
Wir sind nach Groß Klein gezogen als ich drei Jahre alt war. Mein Vater war Polizist und wurde damals von Grimmen nach Rostock versetzt. Offenbar wohnten in unserem Block damals viele Polizisten, deshalb nannte mein Vater das unter uns immer den „Bullenblock“. Wir mussten nicht lange auf die Wohnung warten, das war damals total unüblich, deshalb nehme ich an, dass wir privilegiert waren. Und wir bekamen dann diese moderne Wohnung, meine Eltern waren damit sehr zufrieden. Ich habe erst später verstanden, dass Groß Klein zu dieser Zeit ein richtig begehrtes Viertel war.
Wir wohnten damals im Schiffbauerring und ich ging in die Kita im Gerüstbauerring 40. Später ging ich in die Grundschule am Taklerring, danach dann auf das Heinrich-von-Thünen-Gymnasium, das es heute nicht mehr gibt.
Meine Erinnerungen an die ersten Jahre hier bestehen eher aus einzelnen Bildern: das von meiner Erzieherin mit ihrer Minipli-Frisur, das vom Spielen auf dem Hof hinter unserem Haus. Dort stand damals so ein alter Baum, der in der Mitte aufgespalten war. An dem habe ich immer Zahnärztin gespielt, der Baum bekam dann Füllungen aus Sandmatsch. Außerdem erinnere ich mich an aufgeschürfte Knie und kleine Streits. Und wie riesig mir der Hof vorkam, mit all den Büschen. Als ich als Erwachsene wieder dort war, fand ich es erschreckend, wie klein er sich jetzt anfühlt. Als Kind spielte ich den ganzen Tag auf dem Hinterhof, bis meine Mutter vom Balkon zum Mittagessen rief – das hat sich wunderbar beschützt angefühlt und zählt definitiv zu meinen schönen Kindheitserinnerungen.
Vor unserem Wohnblock gab es damals eine große Wiese, auf der wir ganze Nachmittage saßen und spielten, mit den Nachbarskinder, die immer mal auch ihr Kaninchen mitbrachten. Diese Wiese wurde dann irgendwann ein großer Parkplatz. Und auch da, wo jetzt das Klenow Tor steht, gab es damals eine große Wiese. Der Spatenstich für den Bau des Gebäudes war damals für viele ein Fest, für mich aber ein trauriger Tag, weil damit der Ort verschwand, an dem wir immer Drachen steigen lassen konnten.
Wenn man links aus meinem Kinderzimmerfenster schaute, sah man nur ungefähr hundert Meter entfernt einen dieser typischen Plattenbauwürfelblöcke. Es hat dort immer wieder gebrannt, was als Kind natürlich total spannend war, wenn man der Feuerwehr bei den Löscharbeiten zuschauen konnte. Mein Papa meinte dann mal, dass dort in dem Würfelblock Leute Wohnungen bekämen, die im Gefängnis gesessen hatten und es deshalb dort ständig Ärger gibt. Ich konnte das als Kind nur schwer einordnen, dass in unserer Gegend einerseits so viele Polizisten lebten, aber gleichzeitig auch Leute aus dem Knast - und dass die so nah beieinander wohnen. Ich weiß nicht ob es stimmt, dass diese Wohnungen speziell für ehemalige Gefängnisinsassen waren oder ob das eher eine zu starke Pauschalisierung war. Aber bis heute denke ich beim Anblick solcher Würfelbauten immer noch ungewollt automatisch: "Ob da wohl Ex-Knastis drin wohnen?"
In meiner Grundschulzeit, in den 1990er Jahren, veränderte sich die Atmosphäre im Stadtteil. Es wurde irgendwie beklemmender. Wir bekamen es immer mal wieder mit Jugendlichen zu tun, die unser Taschengeld abziehen wollten oder uns auf andere Weise schikanierten. Mein Bruder und ich waren damals sehr eng miteinander. Ich habe ihn ab und an beschützt, weil er damals viel gemobbt wurde – das hat mich geprägt und dadurch fühlt sich diese Zeit in der Erinnerung stressig an. Durch diese Erfahrungen zerplatzte schon in meiner Grundschulzeit irgendwie die Kindheitsblase, in der man sich sicher und beschützt fühlt. In der Grundschule selbst habe ich mich aber wohlgefühlt, es war eher der offene Raum im Stadtteil, der deutlich unbehaglicher wurde.
