. Durch diese Zeit bin ich hier im Stadtteil bis heute bekannt wie ein bunter Hund. Auch als ich schon lange nicht mehr arbeitete, kamen die Leute: „Ach, Schwester Ursel, können Sie schnell mal rüberkommen zu meinem Vater, der hat das und das.“ Klar bin ich dann dahin.


Und auch ich selbst kenne immer noch Hinz und Kunst. Wenn ich rausgehe, muss ich ein bis zwei Stunden zusätzlich rechnen, weil ich immer Leute treffe: „Auch, Schwester Ursel!“ oder „Unsere Uschi“ heißt es dann, wir quatschen, setzen uns meist auf die Bank oder gehen ins Börgerhus oder ins Klenow Tor und trinken ein Käffchen zusammen.


Vor der Wende haben wir sehr zusammengehalten. So haben hier z.B. gemeinsam das Blumenbeet vor dem Haus gepflegt – dafür gab es sogar mal eine Prämie der Genossenschaft, weil sie in so einem guten Zustand waren. Von diesem Geld habe ich für das ganze Treppenhaus kleine Gardinen gekauft. Wir sind das einzige Hochhaus, das sowas hat. Und wir haben gemeinsam viel unternommen: So bin ich mit den Kindern aus dem Haus nach Warnemünde an den Strand gefahren oder wir haben auf der Wiese vor dem Haus eine Decke aufgeschlagen und Ball gespielt.

Inzwischen sind leider viele der früheren Mitbewohner schon gestorben, viele neue sind eingezogen. Andere sind auch ins Altersheim gegangen, ich als inzwischen Neunzigjährige bin eine von den wenigen Mietern der Anfangszeit, die hier noch leben.

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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Roland Klar, wohnt seit 1980 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Wir sind im August 1980 hierhergezogen, in die damalige Willi-Döbler-Straße. Zu diesem Zeitpunkt bestand Groß Klein gerade mal aus vier Blöcken, alles andere wurde noch gebaut – und um die Häuser herum war alles eine einzige Schlammwüste. Ich arbeitete damals als Musiker – erst bei der Armee, später dann im Theater. Dadurch bekamen wir eben die Wohnung. Unsere Kinder, damals anderthalb und drei Jahre alt, mussten zunächst noch in ihren alten Kindergarten. Einer davon lag in Reutershagen, der andere in Lütten Klein, in der Danziger Straße. Für alle Kinder, die in Lütten Klein in die Einrichtungen musste, wurde ein „Kinderbus“ eingerichtet. Startpunkt war der heutige schwarze Netto, von dort ging es dann über den Seelotsenring und den Gerüstbauerring bis zur Sassnitzer Straße. Das war nicht ideal, aber man war froh, dass man einen Platz hatte.


Nach unserem Einzug konnte man zusehen, wie sich dieser Stadtteil entwickelte. Der erste Ring, der Schiffbauerring, war fertig, zwei Schulen und die Schülerspeisung entstanden dort, wo heute ein Lidl steht. In der oberen Etage der Schülerspeisung war ein Veranstaltungssaal. Dort fanden auch Tanzabende, Theateraufführungen, Kabarettabende und dergleichen statt – da war insgesamt viel los.


Später folgte auch eine Gaststätte, die „Kombüse“. Am Ende gab es im Stadtteil sechs Schulen – und die brauchte man auch, denn es zogen vor allem Menschen mit kleinen Kindern in den Stadtteil, die vorher in zu kleinen Wohnungen gelebt hatten, oft mit Ofenheizung und ohne Toilette in der Wohnung. Hier bekamen Sie nun 3-, 4-, 5- und später sogar 6-Raumwohnungen – die 5-Raum-Wohnungen im Schiffbauerring. Und all das mit Fernheizung und warmem Wasser, alle waren unglaublich glücklich darüber. Als die Ringe fertig waren, wurden die Hochhäuser gebaut. Zuerst das im Blockmacherring, dann das im Taklerring, als letztes das im Gerüstbauerring. Und als dann alles fertig war, baute man die altersgerechten Wohnungen im Scharffenberg-Ring. Dann ging nach und nach die Entwicklung des Stadtteils weiter. Die Kindergärten wurden gebaut – insgesamt acht Stück, darunter am Segelmacherring, Gerüstbauerring und im Signalgastweg. Es gab in jeder Einrichtung sieben Krippengruppen, in jeder davon wurden bis zu sieben Kindern betreut, jeweils von einer Erzieherin und einer Helferin. Im Kindergarten waren zwölf Kinder in einer Gruppe, auch hier gab es eine Erzieherin und eine Helferin. Da viele Eltern in Schichten arbeiteten, beispielsweise auf der Werft, kamen sie selten vor 18 Uhr nach Hause oder mussten Ihr Kind schon früh morgens zur Kita bringen. Dafür wurden in den Kitas Spätgruppen und Frühgruppen eingerichtet. Die Frühgruppen begannen um 6 Uhr, in einer Kita konnte man sein Kind auf Antrag sogar schon um 5.30 Uhr hinbringen.


Die erste Kaufhalle des Stadtteils entstand dort, wo heute der „rote Netto“ steht, bald folgte eine zweite, im Schiffbauerring, und eine dritte, am Dänenberg. Im Gerüstbauerring war eine Drogerie. Die Kaufhallen waren Montag bis Sonnabend von 7 bis 19 Uhr geöffnet, am Sonntag von 7-13 gab es dort Brot, Brötchen, Milch, Kaffee, also so eine Art Grundbedarf. Es gab noch eine weitere Gaststätte, die nannte sich „Tante Emma“, und eine in einer dieser Vierecksbauten im Hinterhof zwischen Seelotsenring und Signalgastweg. Sporthallen wurden errichtet, bald darauf auch die Jugendclubs, darunter auch der Club „224“, der in den 1990er Jahren geschlossen wurde, weil er sich zum rechtsradikalen Treff entwickelte.


In unserem Haus wohnten damals 22 Kinder im Alter von ein bis sechzehn Jahren, da war weil los. Damals gab es keine kommunale Straßenreinigung, es wurde eingeteilt, wer in welcher Woche dran war. Organisiert hat das die Mietermitverwaltung. In jeder Hausgemeinschaft gab es ein oder zwei Leute, die kleinere Reparaturen, Hausmeistertätigkeiten und so weiter übernahmen - bei größeren Reparaturen meldete man das der Hausverwaltung. Für diese Mietermitverwaltung erhielt die Hausgemeinschaft 250 Mark im Jahr. Wenn was übrigblieb, haben wir davon beispielsweise Weihnachtsfeiern für die Kinder im Trockenraum gemacht, der wurde dann schön geschmückt. Oder man setzte sich, als die Höfe fertig waren, zusammen und machte einen Grillnachmittag. Die Hausgemeinschaft hat schon sehr zusammengehalten. Ungefähr die Hälfte der Menschen, die in unserem Haus lebten, arbeiteten damals auf der Warnow-Werft, die ja gleich nebenan lag. Dann waren viele bei der Fischerei in Marienehe oder bei der Marine, Handelsmarine oder Volksmarine. Es gab in unserer Nähe ja auch eine große Garnison von Landstreitkräften. Die Arbeit spielte aber in den Hausgemeinschaften keine Rolle – zuhause erzählte man nichts über seinen Beruf. Oft wusste man gar nicht, was der andere gemacht hat.


