
Schmarl wurde damals als Edel-Stadtteil geplant, es gab Künstler-Ateliers und viele Leute aus der Stadtverwaltung und ranghöhere Armeeangehörige wohnten hier. Ich war leider noch nie oben in einer der Atelier-Wohnungen, aber ich weiß, dass es solche in den Wohnungen im Kolumbusring Nordlicht gibt, damit die Wirkung der Farben nicht durch die tageszeitabhängigen Lichtverhältnisse beeinflusst wird.
Meine Mutter hat früher in der Warnow-Apotheke in der Rostocker Innenstadt gearbeitet. Dann wurde sie 1988 die Leiterin der Hans-Valentin-Apotheke in Evershagen. In Schmarl befand sich zu der Zeit eine der dazugehörigen Ausgabestellen im Hochhaus im Nikolai-Kusnezow-Ring, dem heutigen Kolumbusring. Eine eigenständige Apotheke gab es hier nicht. Nach der Wende war ihr die Apotheke in Evershagen zu groß. Schmarl fand sie besser, also behielt sie den Schmarler Teil. 1990 ist sie mit der Apotheke in die Roald-Amundsen-Straße gezogen.
Der Name „Pinguin-Apotheke“ war dann recht schnell gefunden: Apotheken heißen häufig nach Tieren, meistens mystische Tiere, und oft nach Vögeln - ein spannendes Thema für die Forschung im Gebiet „Geschichte der Pharmazie“. Die Schmarler Straßen sind alle nach berühmten Seefahrern in den Polargebieten benannt, deshalb haben meine Oma und meine Mutter überlegt, welches Tier als Namensgeber in Frage kommen könnte. Der Pinguin war der Favorit: Er ist sympathisch und Pinguine haben Roald Amundsen auf seinen erfolgreichen Expeditionen begleitet, deshalb also „Pinguin“. Der Norweger Roald Amundsen war der erste Mensch am Südpol.
Meine Mutter hat sich damals sehr bewusst für Schmarl entschieden. Dieses Kleine und etwas Abgeschlossene hier, das hat fast schon etwas Dörfliches. Dazu passt auch, dass man aus vielen Wohnungen ins Grüne schauen kann. Sie war Apothekerin mit Leib und Seele. Dazu gehörte auch, dass man ständig vor Ort ist. Das klingt heute ein bisschen anachronistisch, aber ich finde das cool. Wenn ich im Fernsehen Sendungen über altes Handwerk sehe, Schuhmacher, Sattler, Schneider, dann wird mir klar, dass wir im Grunde genauso arbeiten. Und das schon seit langem: Vor 300, 400 Jahren lief das nicht sehr viel anders ab. Da gab es nicht so viele Kunden in der Apotheke, weil sich das kaum einer leisten konnte. Aber heute kann es sich jeder leisten und es ist auch schön, für die Leute da zu sein.
Ich bin in der Apotheke groß geworden, wurde dann aber erstmal Vollmatrose mit Abitur, weil ich zur See fahren wollte. Dann kam die Wende und die Seefahrt als Beruf stand plötzlich in Frage. Gleichzeitig dachte ich: Gesundheit, Pharmazie, das wird es immer geben. Heute sehe ich das etwas anders, auch dieses Feld ändert sich und wo wir da landen werden, ist auch noch eine Frage. Außerdem wünschte ich mir eine Familie und dazu passte die Seefahrerei nicht wirklich. Ob ich das so haben möchte, dass meine Kinder zu mir Onkel sagen? Also studierte ich Pharmazie und zwar im Westen, weil es damals so ungewiss war, welche Fakultäten man hier in M-V bzw. von den „fünf Neuen“ erhält und welche schließen würde. Neun Jahre habe ich in Braunschweig gelebt und meine Mutter hier nur besucht, aber auch Praktika in verschiedenen Rostocker Stadtteilen gemacht, auch in der Krankenhausapotheke. Ich war also immer mit Rostock in Kontakt. Ich war auch zum Umzug der Apotheke hier, 1995/96 von der Roald-Amundsen-Straße zurück in den Kolumbusring hier, weil das dortige Ärztehaus mehr oder weniger aufgelöst wurde. Unsere Apotheke hätte eigentlich in die Räume einziehen sollen, in denen heute der Döner ist, deswegen ist der Tresen da, wo er jetzt ist. Aber leider war die Fläche zu klein. Die deutschen Vorschriften verlangen eine Mindestfläche von Apotheken. Also zogen wir sehr kurzentschlossen in die Räume der ehemaligen Sparkasse, und darum sind hier auch noch die Gitter vor den Fenstern.