Als die Pogrome in Lichtenhagen passierten war ich sieben Jahre alt. Ich kann mich an diese Nächte erinnern, auch wenn ich damals noch nicht wirklich verstand, was passiert war. Mein Vater hatte damals schon seine frühere hohe Position als Oberstleutnant eingebüßt, war aber noch bei der Polizei. Mit Lichtenhagen hatte er beruflich nichts zu tun, aber meine Eltern sprachen viel über das, was da im Stadtteil nebenan passierte. Ich habe mitbekommen, dass Schulkameraden meiner Schwester dabei waren, aber insgesamt blieb es eher ein diffuses Gefühl, dass da etwas geschah, das nicht in Ordnung war.
Mein Vater hat dann aufgehört, bei der Polizei zu arbeiten, im Kapitalismus fühle sich das nicht mehr richtig an, sagte er damals. Er machte eine Wachschutzfirma auf. Das Ganze wurde dann eine typische Wendeverlierergeschichte, denn es war tatsächlich jemand aus dem Westen, der ihn übers Ohr gehauen hat und mit der Kohle abgehauen ist. Dieser Bruch und die langen Zeiten der Arbeitslosigkeit und sinnlosen Jobs prägen ihn bis heute. Man könnte schon sagen, dass er sich davon nie wirklich erholt hat.
Wichtig blieb mir Groß Klein eigentlich nur bis zur Frühpubertät. Damals sind wir hier sehr viel rumgeströbert, mit meinen Freunden, die verteilt über den ganzen Stadtteil wohnten. Ich erinnere mich an die Orte, wo es Eis gab, an das Herumliegen auf warmen Gehwegplatten, an viel Unterwegssein und den Abenteuerspielplatz in der Nähe der Warnowallee. Wir haben rumgehangen und sind viel rumgeklettert.
Mit 13 oder 14 habe ich mich mehr aus dem Stadtteil zurückgezogen – war viel zuhause oder traf mich mit Freunden eher in der Innenstadt. Damals begann meine harte Punkzeit, was man dann eben auch sah. Damit fühlte ich mich in Groß Klein nicht mehr so sicher. Ich hatte Glück, mir ist eigentlich nie was passiert, aber es war klar, dass ich hier vorsichtig sein muss. Damit begann meine Distanzierung vom Stadtteil. Wenn ich abends von irgendwelchen Treffen mit Freunden nach Groß Klein zurückkam, war das für mich eher immer eine angespannte Situation, eine Stimmung, die ich bis heute ab und an wachrufen kann.
Das Klenow Tor sehe ich seit Jahren einmal im Jahr, zum jährlichen Zahnarzttermin – eine gute Möglichkeit, die schrittweise Veränderung des Stadtteils wahrzunehmen. Als damals beispielsweise Blöcke zurückgebaut wurden, machte mich das ein wenig traurig, weil da Wohnungen verschwanden, in denen Freunde von mir gewohnt hatten. Ich beobachtete auch den Bau des REWE als überregionales Vorzeigeprojekt für ökologisches Bauen. Im Klenow Tor fiel mir irgendwann auf, dass die Geschäfte immer häufiger wechselten. Und irgendwann, so ab 2015 oder 2016 kam dann der erste der Leerstand, die 1-Euro-Läden nahmen zu. Aber ich bin nur noch Beobachterin, ich kenne hier inzwischen niemanden mehr. Die Leute, die in meine Schulklasse gegangen sind, sind inzwischen alle weggezogen. Und wenn man nun an einem verregneten Oktobertag zur Zahnärztin läuft, kommt einem vieles hier vielleicht trister vor, als es tatsächlich ist.
Inzwischen ist meine Zahnärztin in Rente gegangen, aber ich habe mir vorgenommen, trotzdem ab und an mal hier vorbeizuschauen. Vielleicht auch zusammen mit meiner besten Freundin, die das alles gar nicht kennt, weil sie im Saarland aufgewachsen ist. Weil trotzdem diese Sehnsucht da ist, ab und an in diese Erinnerungen einzutauchen.
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