Als unsere drei Kinder groß und aus dem Haus waren, da haben wir uns gefragt, was wir mit so einer großen Wohnung sollen – nach der Wende war das dann auch eine Kostenfrage. Meine Tochter wohnte damals schon im Taklerring, also suchten wir uns dort eine 2-Raum-Wohnung und zogen ein. Wir hatten auch überlegt, zu unserem jüngsten Sohn nach Dänemark zu ziehen. Aber als ich dann krank wurde, waren wir froh, im Taklerring zu wohnen: Fahrstuhl bis auf die Etage, gut erreichbare Ärzte und Einkaufsmöglichkeiten.


In den 1990er Jahren wurde dann ja das Klenow Tor gebaut, dort zogen die Rossmann, Bekleidungsläden, eine Apotheke, viele Ärzte und viele andere ein. Viele Kinder von Bekannten, die nach der Wende weggezogen sind, kamen so nach und nach wieder zurück.


Heute ist Groß Klein ein richtig grüner Stadtteil, man hat überall grüne Oasen. Alles ist gut zu erreichen, nach Warnemünde ist es ein Katzensprung. Die Verkehrsanbindung ist gut, wir können uns hier wirklich nicht beklagen. Und vor allen Dingen: Es ist ruhig. Wenn man so die Kinder hier mit dem Fahrrad rumfahren sieht, das könnte man in Lütten Klein so nicht machen, dort ist viel mehr Betrieb und Lärm. So sind wir mit dem Stadtteil gealtert. Über die Jahre haben wir unsere Kontakte hier, wir gehen hier nicht weg. Wir fühlen uns wohl hier, was wollen wir mehr?


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

R.P., wohnt seit 1979 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Als wir im Februar 1979 nach Groß Klein zogen, war es hier noch echt gruselig, alles provisorisch, nichts fertig. Im Herbst des gleichen Jahres wurde mein Sohn hier eingeschult. In seinem Schulgebäude gab es nur einen Klassenraum, deshalb wurden die insgesamt vier ersten Klassen in Schichten unterrichtet – immer mit einer halben Stunde Abstand zwischen den Unterrichtszeiten. Außerdem waren in dem Gebäude ein Kindergarten und eine Verkaufsstelle untergebracht. Es gab ja hier noch keine Verkaufsstellen. Wo jetzt der Lidl ist, standen damals schon die 68. POS und die 69. Darin gab es damals auch eine Gaststätte und die Schülerspeisung, das war „Die Kombüse“.


Kindergärten brauchten wir hier damals viele – wir hatten ja viele Kinder hier. Die Kita meines Sohnes war die erste, die eröffnet wurde, die „Kombi 1“ im Schiffbauerring. Die war voll bis zum geht nicht mehr. Mittags sind wir in diesen ersten Monaten mit einem Handwagen und unseren Essenskübeln in die Schule gefahren, und haben den Kindern Essen gebracht. Es ging alles.


Aber die Wohnungen selbst waren schon richtig bezugsfertig, nur eben das Außengelände noch nicht. Dort war noch alles voller Baugruben, aber das bleibt halt nicht aus, wenn gebaut wird. Es fuhren noch viele Baufahrzeuge herum, die Zugänge zu den Häusern waren Stege aus Holzplatten. Das schönste an unserer Wohnung war die große Küche, bestimmt vier mal vier Meter groß. Die finde ich heute noch herrlich. Die Wohnung war auch sonst schön: eine 4-Raum-Wohnung in der obersten Etage, mit einem Zimmer für jedes Kind – und sogar Möbel waren schon drin. Wir haben da 20 Jahre gewohnt. Als die Kinder auszogen, sind wir in eine kleinere Wohnung in Lütten Klein gezogen. Hier gab es leider keine, sonst wären wir nicht weggezogen. Inzwischen wohnen wir seit acht Jahren wieder in Groß Klein, im Dorf.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Heidrun Marotzke, war an der Erbauung des Stadtteils beteiligt und zog dann 1981 selbst nach Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich war damals in Groß Klein Bauleiterin für die Gründung und Erschließung im mehrgeschossigen Wohnungsbau, damals hieß dieser Beruf Objekttechnologe. In dieser Funktion war ich auch für die Bestellung der Straßenschilder für Groß Klein zuständig – den Plan für die Straßennamen und Hausnummerierungen habe ich noch heute. Inzwischen haben sich ja einige Straßennamen geändert, so wurden aus der Max-Pagels-Straße die Albrecht-Tischbein-Straße und aus dem Max-Pagels-Platz weitere Hausnummern des Schiffbauerringes – aber der Bezug der Straßennamen zum Schiffbau ist geblieben. Albrecht Tischbein war ja Mitbegründer der Neptun-Werft. Fritz Meyer-Scharffenberg, nach dem ebenfalls eine Straße benannt wurde, ist ein bisschen eine Ausnahme: Er war ein Schriftsteller, der hier in Groß Klein Dorf wohnte. Auf dem alten Plan ist noch die Brücke über die Stadtautobahn zu sehen, die aber am Ende nicht umgesetzt wurde. Das Gemeindezentrum BRÜCKE wurde erst 1984 im Rahmen eines Sonderbauprogrammes – Kirchen für neue Städte – geplant. Aber die Würfelhäuser sind schon im Plan zu sehen. Sie wurden schon zu DDR-Zeiten als Pflegeheim und altersgerechter Wohnblock geplant. Dichter an das Dorf rückten die Planungen aber nicht heran. Am damaligen Max-Pagels-Platz sollten elfgeschossige Punkthäuser entstehe und auch ein altersgerechtes Wohnhaus.


Ich kenne Groß Klein noch aus der Zeit, als hier Getreide stand. Bevor ein Wohngebiet gebaut wird, passiert ja schon sehr viel: die Erschließung, der Straßenbau und dergleichen. Der reine Wohnungsbau, also die Montage der Platten und der Ausbau, hat nicht lange gedauert, ungefähr vier Monate pro Block. Für die Vorarbeiten brauchte man deutlich länger.


