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Andreas Schneid, seit Anfang der 1990er Jahre Betreiber des Wossidlo-Clubs
@Tom (Redaktion "Stadtgespräche") . . 07. May 2025

Der Stadtteil Schmarl ist der kleinste Stadtteil im Nordwesten von Rostock. Seine Besonderheit besteht auch vor allem darin, dass Schmarl in Vorbereitung einer internationalen Tagung der UNESCO über urbanes Bauen 1978 in Rostock als beispielgebend für damaliges industrielles Bauen unter den Bedingungen der DDR-Wirtschaft ausgewählt wurde. Dieser Umstand zog eine bevorzugte Projektierung nach sich. Daraus resultiert die im Vergleich zu anderen Stadtteilen besondere Infrastruktur: Es gab zentral gelegene Schulen, Kaufeinrichtungen, eine Sparkasse, ein Kino, ein großes Restaurant, ein Café, zwei Kneipen, zwei Jugendclubs und sogar eine Nachtbar. Erwähnenswert sind auch die besonderen Wohnformen: behindertengerechte Wohnungen zu ebener Erde mit einem kleinen Vorgarten und Maisonette-Wohnungen, die es in dieser Form in keinem anderen Stadtteil bisher gab. Kunst am Bau fand in Schmarl in der Fassadengestaltung und auch im öffentlichen Raum einen besonderen Ausdruck. Die prononcierte geographische Lage des Stadtteils, seine „festungsartige“ Anlage (Schmarl ist nur über 2 Straßenzugänge zu erreichen), die Nähe zur Warnow und zur Ostsee, die große Anzahl von Kleingärten und die gute Verkehrsanbindung machten Schmarl in den 1970er und 1980er Jahren zu einem sehr beliebten Wohnort, mit dem sich die Schmarler von Beginn an sehr stark identifizierten. Die Bewohner waren überwiegend Seeleute, Werft- und Hafenarbeiter und Angehörige der bewaffneten Organe. Auch die Namensgebung der Straßen soll die Nähe zur Seefahrt demonstrieren.

In einem kürzlich geführten Gespräch mit mehreren Menschen aus Schmarl wurde deutlich: Nach der Wende ist das meiste weggefallen, was den Leuten in Erinnerung ist. Bestimmte Infrastruktur, wie das große Speiserestaurant oder die Nachtbar – einmalig in einem Neubaugebiet –, gab es damals nur hier in Schmarl. Es gab ein Kino, auch das war ungewöhnlich. Und zwei Kaufhallen, in einem relativ kleinen Stadtteil mit relativ wenigen Bewohnern. Lütten Klein und Evershagen beispielsweise waren ja deutlich größer. Andererseits: Wir hatten hier zur Wende 13.000 Einwohner, vor 1989 waren es 16.800, das war schon eine Kleinstadt und so war Schmarl da eben auch ausgestattet. Das einzige Manko, was auch gleich nach der Wende moniert wurde, ist die Tatsache, dass es hier keine Anbindung an den Nahverkehr gab. Jetzt fährt der Bus hier durch. Ich bin ja 1991 zum Vorsitzenden des Schmarler Ortsbeirates gewählt worden, das war ich bis 1994 – dann ging das nicht mehr, weil ich zwar im Stadtteil arbeitete, aber nicht hier wohnte. Dabei war ich mehr vor Ort als bei mir zu Hause.

Auch ich selbst habe unmittelbar nach der Wende erlebt, dass für viele hier Lebensqualität verloren gegangen ist. Der Wossidlo-Club war vor 1989 ein Haus des Kulturbundes – so eine Kultureinrichtung gab es nicht in jedem Stadtteil. Der Club hatte nicht nur hauptamtliche Mitarbeiter, sondern auch richtig viel Budget. Hier haben sich ehemalige Schriftsteller der DDR die Klinke in die Hand gegeben, hier gab es Lesungen usw. Damals sah er natürlich auch noch anders aus: vor allem die Bestuhlung war anders. Hier gab es 25 schwere Clubsessel mit einem kleinen Tisch dazu und einer Stehlampe, es hatte ein bisschen Wohnzimmer-Charakter. Zu DDR-Zeiten hab es hier 400 eingetragene Club-Mitglieder, nicht einmal sie kamen regelmäßig zu Veranstaltungen hier rein. Damals waren es dann immer die gleichen, die herkamen, weil sie die besten Verbindungen zur Klubleitung hatten. Die Schriftsteller haben ja für ihre Lesungen auch Geld bekommen, das Honorar konnte frei ausgehandelt werden. Grundsätzlich war es relativ hoch, auch mit Übernachtung und so weiter. Wer hier oben Urlaub machte, hat das oft mit einer Lesung verbunden. Ich selbst war früher beim Bezirkskombinat für Kulturarbeit und dort für staatlich geleitete Clubs und Kulturhäuser zuständig. Mit dem Kulturbund hatte ich relativ wenig zu tun, aber ich kannte natürlich die Leute, die dort arbeiteten. In Rostock hatte der Kulturbund zwei Häuser, das andere in der Herrmannstraße. Das ging in den 1990er Jahren an eine Erbengemeinschaft aus Hamburg zurück. Ich habe das Haus hier 1991 übernommen. Wossidlo war ein Rostocker Universitätsprofessor, der zur niederdeutschen Sprache geforscht hat, aber schon 1935 gestorben ist. Das Wossidlo-Archiv in Rostock gibt es seit DDR-Zeiten und bis heute. Der Kulturbund hatte es sich ursprünglich zur Aufgabe gemacht – deshalb heißt das Ding auch Wossidlo-Club – sich vorrangig mit niederdeutscher Sprache zu beschäftigen. Das hat dann so nicht stattgefunden, das Programm hier war relativ bunt. Geld für Kultur gab es damals genug und alles, was interessant war, konnte man sich „einkaufen“. Es musste ja kein Geld verdient werden – Kultur war und ist ein Bereich, der subventioniert werden muss.