Aber auch sonst war ich an den Wochenenden oft hier und so habe ich in Schmarl zum Beispiel auch meine spätere Frau kennengelernt – an der Tankstelle am Schmarler Damm.
Als ich nach dem Studium zurückkam, wäre ich ohne Zögern in die ehemaligen Apothekenräume gezogen, aber natürlich ist das kein Wohnraum. Dieses Objekt hier in der Roald-Amundsen-Straße 24 fand und finde ich immer noch total spannend.
Insgesamt hat sich Schmarl als Stadtteil in den 1990er Jahren sehr verändert und im Grunde war es ein Niedergang. Eines der steingewordenen Symbole dafür ist die Einkaufspassage „Messeblick“. Sie lag damals, als noch gar nicht klar war, dass der Warnowtunnel kommen würde, direkt auf dem Weg nach Groß Klein, in einem hochgradig interessanten Gebiet. Damals führte ein Schleichweg aus der Stadt und durch Schmarl hindurch, dort, wo heute der Schmarler Damm langgeht am IGA-Gelände vorbei. Da war richtig Bambule auf der Ecke. Der „Messeblick“ wurde vermutlich geplant, ehe man an Warnowquerung und den IGA-Park überhaupt nur dachte. Das muss also in den 1990ern gewesen sein. Ähnlich ist es mit der Kolumbus-Passage. Sie wurde 1994/95 gebaut, weil man wohl dachte: Von den fünfzehntausend Schmarler Einwohnern gehen hier bestimmt jeden Morgen sieben- oder achttausend auf dem Weg zur S-Bahn vorbei. Und so war es in den 1990ern auch, da nutzte halb Schmarl zweimal täglich diese Hauptverbindung zum Bahnhof Lütten Klein. Dann kam der Bauboom und viele zogen weg, wer es sich leisten konnte, fuhr mit dem Auto. Übrig blieben die, die morgens nicht mehr zur Arbeit müssen und die erhofften Kundenmengen blieben aus.
Im Zentrum von Schmarl gab es früher noch das Varna, ein Restaurant mit bulgarischer Küche. Ich hatte eine Freundin im Kolumbusring (die Frauen aus Schmarl sind offensichtlich bestimmend in meinem Leben), die ging in die 63. POS. Mit der Schulklasse hatte meine Klasse aus Evershagen zusammen Tanzstunde. Deswegen war ich dann oft hier. Ich hatte hier viele Freunde und mit denen gingen wir oft hier in Schmarl ins Kino. Essen gingen wir nur manchmal, das kann man sich mit 15 oder 16 nicht leisten, aber ein Bier für 50 Pfennig, das ging schon.