Die Pläne von damals zeigen, dass der ganze Stadtteil zunächst auf dem Reißbrett geplant wurde – und dass man früh festlegte, dass hier die Namen aus dem Schiffbau genommen werden, wegen der Nähe zur Warnowwerft. Es gibt ja viele Rostocker Viertel, die auf ein bestimmtes Thema ausgerichtet sind, z.B. im Komponistenviertel. In Evershagen sind alle Straßen nach Schriftstellern benannt, in Lütten Klein nach den Partnerstädten von Rostock. Im Rahmen der Planungen baute man auch ein Modell, in dem man die Hochhäuser und 5-Geschosser auf eine Platte stellte. Angeblich soll dieses Modell im Windkanal getestet worden sein, aber wenn ich damals zur Arbeit nach Groß Klein kam, musste ich oft regelrecht gegen den Wind ankämpfen. Vermutlich ist das zwischen so hohen Häuser kaum zu vermeiden. Ich bin ja damals immer mit dem Arbeiterbus von der Südstadt hergefahren. Der hatte uns an der südlichen Ecke Schiffbauerring/Albrecht-Tischbein-Straße abgesetzt. Wir als Betriebsleitung hatten unsere Büros in den Nummern 27 und 28, da mussten wir dann im Gegenwind hinlaufen. Damals sah es hier aber insgesamt noch anders aus – bei der Errichtung des IGA-Parks ist hier noch einmal vieles umgestaltet worden. Dort wo heute das Klenow Tor steht, war eigentlich ein Punkthaus geplant, ein 18-Geschosser. Der wurde dann nicht mehr gebaut, ebenso wie eine Apotheke und ein Ambulatorium, die man in den Plänen noch sieht.


Die ersten Mieter zogen Ende 1979 ein, in das erste fertige Haus im Schiffbauerring. Die in Groß Klein errichteten Wohnschlangen wurden in Taktstraßen produziert: Die Mehrgeschosser in 3-Takt-Straßen, die Hochhäuser in 2-Takt-Straßen. Taktstraße heißt: Alle Gewerke sind in einen Bereich eingegliedert. Erst kam die Montage, dann die Heizung, Sanitär usw. Zu guter Letzt kommen dann der Maler und die Baureinigung. So gingen alle Gewerke im Takt gleichmäßig durch die Wohnblocks.


Weil wir in Groß Klein – wie vorher auch schon in Schmarl – ein sogenanntes Sockel- oder Installationsgeschoss mit dem sogenannten Leitungsgang gebaut haben, wurden hier alle Wasserleitungen, Heizung, Warmwasser, Abwasser und auch die Elektro-, Antennen- und Telefonleitungen verlegt. Normalerweise liegen die Erschließungsleitungen eines Gebiets im Erdreich, laufen einige Meter vor dem Haus entlang, mit Anschlüssen an die einzelnen Häuser, die der Hochbau dann vornimmt. Im gesamten Nordwesten ging man er aber davon aus, dass es zum Ansteigen des Grundwasserspiegels kommen kann, deshalb hat man dieses Sockelgeschoss vorgesehen. Sowohl in Schmarl als auch in Groß Klein hat man dann den ungenutzten bzw. kaum genutzten Bauraum für die Erschließung des Wohngebietes genutzt. Aber wenn jetzt mal was an den Leitungen ist, muss man da nicht buddeln, die Handwerker gehen einfach ins Installationsgeschoss, tauschen was aus oder was eben anliegt, gehen wieder raus und dann war es das.


Diese neuartigen Planungen haben mir damals wirklich Spaß gemacht – als Objekttechnologin war ich ja für alles zuständig, was das Sockelgeschoss betraf: die Fundamente, die Erschließung usw. Die Versorgungsleitungen kamen aus verschiedenen Richtungen, die Heizung von der einen Seite, die Elektroversorgung von der anderen. Und wir mussten berücksichtigen, dass das Abwasser ein gewisses Gefälle braucht, um abfließen zu können. Nach der Montage wurde die Bauwärme in die Häuser geleitet, damit der Bau halbwegs trocken für die Ausbaugewerke war. Denn wenn die Leute einzogen, musste alles anliegen. Strom musste da sein, die Entwässerung musste stimmen, Wasser und Heizung funktionieren.


Eine weitere Herausforderung beim Bau von Groß Klein war, dass es hier im Untergrund jede Menge Torflinsen gab, die vom Tiefbaubetrieb durch Sprengungen beseitigt werden mussten. Dir Baugruben, in denen vorher Torf war, wurden mit sehr viel Ostseekies als Bettungskies verfüllt. Dieser Kies war wegen seines Salzgehalts für die Betonherstellung ungeeignet, aber zum Ausfüllen ging das. Man verwendete ihn auch häufig für die Einrichtung von Baustraßen.


Dass ich später nach Groß Klein gezogen bin, das hat sich einfach so ergeben. 1981 bekam ich diese 1-Raum-Wohnung in eines der Würfelhäuser in der Albrecht-Tischbein-Straße, gegenüber von meinem ersten Büro in Groß Klein Ich war damals unglaublich happy über die Wohnung. Bis dahin hatte ich noch bei meinen Eltern gewohnt, mit meiner zehn Jahre jüngeren Schwester zusammen in einem Raum. Meine Eltern hatten eine 2 ½-Raum-Wohnung. Nun war ich endlich mal auf mich alleine gestellt und konnte entscheiden, was ich wollte; einladen, wen ich wollte. Vor dem Einzug wurde unter den späteren Mietern ausgelost, wer welche der insgesamt dreißig Wohnungen bekommt.


1983 wurde die Pfarrstelle der Ufergemeinde eingerichtet und da hieß es: In Groß Klein wird ein neues Gemeindezentrum gebaut. Das habe ich dann von Gemeindeseite aus begleitet. Ich habe an den Sitzungen teilgenommen, habe die gesamte Vorbereitung des Gemeindezentrums protokolliert. Rückblickend fühlt es sich wirklich so an, als hätte ich das Gemeindezentrum mitgebaut. Für mich ist es ein Stück mein Zuhause. Und auch Groß Klein ist für mich überhaupt nichts Fremdes, ich habe es ja entstehen sehen. Das fühlte sich ein bisschen so an, als wenn man seinem Kind beim Großwerden zuschaut.


Ich bin dann noch einmal umgezogen, aber gar nicht weit weg, in den Schiffbauerring. Und da wohne ich bis heute. Ich war Mitglied der Wohnungsbaugenossenschaft. 1995 ging ich dort hin und habe gesagt, dass ich eine größere Wohnung brauche – mindestens eine 2-Raum-Wohnung. Da hat man mir mehrere Wohnungen angeboten, auch in anderen Stadtteilen. Ich musste noch einen Wohnberechtigungsschein vorlegen, zur damaligen Zeit war das noch nötig. Dann hat man mir meine jetzige Wohnung angeboten, die habe ich genommen. Ich bin wirklich Groß Kleiner, so etwas wie ein Urgestein. Die Menschen, mit denen ich zusammen eingezogen war, waren zur Wendezeit Anfang bis Mitte 30. Viele lebten noch mit ihren Kindern zusammen – für die war die damalige Bauförderung mit Baukindergelt ein großer Anreiz, sich ein Eigenheim zu bauen. Hatte eine Familie damals zwei Verdiener, zog diese häufig ins Umland, um sich endlich den Traum vom Eigenheim zu erfüllen. Dadurch ist natürlich auch innerhalb der Gemeinde ein bisschen Substanz weggebrochen. Aber am Ende war es diese RTL-Serie über den Blockmacherring, die den Ruf von Groß Klein derart ruiniert hat. Mein Neffe hat mich früher immer gern hier besucht, auch in den Ferien. Als er jetzt nach dem Studium eine 3- oder 4-Raum-Wohnung haben wollte, kam für ihn Groß Klein überhaupt nicht in Frage: Da zieht man nicht hin. Diesen Ruf hat Groß Klein jetzt.