Nach der Wende entstand hier in Schmarl mit der sogenannten Kolumbuspassage das erste Einkaufszentrum westlicher Bauart im gesamten Neubaugebiet. Und auch die erste Tankstelle westlicher Bauart – AGIP – eröffnete hier in Schmarl. Die Kolumbuspassage und den Springbrunnen haben damals die Gebrüder Sindram gebaut. In die Passage zogen unter anderem ein Allgemeinmediziner, eine Fußpflege, eine Apotheke und ein Friseur. In der oberen Etage gab es ein chinesisches Restaurant und ein Sportstudio. Damals war das Gebäude relativ gut ausgelastet, jetzt ist alles weg.

Wenn ich an meine Tätigkeit im Ortsbeirat zurückdenken: Eigentlich hatten wir da gar nichts zu sagen, sondern lediglich das, was man „Zustimmungsrecht“ nannte. Das fand ich idiotisch. Aber man bekommt dort eben auch Informationen, die man über die Presse publik machen kann, das mögen dann die Ämter nicht. So erfuhren die Schmarler vom geplanten Bau der Passage – und haben dagegen protestiert. Die Gründungsarbeiten liefen schon, auf der ehemals freien Fläche. Und nun wehrten sie sich, unter dem Motto: „Seid nicht so fiese, nehmt uns nicht unsere Hundewiese!“ Die sind da ja damals mit den Hunden spazieren gegangen und keiner von den Schmarlern sagte damals: Wir brauchen hier jetzt ein Einkaufszentrum. Der Antrag kam von den Westleuten, die gesagt haben, wir wollen hier was bauen, hier ist Platz. Die tauchten bei mir hier im Club auf und erzählten mit, was sie vorhatten. Ähnlich war das dort, wo jetzt Haus 12 steht. Früher, zu DDR-Zeiten, standen da Behinderten-Garagen. Dann wurde ein Einkaufszentrum dorthin gesetzt, das eigentlich gar nicht genehmigt war – Bauherren waren zwei Rechtsanwälte aus Bremen, die mit einem Strohmann eine Hochgarage hier in Schmarl bauen sollten. Dafür gab es eine Genehmigung. Dann haben sie ein Einkaufszentrum daraus gemacht. Heute ist da ein Sozialkaufhaus.

Außerdem gab es in Schmarl früher mal eine Art Seemannskneipe - den „Blauen Peter“. Den gab es auch noch nach der Wende. Er wurde von der HO [der Handelsorganisation der DDR – Anm. d. Red.] irgendwie privatisiert und dann auf westlichen Standard umgebaut. Letztlich war es aber so, dass die Angestellten vom „Blauen Peter“ nach Feierabend in den Wossidlo-Club kamen, weil hier eine andere Atmosphäre war. Dafür habe ich immer gesorgt, das war wichtig. Das soll hier das verlängerte Wohnzimmer sein. Hier wurde alles besprochen, von der Arbeitslosigkeit über Eheprobleme. Früher standen sie hier auch in zwei Reihen vor der Theke, das war wesentlich. Hier waren ja viele Werftarbeiter und viele, die im Überseehafen gearbeitet haben, die wurden arbeitslos. In vielen Fällen bekamen die eine relativ hohe Abfindung und fühlten sich erst einmal wie im Schlaraffenland. Ihnen war nicht klar, dass beispielsweise ein Betrag von 50.000 DM gar nicht lange reicht. Sie haben dann hier Saalrunden geschmissen und so was, da war das Geld relativ schnell alle. Sie hatten kein Verhältnis zu dieser Menge Geld, das ihnen mit einem Mal zur Verfügung stand. Es gab Scheidungen ohne Ende, das war auch so eine Folge der Wende. Und nach dem neuen Scheidungsrecht mussten sie dann Alimente in Größenordnungen bezahlen. Für sehr viele Menschen war die Wende ein absoluter Eingriff in ihr Leben, die kamen nicht wieder auf die Beine. Wer damals fünfzig Jahre alt war und bei der Werft rausflog, fand nie wieder einen Job. Da wurden viele nach dreißig Jahren auf der Werft von einer ABM in die andere geschoben – und haben damit dann später auch kaum Rente bekommen.

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