Die Jugend von Schmarl ist in den 1990er Jahren immer ins Shanty gegangen. Das war eine Disco, benannt nach dem gleichnamigen Betrieb (VEB Jugendmode), den es dort in den 1980er Jahren gab. Im VEB „Shanty“ habe ich immer PA-Unterricht gehabt, Produktive Arbeit, das war in der DDR ein Unterrichtsfach. Im PA-Unterricht haben wir in der 7. Klasse nähen gelernt, das war noch im Schulgebäude in Evershagen. Ab der 8. oder 9. Klasse ging es dann rüber zum eigentlichen Hauptwerk von Shanty. Die Jungs haben im Lager Kisten gepackt und sind Hubstapler gefahren, die Mädchen mussten Jeanshosen nähen. Das war richtig harte Arbeit. 7.30 Uhr ging es los, die Arbeitszeiten orientierten sich am Schulunterricht. Shanty produzierte auch fürs Ausland, den Quelle-Versand im Westen. Da waren auch Sachen dabei, die man in der DDR gar nicht kannte, beispielsweise Thermohosen. Insofern ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass da auch Dinge geklaut wurden. Aus meinem Schuljahrgang – wir waren immer drei Klassen – sahen dann am Ausgang einige aus wie Michelin-Männchen, weil sie Sachen unter ihren Klamotten rausschmuggelten. Das gab richtig Ärger. Aber es wurden auch die typischen DDR-Klamotten genäht: Wisent-Jeans und sowas. Diese Kleidung ist immer noch ein Trauma für Alt-DDR-Bürger. Ich bin unter anderem deswegen zur See gefahren. Meinen ersten richtigen Breakdown hatte ich, als ich zum ersten Mal in Hamburg Landgang hatte und wir uns unsere Heuer hatten ausbezahlen lassen. Wir bekamen damals 1,50 DM pro Tag als Lehrling und ich hatte mir 15 oder 20 West-Mark für die Atlantiküberfahrt auszahlen lassen. Damit wollte ich mir in der Mönckebergstraße eine Levi’s-Jacke kaufen und bin dann umgefallen, als ich sah, was die kostete: 130 DM, und die Jeans auch 70 oder 80 DM. Ich habe gedacht: Alter, dafür fahre ich mein ganzes Leben.
Wenn ich mein Leben als roten Punkt auf einer Karte sehen würde, dann wäre der hier in Schmarl. Vielleicht noch ein bisschen in Lütten Klein, aber im Kern ist das hier ein großer roter Punkt. Und damit geht es mir eigentlich gut. Mir fehlt nicht viel, ich bin kein Reisemensch. Ich bin gerne unterwegs, aber ich brauche nicht dringend Palmen oder so was.
Wenn Sie mich nach Geschichten aus der Apotheke fragen: Oft sind es ja die Ärzte, die irgendwas mitkriegen. Und der Draht hier ist dann eben so kurz, dass die dann aus der Häuslichkeit anrufen und sagen: „Ich habe hier das und das. Kannst Du nicht mal was rumbringen oder kriegen wir das heute noch hin, dass…?“ Was das angeht, ist Schmarl absolut dörflich. Hier ist auch alles dicht beieinander. Wenn beispielsweise einer aus dem Hochhaus in der Roald-Amundsen-Straße anruft und ein Medikament braucht, muss ich doch keinen Kurier rufen, da geht man schnell mal hin, das dauert fünf Minuten, da liefert man das. Hier geht vieles auf dem kurzen Dienstweg, das schätze ich sehr und die Ärzte auch.
Eine Geschichte fällt mir noch ein, die hat auch was mit dem Pinguin zu tun: Eine meiner langjährigen Patientinnen kam rein, als wir mal wieder den Pinguin als Schaufensterdeko hatten. Sie fragte mich: „Weiß der Pinguin das?“ Ich hab nachgefragt, weil ich das nicht verstand, und sie antwortete: „Na ja, das mit der Nachbarin, dass ich da so geguckt hab.“ Hm, habe ich gedacht, das klingt jetzt nicht so, als wäre da alles normal. Ich habe sie gebeten, sich hinzusetzen und habe mich ein bisschen mit ihr unterhalten. Sie war mit Sicherheit in einer psychotischen Phase. Also habe ich nachgesehen und festgestellt, dass sie eine Woche zuvor neue Tabletten geholt hatte, aber eben die falschen: nur die 25er, nicht die 100er. Gott sei Dank fühlte sie sich von dem Pinguin angesprochen und wollte sich mit mir darüber unterhalten. Also habe ich dann das mit den falschen Tabletten ihrer Neurologin gesagt und wir haben die Dosis wieder hochgesetzt und so ist das dann wieder ins Lot gekommen. Wenn niemand da gewesen wäre, wäre sie eingeliefert worden. Das ist dann wieder das Dörfliche hier. Aber man sieht hier ganz viele Menschen, bei denen man denkt: Wer kümmert sich jetzt? Das ist keine schöne Geschichte, aber eine die zeigt, so ganz unwichtig kann man hier nicht sein. Und solange ich das noch leisten kann, würde ich das gerne tun.
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