Auch in den Nachwendejahren stagnierte hier alles, es gab nur noch die ehemaligen Kaufhallen, sonst keine Infrastruktur. Das Klenow Tor hat das dann ein bisschen aufgewertet, ist aber jetzt in einem derartigen Zustand, dass man auch sagen kann: Das ist keine gute Visiten-Karte für Groß Klein. Wenn dieser Schandfleck wieder ein bisschen besser wäre…. Gut finde ich das Börgerhus, dass man das ein bisschen anders gestaltet hat. Aber es gibt dann eben auch Ecken, wo sich Leute niederlassen, die den Müll liegen lassen und bis in die Nacht laut sind.


Für mich ist gut, dass ich dicht am Klenow-Tor bin. Dort sitzen alle meine Ärzte, dort ist die S-Bahn-Haltestelle, so dass ich jederzeit schnell nach Rostock und noch schneller nach Warnemünde komme. Die Nähe zu Warnemünde ist hier ein großes Plus. In den Außenringen kann man bis zur Warnow gucken – und aus anderen Wohnungen auf das IGA-Gelände. Allerdings kriegt man da auch jedes Konzert mit. Sehr schön finde ich auch, dass im Vorfeld der IGA die Innenhöfe hier neugestaltet wurden. Wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, sage ich immer: Ich gucke auf einen Park. In manchen Sträuchern hängen schon mal die Schnapsflaschen, aber in gewissen Abständen wird alles wieder ordentlich gemacht.


In der Gemeinde merkt man sehr deutlich: Die Werftallee ist eine Trennlinie. Man geht vielleicht noch mal durchs Dorf spazieren, aber die Bewohner des Wohngebietes auf der anderen Seite laufen hier nicht ständig vorbei. Die Gemeindemitglieder kommen aus dem ganzen Stadtteil. Früher hatten wir eine großen Kinderchor. Da sind zwar schon Kinder aus dem Stadtgebiet dazugekommen, aber eher, weil sie durch andere Kinder davon erfuhren, nicht weil sie hier vorbeikamen und sahen: Ach, hier gibt es einen Kinderchor.


Wenn ich nicht in ein Pflegeheim muss, bleibe ich hier wohnen. Ich habe zwar einen Fahrstuhl, aber nur auf der halben Treppe – mit einer Gehbehinderung kann das dennoch schwierig werden. Aber vielleicht kann ich dann ja auch in ein Hochhaus umziehen. Ich habe nicht vor, hier wegzugehen. Wenn ich hier vor die Tür gehe, treffe ich fast immer jemanden, den ich kenne, mit dem man sich mal kurz unterhält. Das macht es ja auch aus. Die meisten kenne ich von früher, aber es kommen auch neue Bekannte hinzu. Ich will hier bleiben. Eine Zeit lang wohnte in der Wohnung unter mir wohl ein junger Mann, der vom Nachmittag bis zum Morgen ständig Besuch bekam, die ganze Nacht hindurch. Da war es sehr laut und an Schlaf war kaum zu denken. Ich vermute, dass Drogen mit im Spiel waren. Auf den Treppen lagen besondere „Tüten“. Und die Wohnungen sind ja so hellhörig, dass man das alles mitkriegt. Da war ich drauf und dran, aus dem Haus auszuziehen. Aber wenn das Haus ordentlich bleibt, kriegt man mich da nicht weg. Da muss man mich schon raustragen.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Gisela Ratzlaff, wohnt seit 1980 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Als wir Anfang der 1980er Jahre nach Groß Klein zogen, waren wir erstmal froh über die Wohnung, auch wenn draußen noch alles im Bau war. Die Kinder haben ja meistens draußen gespielt. Wenn die Kinder abends rein kamen, hast du die Tür aufgemacht, das Kind genommen, in die Badewanne gestellt, abgeduscht und dann konntest du sagen: Ja, ist meins. Die sahen immer aus wie die Schweine, der Modder war immer oben in die Gummistiefel reingelaufen. Aber die waren froh und glücklich. Diese Freiheit, die sie damals hatten, war schon sehr schön.


Bei unserem Einzug war unser jüngstes Kind gerade ein Jahr alt. Wir mussten ja arbeiten. Aber wir hatten hier keinen Kindergarten- oder Krippenplatz. Ich fuhr jeden Morgen nach Evershagen. Das hieß dann ganz praktisch: im Oktober, bei echtem Mistwetter, ich bin mit den Kindern um viertel fünf aufgestanden. Ich habe ihnen eine Nuckelflasche mit warmer Milch oder Kakao ins Bett gegeben, damit die wach wurden. Dann habe ich erst mich und dann die beiden Kinder fertig gemacht. Dann sind wir viertel sechs aus dem Haus gegangen. Draußen gab es noch keine Straßen oder Wege, sondern nur Modder. Man musste ganz außen rum und dann bis zum S-Bahnhof – und dorthin gab es noch keine Auffahrt. Man musste also immer jemanden bitten, den Kinderwagen mit hochzutragen. Ich habe mir manchmal anhören müssen: Was schaffst du dir so viel Gören an. Mach doch allein. Da standen mir morgens schon die Tränen in den Augen. In Evershagen dasselbe Spiel, wieder jemanden fragen. Im Schweinsgalopp zur Kinderkrippe, die war auf dem anderen Ende von Evershagen, so dass ich um sechs Uhr vor der Tür stand. Wenn die die Tür aufschlossen habe ich meinen Großen, der war ja aber auch erst drei Jahre alt, alleine in den Kindergarten geschickt. Ich lief mit dem kleineren Kind in die Krippe, hab es ausgezogen und abgegeben, bin wieder rum, um zu gucken, ob der Große auch wirklich angekommen ist. Dann wieder zurück zur S-Bahn und in die Kinderklinik zur Arbeit, wo ich um sieben Uhr anfangen musste. Da wurde ich dann schon mit so einem Gesicht empfangen: Na, du kommst ja eh erst, wenn die Arbeit schon fertig ist. Hauptarbeit war von sechs bis sieben, Kinder baden und fertig machen, wir arbeiteten damals auch noch 8 ¾ Stunden am Tag. Schön war es, wenn mein Mann Nacht- oder Spätschicht hatte. Dann hat er morgens die Kinder weggebracht – und ich konnte ganz regulär um sechs Uhr anfangen.


Irgendwann bekamen wir dann Kita-Plätze in Lichtenhagen, da wo heute die Pagode steht. Das war schon ein Fortschritt. Ich hatte mich bei „Krippen und Heime“ mal beworben, als unser Sohn ganz klein war. Damals war da keine Stelle frei und ich vergaß das Ganze wieder. Eines Abends klingelte es an der Tür. Davor stand die Krippenleiterin der neuen Kita im Signalgastweg, dort wo jetzt das DRK ist. „Sie haben sich doch mal bei uns beworben. Haben Sie nicht Lust bei uns zu arbeiten? Wir machen jetzt auf und Sie kriegen auch Ihre beiden Kinder hier untergebracht.“ Ich habe keine fünf Minuten überlegt. Damit wurde es alles viel einfacher. Ich habe dann da in der Kinderkrippe angefangen - das war nicht so mein Traum, aber erstmal ging es. Aber lange habe ich dort nicht gearbeitet, es war einfach nicht mein Ding. Das begann schon mit der Ansage: „Ich freue mich, dass wir so viele junge Genossinnen hier haben.“ Nee, ich nicht. Ich konnte mit dieser Hierarchie nichts anfangen. Ich habe immer gedacht: Ich muss hier raus. Durch Zufall hat es sich dann ergeben, dass ich in der Kinderabteilung in der damaligen Allende-Klinik in Lütten Klein als Schwester anfangen konnte. Da musste ich dann zwar auch Spätschicht machen, aber meine Tante aus Evershagen hat dann alle drei Wochen die Kinder gehütet. Später konnte ich dann auch noch in die Außenstelle der Klinik hier in Groß Klein wechseln. Da hieß es dann erst: Um Himmels willen, da wollen Sie hin? Wo so viel Arbeit ist? Jaaa. Da habe ich dann bis zur Wende gearbeitet. Dadurch kenne ich natürlich viele.


Im September 1989 sind wir dann über einen recht kuriosen Ringtausch umgezogen: Ich kannte hier in Groß Klein über meine Arbeit eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, die eine 4-Raum- Wohnung hatte. Die habe ich einfach angesprochen, ob sie tauschen will. Dann haben wir uns alle zusammen gesetzt und haben diesen Ringtausch besprochen, haben festgelegt, an welchem Tag wir alle umziehen. Ich hatte unsere Wohnung, aus der wir auszogen, geputzt bis zum letzten. Die aus Lütten Klein brauchten nur noch kommen und ihre Sachen hineinstellen. Als wir in der 4-Raum-Wohnung in Groß Klein ankamen, waren noch alle Möbel oben. Wir haben dann unseren Kram hochgetragen und deren Kram dann runter, das war im Grunde sogar sehr effektiv. Witzigerweise gab es im Treppenhaus so eine Leiter, mit der man durch eine Luke aufs Dach kam. Die haben wir fünf oder sechs Mal vom LKW wieder runter geholt, irgendwer hat immer diese Leiter mit runter genommen. Aber im Grunde war ich erstmal ziemlich verzweifelt, weil wir in diese dreckige Wohnung kamen. Da kamen so ein paar Sachen raus, die wir vorher nicht wussten. Etwa dass die Vormieterin ihre Kinder oft in ihren Zimmern eingeschlossen hatte. Die Türen waren alle der Länge nach gerissen, weil die Kinder an den Türen gerüttelt haben, wenn Mama nachts feiern war. Die Nachbarn haben erzählt, dass die dann manchmal aus dem Fenster gepullert haben, weil sie eingeschlossen waren. Aber auch die restliche Wohnung musste renoviert werden: Die Heizkörper waren alle braun, eine Wand im Wohnzimmer war mit Velourtapete beklebt. Die kriegte man fast nur mit Hammer und Meißel wieder ab. Eine Wand war mit giftgrüner ungeleimter Wandfarbe gestrichen. Wenn man da mit Wasser ranging, war auf dem Boden davor alles grün. Im Badezimmer waren diese geflammten DDR-Glasfliesen, da war jede dritte Ecke abgebrochen. Ein Onkel meines Mannes hatte uns für die neue Wohnung Fliesen spendiert, die konnten wir dann glücklicherweise selber anbringen. Es war also alles nicht so ideal. Aber wir hatten eine größere Wohnung.


Ich bin getauft und konfirmiert bei uns „op dem Dörp“. Irgendwann, während meiner Ausbildung, kam eine Rechnung von der Kirchenkreisverwaltung über 200 DDR-Mark, die ich nicht hatte. Ich hatte nicht viel Geld. Also bin ich ausgetreten aus der Kirche. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Thomas hatte mit Kirche nicht wirklich was am Hut und dann habe ich auch nicht weiter drüber gesprochen. Aber eines Tages bekam ich eine neue Kollegin, die zur Kirche ging. In einer stillen Stunde habe ich sie dann einfach mal gefragt und sie gab mir die die Telefonnummer von Pastorin Schnauer. Die hat damals schon hier gearbeitet. Auch das Gemeindehaus gab es schon, es war aber noch nicht geweiht. Es war ja noch die Zeit vor der Wende, als man vorsichtig sein musste, mit Besuchen in der Gemeinde. Ich denke, die haben sich auch nach mir erkundigt, Schnauers kannten den Pastor, der mich konfirmiert hatte. Als dann Kirchweihfest war, lud mich meine Kollegin dazu ein. Unsere Lütte wollte mit und da es ihr Geburtstag war, erfüllte ich ihr den Wunsch. Die Kirche war brechend voll, es hat gegossen wie aus Eimern. Der Warnemünder Kinderchor ist aufgetreten und sie meinte nur: Das will ich auch machen! Von Stund an ist sie zur Christenlehre gegangen, hat sich hier engagiert und so weiter. Sie hat auch Freundinnen aus der Schule mitgenommen, das brachte mir Ärger im Elternbeirat der Schule ein. Am Martinstag kam dann auch unser Großer mal mit, aber der musste sich das erstmal genau angucken. Aber schließlich war er auch dabei und sehr engagiert.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Thomas Ratzlaff, wohnt seit 1981 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich habe früher auf der Warnowwerft in der Instandhaltung gearbeitet. Im Januar 1980 hieß es dann: Du wirst im März in die AWG aufgenommen, bist dran mit einer Wohnung. Wir hatten damals schon zwei kleine Kinder, wohnten aber noch im Schwesternwohnheim in Evershagen, meine Frau ist Kinderkrankenschwester. Die Instandhaltung galt damals als sogenanntes Hilfsgewerk und der wurden nicht so viele Wohnungen zugewiesen, insofern war die Wohnung in der Herrmann-Flach-Straße, die man uns in Aussicht gestellt hatte, ein echter Glücksfall. Wir fuhren gleich hin und schauten uns den Rohbau an. Als ich dann wieder ungeduldig nachfragte, wann denn nun die Aufnahme in die AWG sei, hieß es: „Nee, du bist doch noch nicht dran.“ Es stellte sich heraus: Unsere Wohnung bekam ein junger Kollege, der gerade aus Berlin hergezogen war. Sein Schwiegervater war in der Kreisparteileitung Rostock. Da ist meine Liebe zur Deutschen Demokratischen Republik etwas erkaltet. Es dauerte dann noch eine ganze Weile mit der Wohnung. Aber ich machte immer wieder Druck: auch wenn ich nicht in die AWG aufgenommen worden war, haben sie mich ja nicht ruhig gestellt. Das heißt, ich war jede Woche in der Sprechstunde des Werkleiters und im Wohnungsbüro auf der Werft. Denen bin ich so auf den Keks gegangen, und wirklich nicht nur leise. Schließlich bekamen wir 1981 eine Wohnung von der sogenannten KWV, der kommunalen Wohnungsverwaltung. Wir bekamen die Schlüssel und stellten fest, dass sich hinter der nun offenen Tür eine kleine 2 ½-Zimmer-Wohnung befand. 56 Quadratmeter – für eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern. Im Nachbarhaus dagegen gab es fünf Wohnungen mit großen Kinderzimmern. Es stellte sich heraus, dass in unserem Haus fünf Familien mit zwei Kindern einzogen. Die hatten alle, wie wir, das Gefühl, dass man sie beschissen hatte. In unserem Haus gab es außerdem noch Wohnheim-Wohnungen vom Düngemittelwerk. Bis zur vierten Etage wohnten da feste Mitarbeiter, aber in unserer Etage, der fünften, wechselnde polnische Gastarbeiter. Ich hatte mir im Urlaub in Dresden für viel Geld und nach stundenlangem Anstehen weiße Lederturnschuhe gekauft, wirklich super. Und es war ja in der DDR üblich, dass man seine Schuhe vor der Wohnungstür abstellte. Als die Buben dann abreisten, hatten sie meine Turnschuhe im Gepäck.


In der Wohnung selbst haben wir uns dann eingerichtet, aber wir hatten eine Mängelliste mit 93 Positionen. Das fing im Wohnzimmer an, da waren Beton-Fußstapfen auf dem Linoleum, die habe ich mit einem Meißel abgeschlagen, sonst hätten wir gar keinen Teppichboden hinlegen können, so hoch waren die. Und dergleichen mehr. Der Gipfel war, dass die Badewanne keine Emaille hatte. Vorteil: Man konnte nicht ausrutschen. Nachteil: Man konnte nicht drin baden. Den letzten Mangel haben wir viel später festgestellt. Unser Klo war dauernd verstopft. Und irgendwann habe ich die Toilette abgebaut und gesehen, dass die Bauarbeiter eine Schnapsflasche mit Korken nach unten da reingestopft hatten. Danach war das Problem dann dauerhaft behoben.


Als meine Frau dann begann, im Kindergarten hier im Stadtteil zu arbeiten, war der Start dort auch DDR-like: Die Ehemänner der Erzieherinnen haben den Endausbau des Gruppenraums gemacht. An den Türen war zum Beispiel noch kein Klemmschutz. Irgendjemand hat dann über Beziehungen Kunstleder besorgt, das wir dann über die Türspalten geklebt haben. Dann haben wir noch den Zaun um die große Spielfläche gebaut und andere Nebenarbeiten erledigt, die damals eben einfach nicht fertig waren. Und wir wollten ja, dass das da losgeht. Die anderen waren ja in der gleichen Situation wie wir. Es war ja in allen Neubaugebieten so: Wenn irgendwas fertig war, dann zogen da die jungen Familien hin. Die Betriebe hatten ein Kontingent, aber auch in unserem kommunalen Haus haben überwiegend Werftarbeiter gewohnt. Als die Kinder größer wurden, wurde das Wohnungsproblem für uns ja nicht besser.


Der Kindergarten, in den unsere Kinder gingen, machte um 18 Uhr zu. Die Kinder kletterten dann alle über den Zaun und spielten da weiter. Spielplätze gab es ja noch nicht. Sie krochen auch dauernd durch diese Riesenstapel mit Bauplatten. Monatelang blieb hier eine Walze liegen, mit der eigentlich Rasenflächen festgewalzt werden. Schräg gegenüber waren Kinder, die wurden um fünf Uhr morgens schon von ihren Eltern nach draußen geschickt. Die fanden nicht schöner, als dieses Ding anzuheben und scheppernd wieder fallen zu lassen.


1989 wurde uns eine große Wohnung in Lütten Klein, in der Wohnscheibe, dem sogenannten Polenblock, angeboten. Größe und Zuschnitt der Wohnung waren ein Traum – und dann noch mit Blick auf die Ostsee. Die Decke war schwarz geteert weil es immer wieder durchregnete. Durch Zufall konnten wir einen Ringtausch organisieren und zogen in den Schiffbauerring 9 – wieder in die fünfte Etage.


Später war dann alles drumherum grün, gerade im Schiffbauerring, der ersten Straße, die in Groß Klein gebaut worden war. Als dann nach der Wende alle Autos hatten, wurde es dort sehr eng. Als unser Sohn seinen Führerschein machte, durfte er mit meinem Auto fahren. Wenn ich dann morgens zur Arbeit wollte, musste ich erstmal gucken, wo das Auto überhaupt steht. Das war schon mal etwas abenteuerlich.


Unser Weg in die Gemeinde Groß Klein begann mit dem Gemeindezentrum „Die Brücke“. Weil Gisela wieder in die Kirche eintreten wollte, nahm sie an einer Gruppe zum (Wieder-)Kennenlernen der Kirche teil. Ich wollte sie abends – es war schon dunkel – nicht alleine durch den Stadtteil gehen lassen und begleitete sie. Arvid Schnauer hat so einen Stein rumgegeben: Wer den in der Hand hatte, sollte sagen, warum er heute hier ist. Und als ich den hatte, habe ich das so gesagt. Und dann noch: „Ansonsten glaube ich, dass ein Pfund Rindfleisch eine gute Suppe ergibt.“ Ich bin zwar als Kind getauft worden, aber hatte mich nicht konfirmierten lassen, es gab da für mich Ungereimtheiten, die ich nicht verstanden habe. Und zu Hause hat sich da auch keiner drum gekümmert. Aber ungelogen, dieser Abend hat den Anstoß gegeben, dass ich mich dann habe konfirmieren lassen und zwei Jahre später war ich Kirchenältester. Mich hatte das einfach gepackt, dieses Miteinander hier, bis heute.


Irgendwann stand dann die Wohnung im Dachgeschoss über dem Gemeindezentrum plötzlich leer. Eigentlich ist die für kirchliche Mitarbeiter, aber von denen wollte niemand da wohnen. Also zogen wir 1998 dort ein. Erst hatten wir immer nur Mietverträge über ein Jahr, aber das hat Pastor Schnauer irgendwann verstetigt. 2003 sind wir dann noch mal im Haus umgezogen.

Die „BRÜCKE“ heißt übrigens so, weil sie wie eine Brücke zwischen Schmarl und Groß Klein, zwischen dem Dorf und dem Neubaugebiet, zwischen Alten und Jungen, zwischen Christen und Nichtchristen sein soll. Das haben die Gründer dieses Haus so gedacht. Wir hatten auch mal einen Antrag vorbereitet, die Straße hier Kirchen Enn oder Kark Enn zu nennen, so wie Nigen oder Groten Enn. Aber das wäre zu teuer geworden. Früher war das hier ja der Schwarze Weg. Und auf Drängen der Schwester von Fritz Meyer-Scharffenberg, die hier im Pflegeheim war, ist das dann der Fritz Meyer-Scharffenberg-Weg geworden. Das war ja ein Dichter, der wohnte unten im Dorf. Ich finde den Namen ja nicht wirklich schlimm, aber er passt schlecht zu computergestützen Systemen, da gibt es so viele verschiedene Schreibweisen, das ist oft schwierig.

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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Bodo Haacker, wohnt seit 1980 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Ich zog im April 1980 nach Groß Klein, aus einer 2-Raum-Wohnung in Lütten Klein in eine 2 ½-Wohnung im Blockmacherring. Das ging damals unglaublich schnell mit dem Wohnungsbau: Wenn sie mit der ersten Platte angefangen haben, sind sechs Wochen später die ersten Mieter eingezogen.


Unser Umzug fand im April bei Schneesturm statt – und auch danach war nicht gleich alles perfekt: Es standen zunächst nur wenige Häuserblocks, viele Dinge gab es einfach noch nicht. Auch die Einkaufsmöglichkeiten waren zunächst noch ziemlich begrenzt. Die Wege von der Straße zum Haus waren Plattenwege, ohne Stiefel bei Regenwetter war das nicht gut. Aber insgesamt entwickelte sich alles sehr schnell: nicht nur die Kaufhalle, sondern auch ein Kindergarten kamen – und bald gab es dann auch im Schiffbauerring die ersten Ärzte.


Wir waren sehr froh über diese größere Wohnung, die alte war für unsere vierköpfige Familie mit einem vierjährigen und einem zweijährigen Kind einfach zu eng geworden. Das Problem für uns damals war, dass unser Kindergarten in Lütten Klein war. Hier gab es zwar einen, aber da haben wir keinen Platz bekommen. Das war umso schwieriger, weil meine Frau und ich in verschiedenen Schichten arbeiteten. Meine Frau musste als Köchin immer morgens um 7 Uhr in Dierkow sein. Das bedeutete, morgens die Kinder von hier aus nach Lütten Klein zu bringen und pünktlich um 6.08 Uhr den Bus zur S-Bahn zu kriegen. Also war in der Familie Aufstehen um 4 Uhr angesagt. Nach anderthalb Jahren wurde vor unserer Haustür ein Kindergarten gebaut. Dort hätten wir allerdings nur für eines unserer beiden Kinder einen Platz bekommen. Und das hätte die Situation eher noch verschärft. Du konntest ja nicht um 6 Uhr hier mit dem einen Kind sein und gleichzeitig mit dem anderen in Lütten Klein. Also sagten wir zugunsten einer anderen Familie ab. Ein halbes Jahr später haben wir dann hier beide Kinder untergebracht – die ersten Kinder aus dem Wohngebiet kamen in die Schule, da wurden dann Plätze frei.


Bei uns im Aufgang wohnten zehn Familien mit insgesamt 22 Kindern. Das war ja in jedem Aufgang hier so. Und wir hatten sieben Schulen. In jeder Schule waren 700 bis 800 Kinder, im Schulkomplex aus 68. POS, 69. POS und 70 POS waren es also insgesamt mehr als 2000. Das hat nie Ärger gegeben, auch mit den Anwohnern nicht. Bis zum Jahr 2000 wurden die Kinder hier bis nachmittags betreut. Das war gut, denn durch unsere Arbeit waren meine Kinder von morgens um 6 Uhr bis nachmittags um 17 Uhr alleine. In der ersten Klasse ging unsere Tochter noch in den Frühhort, da wollte sie aber nach einem halben Jahr nicht mehr hin. Ab dem zweiten Schuljahr haben wir ihr dann einen Wecker gestellt, zum Aufstehen. Und in der Küche hat ein zweiter Wecker geklingelt: Dann wusste sie, dass sie zur Schule gehen muss. Damit sind unsere Kinder auch früh selbständig geworden. Wir konnten sie damals alleine lassen, wir hatten keine Angst, dass etwas passiert. Die Kinder im Haus haben auch untereinander aufeinander aufgepasst, die Ältesten haben die Kleinen oft mal mitgenommen. Unsere Kinder brauchten auch nur eine Straße überqueren, um zur Schule zu kommen, das war Standard.


Heute werden die Kinder ja auch nachmittags überall hingefahren, zum Sport usw. Meine Große hat damals Volleyball als Leistungssport gemacht und fuhr zum Training in die Südstadt immer allein mit der S-Bahn. Sie haben immer Altpapier und so weiter gesammelt, dann hatten sie Geld. Am Hauptbahnhof gab es immer Bockwurst und rote Fassbrause. Einmal hat sie die Bockwurst gekauft und mit ihrer Freundin geteilt, beim nächsten Mal war es umgekehrt.


 


1980 hatten wir auch eine gute Hausgemeinschaft. Ich war damals auch im Wohngebietsausschuss. Wir haben viel gemacht, vor allem unser Umfeld selbst gestaltet, nicht nur die Grünanlagen, die es am Anfang natürlich noch nicht gab. Wir hatten einen Ausgang hinten zum Hof raus, einen schönen Innenhof im Blockmacherring, da haben wir uns eine Terrasse gebaut, schön mit Hecke umrandet. Da wurde dann gemeinsam gefeiert, beispielsweise am Kindertag, und abends zusammen gegrillt. Am Schluss musste man dann aufpassen, dass alle auch wieder familienmäßig in die richtige Wohnung finden. Noch heute stehen in den Hinterhöfen im Stadtteil viele Bäume, die wir als Mieter vor vielen Jahren gepflanzt haben. Das war unser Grundverständnis: Man kann nicht immer nur von der Gesellschaft nehmen, man muss auch selbst etwas einbringen. So haben wir es auch unseren Kindern beigebracht. Meine jüngere Tochter war beispielsweise mit ihrem Chor im Altenheim hier in Groß Klein, zum Vorsingen und damit sie etwas Geld für ihre Klassenfahrt zusammenbekamen. Dadurch entstand ein guter Kontakt zwischen Alten und Jungen. Und meine ältere Tochter verstand sich gut mit einem alten Ehepaar im Nachbarhaus, ist für sie einkaufen gegangen, ohne dass wir etwas gesagt hätten. Die Alten haben dann auch mal ein paar Mark für ein Eis oder so gegeben, aber so war eine Beziehung zu den älteren Menschen vorhanden. Das gibt es heute nicht mehr.


Was die Grünflächen betrifft: Zu DDR-Zeiten gab es im Baugesetz eine Regelung, dass auf so und viel Quadratmeter Wohnraum eine bestimmte Grünfläche kommt. Deswegen haben wir hier bei uns echt viel Grün. Für Groß Klein war damals vorgesehen, die ganzen Parkplätze außerhalb des Wohngebiets anzulegen, deshalb gibt es die großen Parkplätze am Rand, im Stadtteil aber nur wenige. Und meistens durftest du dort nur eine Stunde stehen. Begründet wurde das mit den vielen Schichtarbeitern, die der Verkehr stört, wenn sie tagsüber schlafen – und damit, dass es für die Kinder sicherer ist, wenn sie zur Schule gehen.


Die S-Bahn wurde hier Ende der 1960er/Anfang 1970er Jahre mit zwei Strängen durchgebaut, um eine schnelle Verbindung zu haben. Der Gedanke war, dass Busse aus den Stadtgebieten als Zubringer fahren. Damals war die S-Bahn deutlich länger als heute und fuhr alle 7 ½ Minuten. Beim Halt in Lütten Klein gab es immer eine regelrechte Völkerwanderung. Da hat man schon weit voraus gedacht, das ist heute leider so nicht mehr.


Als unsere Kinder dann zwölf und vierzehn waren, zogen wir nochmal innerhalb des Hauses in eine größere Wohnung, die zwei Stockwerke höher lag. Und um 2000 begannen wir, über eine altersgerechtere Wohnung nachzudenken. Wir wohnten ja nun im vierten Stock und die WIRO hatte nicht vor, einen Fahrstuhl einzubauen. Dann haben wir uns immer umgeguckt, meine Frau hat dann gesehen, wie ein Haus total umgebaut wurde, sogar der Grundriss wurde verändert. Dann stand da ein Schild „Wohnungsbesichtigung“, das hat sie wahrgenommen. Sie rief mich dann auf der Arbeit an: „Du, ich habe eine Wohnung gefunden. Mit Fahrstuhl und alles neu.“ – Nun wohnen wir wieder im 4. Stock, aber mit Fahrstuhl, leider nur auf der halben Etage.


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28. Jun 2024
Groß Klein > Geschichten

Andrea Wehmer, Jahrgang 1973, wohnte von 1979 bis 1990 und von 2003 bis 2008 in Groß Klein

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@Tom (Redaktion "Stadtgespräche")

Meine Eltern zogen mit uns von Lichtenhagen nach Groß Klein, als ich ein Vorschulkind war. Damals, im Jahr 1979, gehörten wir tatsächlich zu den ersten Groß Kleiner Mietern. Meine Eltern waren damals überglücklich über die neue Wohnung – nach der Geburt meiner Schwester hatten wir in Lichtenhagen einfach zu beengt gelebt. Unsere Wohnung lag in der Max-Pagel-Straße, der heutigen Albrecht-Tischbein-Straße.


Die Hausgemeinschaft war alleine dafür zuständig, die Außenanlagen herzurichten: die Grünanlagen vor dem Haus, die Büsche im Umfeld – alles entstand in echter Teamarbeit. Das hat die Bewohner unseres Hauses damals unglaublich zusammengeschweißt: In den folgenden Jahren feierten wir dann zusammen Silvester, man lud sich gegenseitig in die Wohnungen ein. Es war echt ein tolles Miteinander, das aus diesem gemeinsamen Tun entstand.


Auf unseren Innenhof war mein Kindergarten. Ich erinnere mich noch gut, wie matschig es da in der Anfangszeit war. Eines Morgens, als ich allein auf dem Weg in die Kita war, rutschte ich im Modder aus – und der Schlafanzug, den ich unter dem Arm trug, wurde vollkommen schmutzig. Das erschütterte mich so, dass ich weinend in der Kita ankam.


Meine dreieinhalb Jahre jüngere Schwester ging damals noch in die Krippe. Diese lag im Wohnblock hinter der 68. Oberschule, in die ich im Jahr darauf eingeschult wurde. Das hieß dann für mich, dass ich nach Schulende immer hinüber in die Kita ging, um sie dort abzuholen. Das Ganze war damals deutlich weniger gefährlich, denn in Groß Klein waren kaum Autos unterwegs. Ich weiß noch, dass wir ganze Nachmittage auf der Straße gespielt haben, Abwurfball und dergleichen. Ansonsten buddelten, matschten und spielten wir viel im Innenhof, das war echt eine tolle Zeit.


Rückblickend fällt mir immer wieder auf, was für eine enorme soziale Durchmischung es in meiner Schulklasse gab. In der Elternschaft waren alle Berufsgruppen vertreten – und es war ein wirklich gutes Miteinander. Wir waren viel gemeinsam draußen, haben aber auch im Haus gespielt, vor allem mit den drei anderen Kindern im gleichen Alter, die in meinem Haus wohnten. Nachmittags und in den Ferien zogen wir durchs Haus und machten allerlei Mist, vor allem auch in der Etage mit den Versorgungsleitungen.


Später waren dann mehr wir im Stadtteil unterwegs, vor allem auf dem Gelände, auf dem später der IGA-Park entstand. Damals gab es da einen Graben und alte Weiden am Ufer. Über einen der Gräben führte ein Rohr, an dem haben wir teilweise abenteuerliche Mutproben gemacht, die auch im Graben hätten enden können. Aber irgendwie ist das dann nie passiert. Außerdem erinnere ich mich noch an das Handballtraining im Traditionsschiff, auch an den gruseligen Heimweg im Dunkeln.


Für uns Jugendliche war in Groß Klein der Jugendclub "224" eine angesagte Lokalität. Ja, den gab es damals schon! Dort haben wir uns regelmäßig getroffen und zu den legendären Hits der 80er getanzt. Discofeeling gab es auch in der "Kombüse", der einstigen Schülerspeisung der 68., 69. und 70. POS. Heute steht hier der "Lidl".


Die Wendezeit war für mich gar nicht so eindrucksvoll. Deutlich klarer erinnere ich mich an unsere Klassenreise nach Moskau im September 1989. Im Flugzeug begegneten uns Westdeutsche, die schon wie selbstverständlich über eine baldige Wiedervereinigung sprachen. Wir waren völlig verblüfft - und unsere Lehrerin verbot uns den Kontakt mit Ihnen. Danach erinnere ich mich wieder eindrucksvoll an meine Abschlussprüfungen im Sommer 1990. Die fanden in einer von vollständiger Unsicherheit geprägten Situation statt: Niemand wusste, was überhaupt noch geprüft und gefragt werden durfte.

1990 ging ich zur Ausbildung und zum Studium in andere Städte – um dann erst im Jahr 2003 mit meinem Mann nach Groß Klein zurückzuziehen. Damals gefiel mir an dem Stadtteil besonders, dass er so tolle Wohnungen hatte. Sie hatten unglaublich großen Küchen und Wohnungszuschnitte nach den Wünschen der Mieter – da haben die Wohnungsgenossenschaften nach der Wende Grundrisse verändert, Böden erneuert und dergleichen mehr. Und auch 2003 (und bis heute) war Groß Klein ein sehr grüner Stadtteil, auch das gefiel uns, als wir dorthin zurückkamen. Gleichzeitig gab es durchaus auch auffällige Unterschiede zu meiner Groß Kleiner Kinderzeit: Dieses schöne Gemeinschaftsgefühl in den Häusern existierte nicht mehr. Und man konnte die sinkende soziale Durchmischung deutlich spüren, auch im Kindergarten, den meine Kinder besuchten. Noch bewusster wurde mir das, als wir wieder aus Groß Klein wegzogen und dann mit unseren Kindern ab und an auf die dortigen Spielplätze zurückkehrten, die sie sehr liebten. Auf einmal fühlte sich der Stadtteil nicht mehr so schön und gemütlich an wie zu der Zeit, als ich dort gewohnt hatte.

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